Fünftes Kapitel
Zwei Tage später hatte Tom immer noch nicht mit Pia gesprochen. Er hatte seine Entscheidung, wegzugehen, so lange vor ihr geheim gehalten, dass er jetzt nicht mehr wusste, wie er ihr das alles erklären sollte. Sie war völlig berechtigt sauer auf ihn, denn selbst wenn er weniger von ihr wollte als sie von ihm, so waren sie doch gut befreundet. Und eigentlich hatten sie sich gegenseitig immer von ihren Plänen und Ideen erzählt. Meistens zumindest. Tom hatte ihr zugegebenermaßen ein paar Dinge vorenthalten. Kleinigkeiten, wie er fand. Das war so seine Art. Aber das mit dem Studium war doch eine Nummer zu groß, als dass er darüber hätte schweigen dürfen.
Er wusste, dass er damit genau das getan hatte, was er nie gewollt hatte: Er hatte Pia zutiefst verletzt. Und jede seiner Erklärungen würde sie noch mehr treffen. Irgendwann würde er ihr sagen müssen, dass er nicht nur an seinem Job und dem Leben in der Provinz zweifelte. Joschi hatte völlig recht gehabt. Tom kämpfte ja mit einem noch viel größeren Thema: Wie war das mit ihm und den Männern? Das konnte er ja noch nicht einmal für sich selbst einordnen. Und wenn Pia sich wirklich ein Leben mit ihm zusammen ausmalte, dann würde das spätestens an diesem Punkt scheitern. Blöderweise hatte er den richtigen Zeitpunkt verpasst, mit ihr darüber zu sprechen. Und mit jedem Tag, den er wartete, wurde es schwieriger, überhaupt irgendeinen Zeitpunkt zum Reden zu finden.
Gerade als er sich am Montagnachmittag nach dem Gemeindefest dazu durchgerungen hatte, sie anzurufen und sich mit ihr zu verabreden, klingelte sein Handy. Die Nummer kannte er nicht und er war ein wenig irritiert, als sich eine Frau aus einem Verlag in der Kreisstadt meldete.
Offenbar hatte sein Vater mal wieder seine Kontakte spielen lassen und den Verleger, mit dem er gelegentlich kegelte, angequatscht, ob er in seinem Verlag nicht eine Stelle für seinen Sohn habe. Und wie der Zufall es so wollte, suchte der Verleger tatsächlich jemanden für die Buchhaltung. Vollzeit und unbefristet. Morgen sollte Tom sich persönlich vorstellen.
Tom war nach dem Telefonat völlig durcheinander. Er hatte gleich heute Morgen seine Kündigung in der Personalabteilung eingereicht und mit dem noch ausstehenden Resturlaub aus dem letzten Jahr war er Ende dieser Woche schon raus aus dem verhassten Amt. Ein Teil seines Plans war, dass er schnell in die Stadt zog, sich ein Zimmer suchte und nach einem Job Ausschau hielt, um vor Beginn des Semesters noch ein bisschen Geld zu verdienen. Damit er nicht schon wieder einen Rückzieher machte. Und jetzt kam ihm sein Vater mit seinen Kontakten dazwischen. Der wusste ganz genau, wie er Tom angeln konnte: mit einem unbefristeten Job in einem Verlag. Überschaubar, sicher. Zwar nicht im Lektorat, was sich Tom eigentlich vorstellte, aber doch schon ziemlich nahe dran. Was sollte Tom denn jetzt tun? Doch wieder alle Pläne über den Haufen werfen?
Er musste mit jemandem reden. Da fiel ihm wieder ein, dass er Pia eben gerade anrufen wollte. Vielleicht war es ein guter Anfang, mit ihr darüber zu sprechen. Er versuchte es.
Eine halbe Stunde später traf er sie in dem Waldstück, in dem sie in letzter Zeit regelmäßig spazieren gegangen waren. Tom wollte sich nicht mit ihr bei sich zu Hause oder auf ihrem Sofa treffen, auf dem sie in den letzten Monaten manchmal Sex gehabt hatten. Er brauchte die Ruhe des Waldes, denn das, worüber sie reden mussten, war ihm ziemlich unangenehm.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, murmelte Pia, als sie nebeneinander hergingen. »Ich habe geglaubt, wir wären uns in der letzten Zeit nähergekommen.«
»Das sind wir doch auch«, erwiderte Tom. »Wir kennen uns schon so lange. Und irgendwie haben wir auch gut zusammengepasst. Es liegt auch gar nicht an dir. Mir ist nur klar geworden, dass ich aus meinem Job rausmuss, und da hatte ich die Idee mit dem Studium. Und irgendwie war das ja auch bis Samstag nur eine Idee, von der ich nicht wusste, ob ich sie wirklich will. Bis die Bestätigung von der Uni kam. Ich habe mich einfach nicht getraut, dir davon zu erzählen.«
»Aber du kannst mir das doch nicht so Knall auf Fall vor anderen Leuten erzählen! Du hättest mir das allein sagen müssen. Ohne andere, die jetzt wer weiß was denken. Wie steh ich denn jetzt da?«
Tom musste sich eingestehen, dass er sich wie ein Idiot verhalten hatte. Auf dem Gemeindefest war er mit Joschi schon völlig überfordert gewesen. Sein alter Kumpel hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen und alte Gefühle und Erinnerungen an die Oberfläche gespült, die alles andere einfach überdeckt hatten. Pias Gefühle hatte er dabei blöderweise einfach vergessen.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte er entschuldigend.
»Und jetzt ist Schluss? Einfach so?«
Tom schwieg. Was sollte er dazu sagen?
»Ach, Scheiße«, schimpfte Pia leise.
Tom hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, befürchtete jedoch, dass Pia das abwehren würde. Er verstand sie ja so gut. Er wäre auch stinksauer, wenn ihm jemand aus heiterem Himmel einen Korb geben würde. Also lief er weiter mit hängenden Schultern neben ihr her.
»Und was machst du jetzt?«, fragte Pia.
»Ich habe vorhin einen Anruf bekommen.«
Dann erzählte Tom ihr von dem Angebot. Und von seinen Zweifeln, ob seine Entscheidung, wegzugehen, richtig war. Pia hörte ihm skeptisch zu, stellte hin und wieder kurze Fragen, ließ ihn aber ansonsten einfach reden.
Tom vertraute Pia und sie vertraute ihm und das, obwohl er ihr die Studienidee verheimlicht hatte. Sie hatten in den letzten Monaten so viel Zeit miteinander verbracht, dass sie sich ziemlich gut lesen konnten. Und plötzlich erschien Tom der Gedanke, mit Pia so etwas wie eine Beziehung zu führen, gar nicht mehr so abwegig. Vielleicht sollte er es einfach versuchen und den Gedanken, den Joschi ihm wieder frisch in den Kopf gepflanzt hatte, da könne doch noch was mit Männern laufen, als seltsame Anwandlung in die Verbannung treiben. Aber davon wollte er jetzt nicht sprechen. Das war zu viel auf einmal für ihn.
Als er von den Zweifeln an dem jetzigen Job und an seinen Entscheidungen erzählt hatte, nickte Pia nachdenklich. Tom spürte, dass sie etwas zurückhielt.
»Was ist los?«, fragte er. »Dich beschäftigt doch auch etwas.«
»Ich war bis vorhin davon überzeugt, dass ich dir das nicht erzählen sollte. Aber jetzt bin ich unsicher.«
»Bist du …?«, fragte Tom erschrocken.
»… schwanger?«, beendete Pia seinen unvollendeten Satz. Sie lachte. »Nein. Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue.« Sie musterte Tom eingehend. »Da ist was ganz anderes. Das Grundstück neben dem Haus meiner Eltern, das kennst du doch, oder?«
»Auf dem deine Mutter immer Kartoffeln pflanzt?«
Pia lachte und nickte. »Das wird nicht mehr lange gehen. Das Grundstück steht zum Verkauf.«
»Ach, wie blöd. Dann müsst ihr wohl bald Kartoffeln aus dem Supermarkt essen.«
»Das ist nicht der Punkt.« Pia atmete tief durch. »Mein Vater hat vorgeschlagen, es zu kaufen. Er würde es an mich überschreiben. Oder an uns. Wenn du willst.«
Bämm! Da war es: Das Eigenheim, von dem alle hier träumten. Gerade hatte er noch in Erwägung gezogen, es doch mit Pia zu versuchen. Aber die Vorstellung, ein Haus zu bauen – neben dem Haus ihrer Eltern –, das schnürte ihm augenblicklich den Hals zu. Dann würde er so werden wie alle anderen hier im Dorf, die es nicht über die Gemeindegrenze hinaus schafften.
»An uns?«, fragte er vorsichtig.
»Ach, komm schon, Tom, stell dich nicht naiver an, als du bist. Das halbe Dorf hat mitgekriegt, dass wir was miteinander haben. Egal, wie wir es nennen. Natürlich wissen meine Eltern davon. Deine im Übrigen auch. Und meine Eltern mögen dich. Sie würden sich freuen, wenn du ein Teil der Familie würdest.«
»Ist das jetzt so was wie ein Heiratsantrag?« Tom lachte verunsichert und schluckte seine widersprüchlichen Gefühle herunter.
»Kein Mensch muss heute noch heiraten. Dafür gibt es Verträge. Du bist Single, ich bin Single, wir haben Sex, wir mögen uns, ich habe einen guten Job, du hast gerade einen guten Job angeboten bekommen. Was willst du denn noch mehr?«
»Und dann bauen wir neben deinen Eltern ein Haus, in dem wir unsere Kinder großziehen?«
»Sieh das doch mal nicht so sachlich. Was spricht denn gegen ein bisschen Glück?«
Toms Gedanken rasten chaotisch durcheinander. Erst das Jobangebot, jetzt die Idee von Pia. Ihm wurde ein geregeltes Leben quasi auf dem Silbertablett serviert. Sollte er da nicht sofort zugreifen? Doch in ihm sträubte sich etwas, was er nicht genauer definieren konnte. Denn nicht er war es, der sachlich war. Es war Pia. Der Weg zum Glück schien ihrer Beschreibung nach weder Höhen noch Tiefen zu haben. Er war schnurgerade. Er musste ein bisschen Zeit schinden.
»Aber so ein Hausbau kostet eine ganze Menge Geld«, warf er ein.
»Wir verdienen zusammen genug. Und du weißt, wie die Leute hier sind: Die packen alle mit an. An den Wochenenden wird die Baustelle voll sein, weil alle sehen wollen, wo wir unser Schlafzimmer einrichten.« Pia lachte.
»Dann ist das für dich eine Vernunftentscheidung?«
»Nicht nur. Tom, ich hab dich wirklich gern.« Pia sah ihm in die Augen.
»Ich muss darüber nachdenken.«
Sie seufzte. »Natürlich. Lass dir aber nicht zu viel Zeit! Das Grundstück steht nicht ewig zum Verkauf.«
Ein ruhiges, sicheres Leben auf dem Dorf oder der Neuanfang in der Stadt? Toms Gedanken schwirrten auf dem Heimweg ständig zwischen diesen beiden Polen hin und her. Wenn der neue Job tatsächlich reizvoll war, dann war es vielleicht falsch, jetzt die Heimat zu verlassen. Und die Gelegenheit mit dem Grundstück kam auch nicht alle Tage. Die meisten Häuser wurden in einer Neubausiedlung im Norden des Dorfes gebaut. Sie waren modern und vor allem junge Familien zog es dorthin.
Neben Pias Elternhaus war der Bauplatz etwas anderes. Von dort hatte man einen weiten Blick durch das Tal und die Landschaft der Umgebung. Bis zum Wald waren es nur ein paar Schritte, seine Eltern wären weit genug entfernt, als dass sie sich ständig begegnen und auf die Nerven gehen würden. Pias Eltern waren ganz erträglich. Und wenn erst einmal Kinder da waren, würden sowohl Pias als auch seine Eltern sie jederzeit unterstützen.
Mein Gott! Er hatte noch nie an eigene Kinder gedacht. Er war doch im Grunde selbst noch ein Kind. Zumindest fühlte er sich ganz und gar nicht erwachsen.
Er brauchte nur zuschlagen und hätte exakt das, wovon hier alle träumten. Alles sprach dafür, genau das zu tun. Endlich würde er die Verantwortung für sein Leben übernehmen, die sein Vater so oft von ihm einforderte. In der Stadt müsste er sich sein Leben komplett neu aufbauen. Das Studium, ein Job, eine Wohnung, Freunde – es würde sicherlich lange dauern, bis er in der neuen Umgebung einigermaßen Fuß gefasst hätte. Demgegenüber wäre die Entscheidung für den Verlag, für Pia und das Grundstück ein Fliegenschiss. Oder etwa nicht?