Achtes Kapitel
Vor dem Gebäude stand eine Skulptur, ein grübelnder Mann, der den Gründer der Universität darstellen sollte, wie Tom bei einer kurzen Recherche herausfand. Er war also nicht der Einzige, der grübelte. Hier, im Hauptgebäude, war auch das Sekretariat. Die Einschreibung funktionierte problemlos. Immerhin besiegelte er damit seinen Eintritt in die akademische Laufbahn. Mit einem Brötchen und einem Kaffee aus der Cafeteria setzte er sich auf eine Betonmauer mitten auf dem Campus und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Er war angekommen.
Neben ihm hatten Architekten in den 1970er-Jahren einen Haufen Beton und Stahl stehen lassen und das Ensemble Philosophikum genannt. Hässlich war das Erste, was ihm dazu einfiel. Aber dort würde er wohl in den nächsten Jahren viel Zeit verbringen, wenn er den Informationen auf der Website der Uni Glauben schenken durfte. Überall auf dem Platz saßen Studenten, obwohl das Semester noch gar nicht angefangen hatte. Wie es hier wohl sein würde, wenn die Semesterferien vorbei waren? Tom durchflutete unverhoffte Vorfreude auf das, was ihn erwartete. Plötzlich schienen ihm die Erlebnisse in seiner Heimat so weit entfernt, dass er lächelte. Ein Student ging an ihm vorbei, betrachtete ihn und zwinkerte ihm zu. Die Stadt war nicht ohne Grund für seine schwule Szene bekannt. Nun, damit konnte er leben. Zumindest versprach das deutlich mehr Offenheit als die Provinz, vor der er gerade floh.
Tom musste allerdings noch eine Menge regeln, bevor er sich zurücklehnen konnte. Als Erstes brauchte er eine passable Unterkunft. Er warf den leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer und schlenderte ins Philosophikum. Hier war es düster, weil die Decken niedrig hingen und die Fenster kaum Licht hereinließen. Tom entdeckte große Aushangbretter. Er las die Angebote für Jobs und gebrauchte Bücher, bis er den Bereich mit dem Wohnungsmarkt fand.
Die meisten Zimmer waren für ihn viel zu teuer. Zwei Monate bekam er zwar noch das Geld von seiner Verwaltungsstelle, aber was dann war, wusste er noch nicht. Wie sollte er sich diese Preise jemals leisten? In seiner Heimat konnte man ein ganzes Haus mit Garten für den gleichen Preis mieten, den er hier für ein Fünfzehn-Quadratmeter-Zimmer in einer WG hinblättern musste. Er verlor für einen Moment den Mut. Er wünschte sich, dass ihm irgendjemand half. Aber er war allein. Dann stieß er auf zwei Anzeigen für WG-Zimmer, die in sein Budget passten. Er zückte sein Handy und rief sofort an. Dabei stellte sich heraus, dass beide WGs im Süden der Stadt lagen, nicht einmal weit voneinander entfernt. Er mietete sich einen der Leihroller, die überall auf dem Campus herumlagen, und fuhr los. Vielleicht hatte er ja heute schon Glück.
Die erste WG war eine Katastrophe. Also die Wohnung war grundsätzlich der absolute Hit. Ein helles Loft, sogar mit einem kleinen Balkon. Vier Zimmer, drei davon vermietet an BWL-Studenten. Das vierte war winzig klein und stand frei. Als Tom in die WG hereinkam, war nur einer der potenziellen Mitbewohner da und machte gerade eine ältere Frau mit osteuropäischem Akzent zur Schnecke. Offenbar war sie die Putzfrau und hatte in seinem Zimmer die Fenster nicht so geputzt, wie er sich das vorstellte.
»Man muss ihr alles ganz genau erklären, sonst kapiert sie das nicht«, sagte er zu Tom, während die Frau wortlos aus der Tür ging und alles mitbekam. »Ich bin Georg«, fuhr er fort und reichte Tom die Hand.
Tom fand ihn abstoßend. Es war nicht das gebügelte T-Shirt mit dem Schriftzug Hollister, auch nicht das etwas ausdruckslose Lächeln oder die Art, wie er Toms Kleidung begutachtete. Aber zusammen mit einem Händedruck, der sich anfühlte, als reiche er ihm einen toten Fisch, und dem vorangegangenen Gespräch mit der Putzfrau löste all das in Tom einen Fluchtreflex aus. Georg zeigte ihm die Wohnung, wies ihn auf die Regeln hin, zählte die zusätzlichen Kosten für die Putzfrau und den Lieferservice des Supermarkts auf, an denen sich alle Mitbewohner beteiligten.
»Die Wohnung gehört Paul, der auch das größte Zimmer hat«, erklärte Georg. »Sein Alter hat sie ihm geschenkt, achtet aber penibel aufs Geld, das sein Sohn ausgibt. Deshalb vermietet Paul die Zimmer an uns, ohne dass der Papa das weiß.«
Georg erzählte das so selbstverständlich, als wäre es völlig normal, von Eltern eine große Wohnung in der Innenstadt geschenkt zu bekommen. Tom sah sich vorsichtig um. In der Wohnung lag nichts herum, alles war pingelig sauber, die Möbel waren weiß lackiert und ruhten auf gebürsteten Stahlbeinen. In der Küche standen teure Küchenmaschinen, die so aussahen, als hätte sie noch nie jemand benutzt. Selbst im Bad war alles ordentlich sortiert und die Handtücher farblich auf die Fliesen abgestimmt.
»Einmal im Monat machen wir einen WG-Abend. In der Regel gehen wir dann auf den Ringen in die Klubs und am Ende landen wir immer in einem Nachtklub. Was da dann passiert, kannst du dir sicher denken.« Er lachte. Dann sah er Tom abschätzend an. »Du bist hoffentlich nicht schwul oder so was. Versteh mich nicht falsch – ich hab nichts gegen die Homos. Die sollen machen, was sie wollen. Aber ich steh da so gar nicht drauf.« Er knickte das Handgelenk ab und stolzierte affektiert durch den Flur. Dann lachte er wieder.
Zum zweiten Mal in seinem Leben dachte Tom von einem Menschen, dass er dem Klischee eines verkappten Schwulen entsprach, der nie zu seinen Neigungen stehen wird. Bei Alex hatte er das akzeptiert. Aber dieser Georg war so aalglatt, so auf Anpassung getrimmt, dass Tom allein seine Anwesenheit unangenehm war.
»Wir haben natürlich viele Anfragen wegen des Zimmers und die anderen Jungs wollen dich auf jeden Fall kennenlernen, bevor wir uns entscheiden.« Georg strich sich die Haare glatt und fixierte Tom. »Hast du Interesse daran?«
»Ich überlege es mir«, sagte Tom und verabschiedete sich, bevor Georg ihn weiter ausfragen konnte.
Und wenn er die nächsten Wochen in einer verlausten Pension pennen musste – hier würde er nie im Leben einziehen. Er schüttelte sich, als er auf die Straße trat. Er betrachtete das Haus von außen. Die Immobilie passte gar nicht in den Straßenzug mit den alten Gründerzeitgebäuden und wirkte irgendwie fehl am Platz. Das war ihm bei der Ankunft gar nicht aufgefallen.
Er wandte sich ab und ging die Straße hinunter. Die zweite WG war nicht weit entfernt und nach ein paar Minuten klingelte er an der nächsten Haustür.
Die WG von Clara und Bergit war das genaue Gegenteil von der vorherigen. Schon im Hausflur stieg Tom der Geruch von Feuchtigkeit und Schimmel in die Nase. Er kletterte die krachende Holztreppe bis in den vierten Stock hoch und stand dann in einem Wohnungsflur, in dem er die Farbe des siffigen Teppichbodens nicht definieren konnte. Überall lagen Klamotten herum, drei Mülltüten standen direkt neben der Wohnungstür, und als er in die Küche kam, fiel ihm als Erstes der riesige Berg dreckigen Geschirrs ins Auge.
»Wir versuchen ständig, ein bisschen Ordnung zu halten«, sagte Clara entschuldigend, »aber irgendwie kriegen wir das nicht so richtig auf die Kette.« Sie lächelte. »Willst du ’nen Tee?«
Dankend nahm Tom die etwas schmierige Tasse entgegen und setzte sich auf das schmuddelige Sofa, als jemand hereinkam. Er lehnte sich an den Türrahmen und sah Tom neugierig an.
»Das ist Finn. Ein Freund. Der hängt immer mal wieder hier ab. Daran musst du dich gewöhnen, wenn du einziehst.«
Finn war etwa Anfang zwanzig, eine Winzigkeit kleiner als Tom und steckte in einer schwarzen Röhrenjeans, die seine schmalen, jungenhaften Hüften betonten, und einem engen grauen T-Shirt mit V-Ausschnitt, während Clara mit ihrem ausgeblichenen Shirt und den schlabberigen Stoffhosen offensichtlich einen ganz anderen Stil bevorzugte.
»Bergit ist gerade mit ihrem Freund in Portugal und kommt Ende des Monats zurück«, fuhr Clara fort. »Aber sie vertraut meiner Menschenkenntnis total und ich kann über die neuen Mitbewohner entscheiden.«
Tom hörte Clara nur mit einem halben Ohr zu, denn er war von Finns Augen fasziniert. Hellblau blickten sie zu ihm herüber. Finns feingliedrige Finger umschlossen ebenfalls eine Teetasse, hinter der seine Lippen sich schmunzelnd kräuselten.
»Hi«, sagte er und lächelte Tom zu. »Du bist also ganz frisch in der Stadt?«
Tom erzählte kurz, woher er kam und was er studieren wollte, während er in sich das Aufwallen ungewohnter Gefühle wahrnahm, ausgelöst von einem Körper, der pure Erotik ausstrahlte. Finn schlenderte herüber und setzte sich zu ihm aufs Sofa. Ihre Arme berührten sich kurz und Toms Körper überzog schlagartig eine Gänsehaut. Er wollte diesen Jungen anfassen und ihm durch die kurzen blonden Haare streichen. Das Bedürfnis war so stark, dass er schnell aufstand und nach dem Zimmer fragte, das frei war.
»Wir handhaben das hier alles ganz locker«, sagte Clara, als sie vor ihm her auf das Ende des Flurs zuging. »Keine Geheimnisse, kein Verstecken. Jede darf hier so sein, wie sie will.«
Eine Tür hatte das für ihn vorgesehene Zimmer nicht. Nur einen dünnen Vorhang, der ein bisschen muffig roch. Clara schob ihn zur Seite und ließ Tom eintreten. Die Luft war stickig und auch hier lag ein schmuddeliger Teppich auf dem Boden, das Fenster ging in einen dunklen Innenhof hinaus und in einer Ecke des Zimmers entdeckte Tom Schimmel.
»In der Stadt muss man alles nehmen, was man kriegt«, sagte Finn, der plötzlich dicht neben Tom stand.
Tom lief ein Kribbeln über den Rücken, als Finn ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte. Er musste hier raus. Sofort. Zum einen wegen des Zimmers, in dem er keine Sekunde länger bleiben wollte, weil ihm schlecht wurde, zum anderen, weil er seine Erregung sonst nicht mehr verbergen konnte. Noch nie war ihm ein fremder Mann so nahe gekommen und hatte ein solches Begehren ausgelöst.
»Du kannst es dir ja überlegen«, sagte Clara freundlich, als sie an der Wohnungstür standen. »Ich würde mich freuen, wenn du hier einziehst.«
Tom stolperte die Treppen runter, riss die Haustür zur Straße auf und stürmte an die frische Luft. Noch immer kribbelte es auf seiner Haut und er strich sich verstört durch das Gesicht. Was war denn bloß los mit ihm, dass ihn dieser jungenhafte Typ so aus dem Konzept brachte?
Orientierungslos sah er sich um. So kam er nicht weiter. Er musste sich einen Plan überlegen. Also marschierte er zu einem nahe gelegenen Platz, der ringsum mit Autos zugeparkt war. Auf der freien Fläche in der Mitte ließ er sich erschöpft auf eine Bank sinken.
Heute Morgen hatte die Welt noch vollkommen anders ausgesehen. Noch vor ein paar Stunden war er mit der Vespa auf dem Weg zu seiner Arbeit gewesen und er hätte um ein Haar ein sicheres Leben in der Provinz zementiert. Jetzt saß er in der Stadt, mitten in einem neuen Leben, das sich allerdings als gar nicht so einfach herausstellte. Also kein Glück am ersten Tag mit einer Unterkunft. Das wäre ja auch zu schön gewesen. Er schloss für einen Moment die Augen und ließ die Sonne auf sein Gesicht scheinen.