Neuntes Kapitel
»Hier sitzt du also«, sagte eine sanfte Stimme vor Tom und riss ihn aus seinen Gedanken.
Tom öffnete die Augen und musste gegen die Sonne blinzeln, um etwas zu erkennen. Vor ihm stand Finn und grinste.
»Ich musste mich einen Moment sammeln«, antwortete Tom. »Das ist alles ziemlich neu für mich.«
Finn setzte sich dicht neben ihn und sah ihn von der Seite an. Sofort überfiel Tom wieder dieses Kribbeln. Er meinte, einen Hauch von Curry zu riechen, und als er den Blick auf seinen Banknachbarn richtete, entdeckte er ein kleines Grübchen auf seiner linken Wange.
»Überfordert von der Großstadt?«, fragte Finn leicht belustigt.
»Ich muss mich wohl erst noch daran gewöhnen, dass die Bedingungen hier etwas anders sind, als ich sie kenne.«
»Das ging mir damals auch so. Aber das geht schnell vorbei, glaub mir.«
Finn schlug die Beine übereinander und lehnte sich an die Rückenlehne der Bank, wobei er die Arme zu beiden Seiten ausstreckte. Dabei streifte er ihn wie zufällig im Nacken. Ein Schauer durchlief Tom.
»Die WG von Clara und Bergit ist nichts für dich, stimmt’s?«
»Äh ... ich glaube nicht so richtig.«
»Ich habe noch nie eine Wohnung gesehen, die so dreckig ist. Aber ich mag die beiden. Vor allem Clara. Sie ist meine Freundin.«
»Deine Freundin oder eine Freundin?«
Finn lachte. »Du bist neugierig.« Er sah ihm in die Augen. Tom war wieder völlig geflasht. »Eine Freundin. Meine beste Freundin. Ich stehe auf Jungs. Oder Männer.«
»Ach so.«
»Überrascht dich das?«
Nein, doch, ja, vielleicht. Tom wusste es nicht. Er hatte es geahnt. Vielleicht sogar gehofft. Aber warum?
»Hier in der Stadt sind die Dinge so anders«, antwortete er vorsichtig.
»Und was ist mit dir? Männer oder Frauen? Oder beides?«
Finn bohrte seine Augen geradezu in Tom. Und er geriet dadurch kurz ins Wanken. Wenn er doch bloß wüsste, was er auf die Frage antworten sollte. Waren die Leute hier alle so direkt? Daran musste er sich wohl auch erst noch gewöhnen.
»Äh ... ich ...«, stammelte Tom. »Also ich hatte in meiner Heimat eine Affäre mit einer Freundin.«
»Also noch unentschieden?« Wieder lachte Finn und blinzelte ihm verschwörerisch zu. »Pass auf: Ein Kumpel von mir wohnt hier um die Ecke. Er wohnt mit einer Freundin zusammen und die haben ein Zimmer frei.«
»Oh, cool.«
»Ich kann ihn anrufen und fragen, ob jemand zu Hause ist.«
»Das würdest du tun?«
»Klar.«
Finn griff zum Handy und telefonierte kurz.
»Wir können sofort hingehen. Hast du Lust?«
»Natürlich.«
»Da ist es auch nicht so schmuddelig wie bei Clara.«
Finn stand auf und reichte Tom die Hand. Der griff zu und ließ sich hochziehen. Einen Moment lang standen sie dicht voreinander und Tom roch eine Mischung aus Deo, Curry und sonnenbeschienener Haut. Er hätte sich in diesem Duft verlieren können, hätte sich in Finn vergraben wollen. Doch der lächelte nur und sagte: »Da lang.«
Peter und Jula begrüßten Finn stürmisch und empfingen Tom mit neugierigen Fragen. Er mochte die beiden auf Anhieb. Ob das nun daran lag, dass sie offenbar eng mit Finn befreundet waren, oder an ihnen selbst, war Tom nicht richtig klar. Er fühlte sich einfach prompt wohl. Bis zu diesem Moment hätte er nicht sagen können, wie eine WG sein sollte, in die er einziehen wollte, doch jetzt klärte sich auch diese Unsicherheit allmählich. Die beiden zeigten Tom die Wohnung, die freundlich und hell war. Nicht wirklich groß, aber doch geräumig genug, um sich aus dem Weg gehen zu können.
»Wo hast du denn die schmucke Hecke wieder aufgegabelt?«, fragte Jula Finn lachend, als sie Tom das Zimmer am Ende des Flurs zeigte.
Bis auf eine Matratze und zwei Kartons war es leer. Es maß etwa fünfzehn Quadratmeter, hatte einen einfachen, leicht verkratzten Laminatboden und zwei große Fenster, die zur Straße hinausgingen. Im Bad neben der Wohnungstür gab es eine Badewanne und an die Küche schloss sich ein kleiner Balkon an, dessen Tür weit offen stand und die kühle Luft der Stadt hereinließ.
Genau so stellte sich Tom eine perfekte Wohngemeinschaft vor. Die Küchenschränke waren zwar alt, aber sauber. Die Ablagen waren mit Gläsern und Müslipackungen vollgestellt. In den offenen Regalen stapelte sich bunt zusammengewürfeltes Geschirr und in der Spüle weichte ein Kochtopf ein, schien aber nicht schon seit einer Woche dort zu warten. Sie standen zusammen in der Küche an der offenen Balkontür.
»Dein Vormieter ist letzte Woche Hals über Kopf ausgezogen«, erklärte Peter. »Er hat das Studium geschmissen und will nach Ibiza auswandern. Etwas durchgeknallt der Gute, aber das wundert mich bei dem nicht mehr.«
Peter war sechsundzwanzig, hatte sein Design-Studium fast abgeschlossen und seine Freundin Kathi, die jedes zweite Wochenende in die Stadt kam, lebte zweihundert Kilometer entfernt. Jula war einundzwanzig, studierte auf Lehramt und legte Wert darauf, Single zu sein.
»Ich will noch was erleben«, sagte sie und Peter lachte laut.
»Du willst dich nicht festlegen, das ist alles«, meinte er und strubbelte ihr durch die Haare. »Wir chillen manchmal zusammen bei mir im Zimmer«, erzählte er Tom. »Filme gucken und so. Wunder dich nicht, wenn wir dann zusammen unter einer Decke hocken und kuscheln. Das hat nichts zu bedeuten.«
»Wir haben einen klaren Grundsatz: keinen Sex mit den Mitbewohnern«, ergänzte Jula. »Kommst du damit klar?«
Finn brach in schallendes Gelächter aus. »Na, das klappt ja gut bei dir.«
»O.k., o.k., mit Oskar hat das nicht so richtig geklappt«, gab sie zu. »Aber ich gelobe Besserung.«
»Wer ist Oskar?«, erkundigte sich Tom.
»Dein Vormieter«, sagte Finn und feixte. »Ein krass sexy Surfer. Ich verstehe gut, dass Jula schwach geworden ist.«
»Er hat sich in mich verknallt«, erklärte Jula und verdrehte die Augen. »Aber für mich war das nichts. Da ist er eben ausgezogen. Ibiza und so.«
»Bist du in einer Beziehung?«, erkundigte sich Peter.
»Nein, ich bin Single«, gab Tom zurück und nahm sich vor, es erst einmal dabei zu belassen.
»Aus Prinzip?«, fragte Jula neugierig.
»Er sichtet noch«, meinte Finn und stieß Tom den Zeigefinger neckend in die Seite.
Wieder schoss dieses warme Gefühl durch Toms Körper. Er wünschte sich, dass dieser Moment nie vorbeigehen würde. Auch wenn ihm Finns Direktheit immer wieder verunsicherte.
»Und du hilfst ihm bei der Sichtung?«, stichelte Peter lachend.
»Warum auch nicht?« Finn strich Tom gespielt zärtlich über den Unterarm.
Dieses Kribbeln machte Tom völlig verrückt. Blöderweise bekam er davon jetzt auch noch eine Erektion, die er schnell versteckte, indem er seine Jacke vor sich hielt. Doch Finn schien genau mitbekommen zu haben, was bei ihm los war, und betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Also: kein Sex mit Mitbewohnern. Was du sonst in deinem Raum treibst, ist deine Sache.« Jula zwinkerte Tom zu.
Er nahm das Zimmer. Er konnte sofort einziehen, wenn er wollte. Und auch direkt bleiben. Eine Matratze zum Schlafen gab es ja immerhin schon, und Peter bot ihm netterweise für ein paar Tage seinen Schlafsack an, als er von seinem überstürzten Aufbruch am Vormittag erzählte. Tom war einfach froh, dass er so schnell ein Zimmer gefunden hatte, das ihm gefiel. Das schien ihm fast wie ein Wink des Schicksals. Vielleicht hatte er ja den richtigen Weg gewählt.
Finn gab ihm seine Telefonnummer und strich ihm zum Abschied über den Hintern. Toms Penis zuckte einmal kurz.
»Meld dich gerne, wenn du Gesellschaft brauchst!«, sagte Finn. »Ich freue mich, dass ich dich hier bald wiedersehe.«
Dann verließ er pfeifend Toms neue Bleibe.
Etwas später saß Tom in seinem neuen Zimmer auf der Matratze und überlegte, wie er jetzt weitermachen sollte. Er musste ein paar Sachen von zu Hause holen. Klamotten, seinen Computer, Bücher. Er musste auf jeden Fall noch mal hinfahren. Auch, um seinen Eltern den überstürzten Aufbruch zu erklären. Seine Mutter würde ihn vermutlich verstehen. Sein Vater bestimmt nicht. Und er brauchte ein paar Möbel. Zumindest einen Tisch und einen Stuhl, damit er fürs Studium arbeiten konnte. Er lieh sich von Peter einen Zettel und einen Stift und begann, eine Liste zu schreiben.
Pias Anruf ließ ihn zusammenzucken. Tom starrte auf das Display seines Telefons und wusste nicht, ob er rangehen sollte. Er war sich sicher, dass sie stinksauer war. Aber er konnte ja nicht ewig vor ihr weglaufen. Mechanisch nahm er das Gespräch an.
»Wo bist du?«, fragte Pia, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»In der Stadt. In meinem Zimmer.«
»In deinem Zimmer?!«
Tom erzählte ihr, was er an diesem Tag erlebt hatte, und Pia hörte ihm atemlos zu. Ihn selbst überraschte beim Erzählen, wie viel er allein an einem Tag geschafft und entschieden hatte. Er hatte sich spontan für den Ausbruch aus seinem alten Leben entschieden, war in die Stadt gefahren, hatte sich eingeschrieben, nach Wohnungen gesucht und ein Zimmer gefunden, das ihm gefiel. Das alles schien plötzlich total unwirklich. Von Finn erzählte er Pia allerdings nichts. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er Angst vor ihrer Reaktion hatte oder vor seiner eigenen. Er redete sich ein, dass er sie einfach schonen wollte, es war ja so schon alles zu viel auf einmal, und sein überstürzter Aufbruch hatte sie genug durcheinandergerüttelt.
»Ist das nicht alles ein bisschen unüberlegt?«, erkundigte Pia sich. »Und hast du dir mal Gedanke darüber gemacht, was du den Menschen damit antust, so abzuhauen?«
Der Stich saß. Genau das hatte er vermeiden wollen. Ja, ihm war klar, dass er heute einige Menschen vor den Kopf gestoßen hatte. Aber bloß, weil er bislang der brave Sohn war, der alles tat, was die Menschen um ihn herum von ihm erwarteten, musste er ja nicht für immer so bleiben. Er konnte sich verändern und selbst Entscheidungen treffen. Das hatten ja alle von ihm verlangt. Und er wollte das auch.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich dich verletzt habe«, sagte er. »Aber ich konnte das nicht. Ich will kein Haus bauen. Und ich kann nicht länger in diesem Amt arbeiten.«
»Und ich? Was ist mit mir?«
Tom spürte einen Moment lang die Schwere durchs Telefon schwappen. Er hielt kurz den Atem an, bevor er versuchte, Pia zu erklären, was ihn beschäftigte.
»Wir haben doch vor einiger Zeit vereinbart, dass wir keine Erwartungen aneinander stellen.«
»Die Welt dreht sich weiter. Was ist, wenn ich anders darüber denke als vor einem halben Jahr?«
»Das geht mir genauso. Nur in eine andere Richtung.«
»Dann hast du mich nur zum Vögeln gebraucht?«, platzte es aus Pia heraus. Er sah ihre Wut geradezu vor sich aufsteigen.
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt«, verteidigte er sich. Denn eigentlich hatte er sie als gute Freundin gebraucht. Doch das sagte er nicht.
Am anderen Ende der Verbindung war es eine Weile still.
»Ich hätte dir sagen sollen, dass sich meine Gefühle für dich geändert haben«, gab Pia dann zu. »Und ich hätte dich nicht so mit dieser Grundstücksidee überrumpeln dürfen.«
Tom spürte die Sehnsucht nach Nähe. Mit Pia hatte er das in den letzten Monaten gehabt. Aber seit dem Wochenende hatte er ihre Freundschaft – oder was immer das war – Stück für Stück in ihre Einzelteile zerlegt. Und er wusste, dass es für ihn kein Zurück mehr in die alte Welt gab.
»Ich fühle mich hier wohl«, sagte er leise. »Und ich würde mich freuen, wenn wir uns bald wiedersehen. Auch wenn dann alles anders sein wird als im letzten Jahr.«
»War das eine Flucht heute Morgen?«, fragte Pia.
»Ja«, gab Tom zu. »Ich hatte Panik. Aber ich glaube, das war nötig. Ich konnte nicht einfach so weitermachen.«
»Ich will doch nur, dass es dir gut geht, da, wo du jetzt bist«, sagte Pia leise.
»Mir geht es gut. Hier sind nette Leute.«
»Das ist schön. Für dich.« Sie hängte auf. Tom starrte hilflos das Telefon an.