Elftes Kapitel
Als Tom am nächsten Morgen erwachte, war es hell und er hatte leichte Kopfschmerzen. Er richtete sich auf und sah sich um. Er war allein. Finns Klamotten waren genauso verschwunden wie er selbst. Tom suchte seine Boxershorts und ein frisches T-Shirt, strich sich kurz durch die Haare und ging in die Küche. Er trank zwei große Gläser Wasser, bis er sich darauf konzentrieren konnte, die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen. Als er nachdenklich in den Tag hinausblickte, hörte er hinter sich ein Geräusch und Peter kam hereingeschlurft.
»Guten Morgen«, sagte der. »Hattest du einen schönen Abend mit Finn?« Er nahm sich auch ein Glas Wasser und stellte sich neben Tom.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Tom und sah seinen Mitbewohner von der Seite an.
»Kurz. Als wir nach Hause kamen.« Peter trank in großen Schlucken. »Wir haben noch ein Glas Wein in der Küche getrunken, dann ist er gegangen.«
»Wann war das?«
»So gegen zwei denke ich. Warum?«
»Ach, nur so.«
Tom sah wieder durch die Tür zum Balkon hinaus. Der Herbst kam. Die ersten Bäume hatten welke Blätter. Peter legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Du solltest dich nicht in Finn verlieben«, sagte er leise.
Tom wandte sich zu seinem Mitbewohner um. »Wie kommst du denn darauf?«
»Du siehst traurig aus.«
Tatsächlich machte sich eine unangenehme Schwere in Tom breit. Eine Sehnsucht nach mehr von dem, was er letzte Nacht kennengelernt hatte. Warum war Finn einfach gegangen? Er hätte ihm doch wenigstens kurz Bescheid geben können.
»Hast du schon mal eine Beziehung gehabt?«, fragte Peter.
Tom schüttelte den Kopf. Das mit Pia zählte für ihn nicht richtig. Nicht, weil sie eine Frau war, sondern vielmehr, weil er sich bei ihr nie so tief hatte fallen lassen können wie letzte Nacht mit Finn. Außerdem war der Sex mit Pia irgendwie eine Ablenkung gewesen. Sie kannten sich schließlich schon ewig. Und er begriff nun, dass sie für ihn immer eine gute Freundin gewesen war, ein Mensch, mit dem er reden konnte. Aber Verliebtsein war etwas ganz anderes.
»Ich glaube nicht, dass Finn für eine Beziehung geschaffen ist«, sagte Peter. Als Tom ihn verwundert ansah, fuhr er fort: »Für ihn ist das alles ein Spiel. Eine Jagd. Er experimentiert und leider verletzt er dabei immer mal wieder Menschen.«
»Du meinst, er macht das öfter?«
»Ich kenne ihn schon eine Weile. Er vertritt die Ansicht, dass er nichts verpassen sollte.«
Toms Herz schlug Alarm. Hitze schoss ihm ins Gesicht. Finn hatte so gewirkt, als würde er das alles nur mit Tom tun wollen. War er deshalb so verblüfft gewesen, als Tom ihm gesagt hatte, dass das sein erstes Mal war?
»Vielleicht täusche ich mich. Aber sei ein bisschen vorsichtig! Finn weiß manchmal nicht, was er tut.«
Tom trat vom Balkon zurück und zog zwei Tassen aus dem Regal. Er goss Kaffee ein und hielt Peter eine der Tassen hin.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte er dann. »Er war so überschäumend und wirkte total zufrieden, als er hier war.«
»So ist Finn. Er ist wie früher die Klassenclowns in der Schule: Er zieht alle in seinen Bann, lacht und ist immer fröhlich. Aber er hat auch andere Seiten.«
»Die haben wir doch alle.«
»Sicherlich. Aber wir verletzen uns meist nur selbst damit und nicht andere.«
Tom dachte wieder an Pia. Sie hatte er verletzt und das hatte er sich nicht verziehen. Sie ihm offenbar auch noch nicht, aber das konnte er ihr nicht verdenken.
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Genieß das Leben! Du bist jetzt hier. Die Stadt wimmelt nur so vor gut aussehenden Schwulen. Stürz dich in die Szene und geh mit tollen Kerlen in die Kiste! Aber tu mir den Gefallen und häng dein Glück nicht an Finn.«
Tom musste nachdenken. Er zog sich in sein Zimmer zurück und setzte sich auf die Matratze. Der Raum roch nach Schweiß und Lust. Und nach Finn. Der leichte Geruch von Curry schwebte noch durch die Luft. Tom vergrub das Gesicht in den Laken und sog Finns Duft in sich auf. Er wollte nicht glauben, dass das jetzt schon wieder vorbei war. Finn würde sich bestimmt bald bei ihm melden.
Tom suchte nach seinem Handy. Er schaltete es ein und sofort trudelten mehrere WhatsApp-Nachrichten ein. Von Pia und einem Kommilitonen, der eine Seminargruppe leitete, von seiner Mutter und von Joschi, den er ja längst hatte anrufen wollen. Aber keine von Finn. Er schrieb ihm also kurzerhand einen Gruß, ohne zu aufdringlich zu sein. Doch neben der Nachricht erschien nur ein Häkchen. Sie kam nicht zu Finn durch.
Joschi wollte wissen, ob er mittlerweile in der Stadt angekommen sei, und Tom rief ihn an, nachdem er geduscht hatte.
»Klar können wir zusammen ausgehen!«, sagte Joschi begeistert. »Ich war mir nicht sicher, ob du mich wirklich sehen willst. Du wirktest bei dem Gemeindefest irgendwie unschlüssig.«
Joschi nannte ihm die Kneipe, in der sie sich treffen würden. Dann erzählte Tom ihm in wenigen Worten, was er letzte Nacht erlebt hatte, ohne ins Detail zu gehen.
»Ich wusste doch, dass du schwul bist«, sagte Joschi lachend. »Herzlich willkommen in der Stadt! Hier bist du genau richtig. Wir machen heute Abend so richtig einen drauf und ich stelle dich allen schwulen Singles vor. Versprochen.«
Tom war sich nicht sicher, ob er unbedingt gleich alle
ungebundenen Schwulen kennenlernen wollte, aber feiern gehen klang für ihn nach einem guten Plan. So musste er auch nicht weiter darüber nachdenken, warum Finn seine Nachricht nicht bekam.