Dreizehntes Kapitel
Das Handy brummte irgendwo in seinem Zimmer, als Tom am nächsten Mittag erwachte. Er schlug die Augen auf und starrte an die Decke. Wie war er nach Hause gekommen? Ach ja, zu Fuß. Nach den eigentümlichen Begegnungen der letzten Nacht hatte er frische Luft gebraucht.
Tom richtete sich auf, spürte den Schmerz hinter den Augen und dachte an diesen Marcel. Was für ein Vollidiot! Er hatte Tom doch tatsächlich vor die Wahl gestellt, entweder sofort mit ihm ins Taxi zu steigen, oder er würde einen anderen Typen abschleppen. Wer machte denn so was?
Eine Weile hatte das Handy Ruhe gegeben, jetzt meldete es sich wieder. Und Tom hatte den Eindruck, dass es vehementer brummte als vorhin. Stöhnend wühlte er sich aus seiner Decke, schob seine Klamotten zur Seite, aus denen er sich irgendwann in dieser Nacht herausgeschält hatte, und entdeckte seine Morgenlatte.
»Guten Morgen«, raunte er ihr zu und strich mit dem Zeigefinger über die Spitze der Eichel.
Er stieg in seine Boxershorts und suchte das Telefon. Er fand es in seiner Hosentasche, zusammen mit einem Zettel, auf dem eine Telefonnummer stand. Mit einem Namen, den er nicht kannte. Irgendjemand musste ihm die Nummer in der Bar zugesteckt haben. Aber Tom war die Lust auf Sex mit Unbekannten vergangen und er zerknüllte den Zettel.
Wieder meldete sich das Handy. Tom sah aufs Display. Pia. Er stöhnte innerlich, nahm dann aber den Anruf an. Er schuldete ihr das, wenn sie sich schon meldete. Sein schlechtes Gewissen ihr gegenüber siegte in dem Fall gegen seine Katerstimmung.
»Guten Morgen Schlafmütze«, kicherte sie in sein Ohr. »Du hast doch nicht wirklich bis jetzt geschlafen, oder?«
»Wie spät ist es denn?«
»Zwölf Uhr ist schon durch. Also steh auf und stell dich der Welt!«
Ihm blieb wohl nichts anderes übrig. Also schlurfte er mit Pia am Ohr aus seinem Zimmer in die Küche, fand lauwarmen Kaffee in der Kaffeemaschine, den er sich eingoss, und kroch dann wieder unter seine Bettdecke.
Pia war scheinbar nur noch ein bisschen sauer auf ihn und überschüttete ihn mit Neuigkeiten aus dem Dorf. Auch sie war gestern feiern gewesen, hatte in der Kreisstadt in einer Disco getanzt und sich von einem jungen Schweinebauern vor ihrer Tür absetzen lassen.
»In der Disco ist mir das nicht aufgefallen, nicht mal beim Knutschen, aber als ich neben ihm im Auto saß, habe ich die Schweine gerochen.« Sie lachte. »Ich konnte ihn nicht mit zu mir reinnehmen. Und ich glaube, er war ziemlich frustriert.«
Im Grunde ähnelte Pias Geschichte ein bisschen der seinen. Am Ende war immer jemand gefrustet. Kurz schoss Tom der Curry-Geruch von Finn durch den Kopf und er zog sein Kopfkissen zu sich heran, in dem er ihn gestern Vormittag noch hatte riechen können. Jetzt war es nicht mal mehr ein Hauch. Ärgerlich stieß er das Kissen wieder von sich.
»Tom, was ist mit dir los?«, erkundigte sich Pia. »Seit du weggegangen bist, hört keiner mehr was von dir.«
»Ich bin halt viel unterwegs«, rechtfertigte sich Tom.
»Selbst deine Mutter hat mich schon angerufen und wollte wissen, was du eigentlich treibst.«
Tom stöhnte. »Die kann sich doch direkt bei mir melden, wenn sie das wissen will.«
Und dann erzählte er. Von der Uni und den komischen Leuten, denen er dort begegnete, von seiner völlig erfolglosen Suche nach einem Job und von seiner WG. Pia hörte ihm zu und Tom hatte den Eindruck, dass sie ein bisschen neidisch auf sein neues Leben war.
»Ich muss dich dringend besuchen. Ich will doch wissen, wie du lebst und mit wem du zusammenwohnst.«
Tom war sich nicht sicher, ob das zurzeit eine gute Idee war. Doch natürlich sagte er das nicht.
Dann erzählte er ihr, wie er Finn getroffen hatte und durch ihn an sein Zimmer gekommen war. Und von dem weinseligen Abend in seinem Zimmer. Und – zumindest in einer zensierten Fassung – von seiner ersten richtigen Erfahrung mit einem Mann. Er wusste nicht genau, warum er überhaupt davon angefangen hatte. Aber als er einmal begonnen hatte, konnte er auch nicht mehr aufhören. Es tat gut, Pia das alles zu erzählen. Sie kannte ihn wie niemand sonst und würde das verstehen. Vielleicht hatte ihn auch ihre Geschichte von der Knutscherei mit dem Schweinebauern ermutigt. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals und die Hand, mit der er das Handy an sein Ohr drückte, zitterte leicht. Er hörte Pia am anderen Ende der Leitung atmen, doch sie schwieg. Sie schwieg so lange, bis er schon glaubte, sich ihr Atmen nur einzubilden. Dann sog sie die Luft scharf zwischen den Zähnen ein.
»Das ist es also«, sagte sie tonlos. »Darum hast du dich von mir getrennt und hast mich abserviert? Weil ich keinen Schwanz zwischen den Beinen habe!«
»Das ist Quatsch«, hörte Tom sich sagen, obwohl er ahnte, dass sie zumindest in Teilen recht hatte. »So einfach ist das nicht. Ich wäre bei uns im Dorf eingegangen, ich musste einfach da raus.«
»Ich kapiere das nicht. Du hättest mir das doch sagen können. Stattdessen mache ich mir ständig Gedanken, ob ich irgendwas falsch gemacht habe. Das war echt ätzend.«
»Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich wegen mir mies fühlst.«
»Was ist mit deinen Eltern. Wissen die Bescheid?«
»Bist du verrückt? Die würden das nie verstehen!«
»Hast du dich in den Typen verknallt?«, fragte sie weiter.
»In Finn?«
»Heißt er so?«, wollte sie gereizt wissen.
Die Art, wie Pia diese Fragen ausspuckte, machte Tom plötzlich klar, wie schwer sie von seinem Geständnis getroffen war. Er hätte ihr von seinen Gefühlen erzählen sollen. Aber er war sich doch selbst so unsicher gewesen. Und war es immer noch. Hatte er sich in Finn verknallt? Letzte Nacht war er davon überzeugt gewesen. Jetzt war er irgendwie nicht mehr so sicher. Finn hatte sich immer noch nicht zurückgemeldet. Nach seiner Abschleppnummer vor der Bar war das vielleicht auch nachvollziehbar.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tom zögerlich. »Ich kenne ihn ja kaum.«
»Dann behandelst du diesen Typen also genauso wie mich«, stellte Pia trocken fest. »Das ist echt nicht fair. Du gehst mit Menschen um wie mit einem Hamster, den man sich zu Weihnachten wünscht und kurz darauf im Tierheim abgibt.«
Tom war getroffen. Stimmte das, was Pia da sagte? Ging er wirklich mit Menschen so um? Er hatte Finn kaum Zeit gegeben, sich bei ihm zu melden. Und Marcel hatte er letzte Nacht auch einfach stehen lassen. Wobei ... Moment. Der hatte ihn ja vor ein Ultimatum gestellt. Und wie war das mit Pia? Tom war völlig durcheinander. Frustriert stellte er den jetzt kalten Kaffee neben seine Matratze.
»Finn meldet sich nicht mehr bei mir«, sagte Tom müde. Er war es leid, sich zu verteidigen. »Und du hast mir mit dem Grundstück die Pistole auf die Brust gesetzt.«
»Weil alles danach aussah, als ob du ohne Antrieb keine Entscheidung treffen konntest!«, raunzte Pia ihn durchs Telefon an.
»Ich habe mich entschieden, wie du genau weißt«, entgegnete Tom energischer. Er wollte sich diese Ungerechtigkeiten von denen, die ihn offensichtlich nicht verstehen wollten , nicht länger gefallen lassen. »Ich lebe in einer anderen Stadt, habe mit dem Studium begonnen. Das sind alles Entscheidungen, die ich mir nicht leicht gemacht habe. Ich habe mich nur nicht so entschieden, wie du es gerne wolltest.«
Sein Herz hämmerte von der Anstrengung, für sich einzustehen, als hätte er einen Hundert-Meter-Sprint hinter sich gebracht.
»Und deine Eltern belügst du weiter?«, fauchte Pia ihn an.
Dieses Telefonat nervte Tom mordsmäßig. Wenn Pia mit ihrem Leben unzufrieden war, dann gab ihr das doch noch lange keine Berechtigung, sich in sein Leben einzumischen. Bis eben hatte sie ihm leidgetan, aber jetzt war er nur noch wütend auf sie. Sie hatte kein Recht, ihm vorzuwerfen, dass er war, wie er war. Aber er wollte auch nicht länger mit ihr streiten.
»Irgendwann werde ich es ihnen schon erzählen«, erwiderte Tom also nur.
»Dein Vater versteht überhaupt nicht, weshalb du dich von ihnen losgesagt hast. Du musst das klären.«
»Ich habe mich doch nicht losgesagt«, stöhnte Tom. »Ich bin bloß weggezogen.«
»Aber aus anderen Gründen, als du ihnen gesagt hast.«
»Das ist nicht fair«, sagte Tom erschöpft. »Wie kann ich ihm etwas erklären, das für mich selbst noch so völlig neu ist? Ich muss mich gerade erst einmal zurechtfinden mit allem …«
»Sei nicht so egoistisch! Du hättest es wenigstens versuchen müssen. Aber wenn du dazu nicht in der Lage bist, dann übernehme ich das mal wieder für dich. Im Grunde erwartest du das doch genau so: Andere sollen deine Aufgaben übernehmen, weil du sie selbst nicht auf die Kette kriegst.«
Schon wieder ein Vorwurf, den Tom erst mal verarbeiten musste. Das war ungerecht. Er hatte so lange stillgehalten und sich angepasst. Er wollte das einfach nicht mehr. Er wollte auf eigenen Beinen stehen und unabhängig sein.
»Ich erzähle meinen Eltern das selbst«, widersprach er und hoffte, das Thema damit zu beenden.
»Keine Chance!«, fauchte Pia ihn an. Sie war jetzt offenbar total geladen. »Dein Vater löchert mich ständig, was mit dir ist und ob ich mit dir gesprochen habe.«
Tom spürte eine riesige Wut in sich hochkochen. Was bildete Pia sich eigentlich ein? Wenn sie seinem Vater erzählte, dass er Sex mit Männern hatte, dann würde der … Ja, was denn eigentlich? Was würde sein Vater tun? Tom wusste es nicht. Aber er war auch noch nicht dazu bereit, das herauszufinden.
»Pia! Lass es sein!«, bat Tom.
»Von wegen! Wir werden ja sehen, was dann passiert«, zischte Pia zurück und beendete das Gespräch.
Scheiße! Tom hatte Pia vertraut. Er hatte unterschätzt, wie sehr er ihr wehgetan hatte, nur weil er sich ihre Freundschaft zurückgewünscht hatte. Und jetzt drohte sie ihm, alles kaputt zu machen. Wieder ein Ultimatum. Das durfte sie nicht! Er rief sie sofort noch einmal an, aber sie drückte den Anruf weg. Er versuchte es erneut, aber jetzt ging die Mailbox dran. Er schrieb ihr eine WhatsApp-Nachricht. Doch sie antwortete nicht.
»So eine verfickte Scheiße!«, fluchte Tom und schlug mit der Faust auf sein Kissen. Dabei fiel die noch halb volle Kaffeetasse um, die neben der Matratze stand, und der kalte Kaffee floss über den Boden.