Sechzehntes Kapitel
Die neue Woche begann, wie die alte geendet hatte: Tom saß in einem Seminar, in dem er niemanden kannte. Er packte seine Unterlagen aus, hörte der Dozentin zu, schrieb mit, hing seinen Gedanken nach und versuchte, seine Kommilitonen einzuschätzen. Der Seminarraum war bis auf den letzten Platz voll und selbst auf dem Fußboden an der Wand saßen ein paar Leute, die ihre Collegeblöcke auf den Knien hielten. Tom war froh, einen der Sitzplätze ergattert zu haben, auch wenn er weit hinten an der Querwand saß und sich sehr darauf konzentrieren musste, alles zu verstehen, was die Dozentin mit leiser Stimme sagte.
Gerade hatte Tom beschlossen, sich zu einer Frage zu melden, als einer der Studenten in der ersten Reihe eine verschwurbelte Antwort gab, von der Tom kein Wort verstand. Als er den Blick über die anderen im Raum schweifen ließ, bemerkte er den Jungen, der ihm direkt gegenübersaß und die Augen über den Schlaumeier vorne verdrehte. Tom lächelte ihm zu und der andere zwinkerte zurück.
Er sah nett aus. Tom hatte ihn bis jetzt gar nicht wahrgenommen. Im weiteren Verlauf des Seminars blickten sich die beiden immer wieder an und kommunizierten über kleine Gesten miteinander. Zum ersten Mal hatte Tom überhaupt Kontakt zu einem anderen Studenten und nahm sich vor, ihn nach dem Seminar anzusprechen. Was konnte er schon verlieren? Er beobachtete, wie sein Gegenüber sich manchmal gelangweilt die Haare aus dem Gesicht schob, ihn hin und wieder ansah und bei den gleichen Wortbeiträgen der Kommilitonen die Augen verdrehte und grinste wie er. Irgendwas sagte Tom, dass der da drüben auch auf Männer stand.
Doch als die Dozentin sie bis zur nächsten Woche verabschiedete und alle um Tom herum ihre Sachen zusammenpackten, meldete sich seine Befangenheit wieder zu Wort. Was sollte er zu dem Typen sagen? Sollte er ihn anbaggern? Was, wenn der gar nicht schwul war? Würde er dann trotzdem mit ihm ausgehen wollen? Er wollte definitiv keinen falschen Eindruck vermitteln. Und er hatte auch ein bisschen Schiss davor, was passieren würde, wenn der andere auf seine Frage, ob er sich mal mit ihm treffen wolle, ablehnend reagierte. Als der jedoch beim Rausgehen direkt zu ihm herübersah und winkte, nahm Tom seinen ganzen Mut zusammen und folgte ihm eilig.
»Hi, ich bin Tom«, sagte er und streckte ihm die Hand hin.
Der andere schlug ein und stellte sich lächelnd mit »Phil« vor.
»Hier laufen wirklich ein paar elitäre Gestalten im Fachbereich rum, oder?«
»Ich bin ja schon froh, wenn ich kapiere, was die Dozentin sagt«, gab Tom zurück und ließ Phil den Vortritt in den Gang hinaus.
Als er die schmalen Hüften vor sich bemerkte, rief er sich sofort zur Raison. Das drohte peinlich zu werden. Phil drehte sich zu ihm um und sah ihn feixend an.
»Ist aber lustig, dass wir immer in den gleichen Momenten die Augen verdreht haben.«
Tom nickte und atmete tief durch.
»Hast du Lust, heute Abend mit mir ein Bier trinken zu gehen? Ich kenne hier noch nicht so viele Leute«, fragte er dann offen heraus, bevor er seine Courage wieder verlor.
»Eine gute Idee«, antwortete Phil. »Heute Abend bin ich allerdings mit meiner Freundin im Kino verabredet. Aber gerne die Tage mal.«
Sofort schoss Tom die Hitze ins Gesicht und er zog sich schnell in sein Schneckenhaus zurück. Seine Freundin. Was hatte er getan? Hoffentlich glaubte Phil jetzt nicht, er habe ihn anmachen wollen.
»Gib mir doch einfach deine Nummer«, fuhr Phil ungerührt fort und zog sein Telefon aus der Hosentasche.
Tom erwischte sich dabei, dass er ihm dabei auf den Schritt guckte und sich den darunter verborgenen Penis vorstellte. Innerlich verfluchte er sich. Was machte er denn da? Er verhielt sich wie eine notgeile Tucke, die glaubte, jeden Hetero-Macker in die Kiste zu kriegen. Betont langsam hob er den Blick und holte dabei ebenfalls sein Handy aus der Tasche. Sie tauschten die Nummern aus und Tom machte sich mit den Worten »Ich bin noch verabredet« vom Acker.
Oh, mein Gott! Wie peinlich.
Tom eilte durch das Philosophikum, ließ das Gebäude hinter sich und schnappte sich einen der Roller, die auf dem Campus herumlagen. Er wollte so schnell wie möglich hier weg, damit er Phil nicht noch einmal zufällig über den Weg lief.
Während er bis dahin den Eindruck gehabt hatte, in der Uni keinen Menschen ein zweites Mal zu treffen, begegnete er Phil im Laufe der Woche immer wieder. Jedes Mal winkte Phil freundlich herüber, einmal legte er die Hand mit gespreiztem kleinem und Zeigefinger ans Ohr, um ihm zu signalisieren, dass sie telefonieren sollten, aber keinmal sprachen sie miteinander. Und Tom machte selbst auch keine Anstalten dazu, Phil eine Nachricht zu schreiben. Ihm schoss noch immer die Röte ins Gesicht, wenn er an seinen Vorstoß dachte. Er sollte es darauf beruhen lassen.