Neunzehntes Kapitel
Einen Tag lang drückte Tom sich davor, seine Mutter anzurufen. Auch weil er befürchtete, dass sein Vater ans Telefon gehen könnte. In der Uni saß er Phil im Seminar wieder gegenüber und wie in der Woche zuvor kommunizierten sie über Gesten und Mimik miteinander. Nach der Veranstaltung sprachen sie sogar kurz zusammen. Danach rang er sich endlich durch und rief seine Mutter auf ihrem Handy an.
Sie war erst ein bisschen reserviert, weil sie natürlich nach der Rückkehr von Toms Vater dessen ausführliche Version des Geschehens am Sonntag gehört hatte. Doch dann stellte sich nach und nach heraus, dass sie längst wusste, was mit Tom los war.
»Glaubst du denn, einer Mutter fällt nicht auf, wenn ihr Sohn seinen Eltern nie ein Mädchen vorstellt?«, fragte sie lachend.
»Und was ist mit Pia?«, wunderte sich Tom.
»Ach, Pia. Das habe ich ehrlich gesagt nie richtig ernst genommen. Und jetzt hat sich ja herausgestellt, dass du ihr besser nicht vertrauen solltest.«
Mit Pia hatte Tom immer noch nicht gesprochen. Er hatte es ein paarmal versucht, aber sie nahm keinen seiner Anrufe entgegen.
»Dann hat sie wirklich mit euch geredet?«
»Von ihr wissen wir das doch alles.« Toms Mutter atmete hörbar aus und Tom drückte das Telefon an sein Ohr, damit er sie besser verstand. »Sie ist neulich hier aufgetaucht. Abends. Und sie hatte offenbar getrunken. Sie ist in unser Wohnzimmer gestürmt, hat sich aufs Sofa gesetzt und geheult. Und dann hat sie erzählt, dass du dich in der Stadt mit Männern triffst und angeblich nicht weißt, was du da machst.«
So etwas in der Art hatte Tom befürchtet. Er hatte zwar immer noch gehofft, dass Pia sich aus alter Freundschaft zu ihm zurückhalten würde und ihre Drohung, mit seinen Eltern zu reden, nicht wahr machen würde, aber darin hatte er sich getäuscht. Und das war erschütternd, denn beinahe hätte er ja mit ihr ein gemeinsames Leben angefangen. Er hatte ihr vertraut. Bis vor Kurzem hatte er ihr alles erzählt, was ihn beschäftigte. Na ja, fast alles. Vielleicht hatten sich die Dinge in den letzten Wochen auch einfach zu schnell entwickelt. Kein Wunder, dass die Menschen um ihn herum irritiert waren und durchdrehten.
Seine Mutter riss Tom aus den Gedanken.
»Ehrlich gesagt war ich ziemlich sauer auf Pia«, sagte sie. »Denn das, was sie uns gesagt hat, klang ganz danach, als hättest du ihr das im Vertrauen erzählt. Ich verstehe, dass sie nach deinem überstürzten Aufbruch enttäuscht war. Aber hat sie denn wirklich geglaubt, mit dir hier im Dorf eine harmonische Ehe führen zu können? Ich meine – die kennt dich doch auch schon viele Jahre. Und sie muss doch auch gemerkt haben, dass du da etwas Wichtiges unter dem Deckel hältst, oder?«
Damit traf seine Mutter den Nagel auf den Kopf. Er hatte Pia nie etwas versprochen. Ganz im Gegenteil: Sie hatten sich auf eine lockere Affäre geeinigt. Und dann hatten sich ihre Gefühle zu ihm verändert, ohne dass sie ihm das gesagt hatte. Vielleicht aus Angst, dass dann alles vorbei wäre. Aber das war es ja dann sowieso. Wie hieß der Spruch noch mal, den er neulich im Seminar aufgeschrieben hatte? Es gibt kein richtiges Leben im falschen .
»Weißt du, ob sie auch noch mit anderen über mich geredet hat?«, fragte er seine Mutter.
Am anderen Ende der Telefonleitung war es eine Weile still. Er hörte seine Mutter atmen und er sah sie förmlich vor sich sitzen, an ihrem Arbeitstisch in dem kleinen Zimmer unter dem Dach, das er mit ihr vor einem Jahr ausgebaut hatte, damit sie sich hin und wieder zurückziehen konnte.
»Mama?«
»Sie hat mit anderen gesprochen. Mit vielen. Sie hat die Geschichte jedem auf die Nase gebunden, dem sie über den Weg gelaufen ist.«
Bei dieser Nachricht wurde Tom ganz anders zumute. Das Dorf war nicht groß. Dreitausend Einwohner. Viele kannte er vom Sehen. Fast alle aus seiner Grundschulklasse lebten noch in dem Kaff. Und er wusste, dass sich Pia mit einigen aus der Schule regelmäßig traf. Jetzt wussten also alle, was er tat.
»Ich werde angesprochen. Papa auch. Beim Bäcker. Beim Sport. In der Kirche. Ich habe da so komische Sachen von Ihrem Tom gehört. Keiner macht richtig den Mund auf und redet Klartext. Aber alle warten auf die Sensation oder darauf, dass ich losheule, oder was auch immer. Und die fallen dann aus allen Wolken, wenn ich ihnen sage, dass du halt mit Männern schläfst und das niemanden was angeht.«
Na, wunderbar! Beim nächsten Besuch würde er richtig Spaß haben. Und er konnte sich genau vorstellen, dass keiner das Wort schwul in den Mund nahm. Allein die Vorstellung, dass zwei Männer miteinander Sex hatten, fanden die meisten Menschen in seinem Heimatdorf vermutlich schon abstoßend.
»Und Papa?«, fragte Tom. »Ist er sauer?«
Wieder schwieg seine Mutter eine Weile. Und Tom bereute schon, sie gefragt zu haben. Das sollte er wohl besser direkt mit ihm klären. Nicht über seine Mutter. Die musste schon genug aushalten, wenn sie den Höhlenbewohnern des Dorfes Paroli bot.
»Er braucht Zeit, um das zu verstehen«, sagte sie jetzt. »Er hat das nicht kommen sehen, weißt du? Für ihn war alles in bester Ordnung, als du deine Ausbildung im Landratsamt angefangen hast. Und als du dann auch noch mit Pia angebändelt hast, mit deren Vater er jeden Samstag kegelt, da war die Sache für ihn geritzt.«
Joschi schwirrte der Kopf. Hatte er es sich jetzt mit seinem Vater endgültig verscherzt? Er kannte die Geschichten von Schwulen, die den Kontakt zu ihren Eltern oder zu einem Elternteil abbrachen, weil sie auf keinerlei Verständnis stießen. Aber das wollte er nicht. Er wollte, dass sein Vater ihn verstand.
»Mama? Muss ich mich bei Papa entschuldigen?«
»Dafür, dass er sich in dein Leben einmischt? Dass er dich am Sonntagmorgen aus dem Bett schmeißt und deinen Freund beschimpft?«
»Hat er davon erzählt?«
»Er hat mir ziemlich viel erzählt.« Seine Mutter machte wieder eine Pause. Dann fuhr sie fort: »Du warst doch damals schon mit dem Joschi so eng befreundet. Und dann ging das von einem auf den anderen Tag auseinander. Da habe ich mir einfach meine Gedanken gemacht.«
»Wir hatten damals eine Auseinandersetzung.«
Das stimmte zwar nicht so richtig, aber alles andere würde in einem Gespräch mit seiner Mutter zu weit gehen.
»Aber ihr habt euch wiedergetroffen«, sagte seine Mutter. »Und das freut mich. Ich mochte den Joschi damals sehr gern. Und jetzt sehe ich ihn ja vermutlich wieder häufiger.«
O.k., da musste Tom also noch ein paar Dinge klären. Denn sie waren ja kein Paar. Er wollte nicht nachfragen, was genau sein Vater von Joschi erzählt hatte, denn Tom erinnerte sich nur zu gut, wie er nackt vor ihm gestanden hatte, während Joschi – ebenfalls nackt – in seinem Bett lag. Die Schlussfolgerung seiner Mutter, die das vermutlich von seinem Vater haarklein erfahren hatte, war logischerweise, dass sie zusammen waren. Aber das würde er zu einem späteren Zeitpunkt klären. Nicht jetzt.
»Tom?«
»Mama?«
»Ich bin stolz auf dich, dass du es geschafft hast, hier rauszukommen. Ich meine, ich vermisse dich sehr und ich hoffe, dass du uns bald besuchen kommst. Aber ich habe den Schritt, wegzugehen, damals nicht hingekriegt. Ich bin hiergeblieben. Und du siehst ja, wohin das geführt hat.«
»Was meinst du damit?«
»Lange halte ich das mit deinem Vater nicht mehr aus. Und seine Reaktion auf Pias Nachrichten schlägt dem Fass den Boden aus. Du bist doch sein Sohn. Und jetzt verhält er sich so, als wärest du ein Aussätziger. Wenn er zu dir stehen würde, würden auch die Leute irgendwann aufhören zu reden, da bin ich mir sicher.«
Am liebsten hätte Tom seine Mutter umarmt. Oder sie auch in die Stadt geholt. Es tat so gut, dass wenigstens sie auf seiner Seite war.
Etwas später am Abend rief Tom bei Joschi an. Der hatte einen entsetzten Anruf seiner Mutter erhalten, nachdem Toms Vater bei ihnen zu Hause aufgekreuzt war. Indem Toms Vater die Nachrichten brühwarm weitertrug, verhielt er sich nicht besser als Pia. Und das enttäuschte Tom zusätzlich.
In Joschis Familie kochte es noch mehr als bei ihm. Aber Joschi wollte nichts davon hören, als Tom einen Teil der Verantwortung auf sich nahm.
»Ich bin doch selbst schuld, dass ich meinen Eltern nie etwas gesagt habe«, sagte er. »Und es war klar, dass sie irgendwann erfahren würden, dass ich schwul bin. Ich hab’s einfach drauf ankommen lassen. C’est la vie. Immerhin verstoßen sie mich nicht, das ist doch schon mal was.«
Und dann beschlossen sie, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie wollten am nächsten Wochenende zusammen ins Dorf fahren. Joschi schlug sogar vor, dass sie so tun sollten, als seien sie ein Paar. Tom war skeptisch, denn das würde bei ihren Eltern – oder zumindest bei seiner Mutter – Erwartungen schüren, denen er später vielleicht nicht mehr gerecht werden konnte. Und dann schoss ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf.
»Joschi, sag mal ehrlich: Wir sind doch nur Freunde, oder? Wenn du mehr willst, dann musst du mir das sagen.«
Er erzählte ihm von seiner Erfahrung mit Pia und davon, wie beschissen es gewesen war, von ihr im Ungewissen über ihre wachsende Zuneigung und ihre Erwartungen gelassen worden zu sein.
»Keine Sorge«, sagte Joschi. »Ich bin kein Masochist. Ich liebe dich auf eine komplizierte Weise. Und ich kriege sofort eine Erektion, wenn ich an deinen Schwanz und an das denke, was wir gestern gemacht haben. Vielleicht will ich davon auch noch mal wieder kosten. Aber trotzdem bleibe ich dabei: Wir sind Freunde.«
»Warum?«
»Weil Freunde so viel wichtiger sind als Sex. Oder eine schwierige Beziehung mit einem introvertierten Mann oder …«
»Wieso introvertiert? Findest du mich schwierig?«, fragte Tom etwas pikiert.
»Siehst du? Genau das meine ich.« Joschi lachte. »Ich will solche Diskussionen nicht führen. Ich will dich als Freund haben, der nackt vor seinem Vater stehen kann, ohne sich dafür schämen zu müssen.«
Tom plante zwar nicht, jemals wieder nackt vor seinem Vater zu stehen, und na ja, er hatte sich dabei geschämt, aber er kapierte, was Joschi ihm da gerade sagte. Ihre Freundschaft aus der Schulzeit war nie vorbei gewesen. Sie hatte sich bloß eine Auszeit genommen, hatte sich erholt von den ganzen hormongeschwängerten Pubertätseskapaden, von den nächtelangen Gesprächen über Mädchen, die sie beide eigentlich nie interessiert hatten, wie sie jetzt wussten. Sie hatten am Abend der Abifeier den Resetknopf gedrückt und der Neustart hatte nun mal zwei Jahre gedauert. Dafür war das System jetzt vollständig von Bots befreit. So als wäre die Titanic gesunken und Jack hätte am Ende doch überlebt.
»Aber du willst mehr von meinem Schwanz!«, warf Tom lachend ein.
»Ja, klar! Und von deinem Arsch und deinen Eiern und von dem ganzen Kerl, der da dranhängt.«
Jetzt hatte Tom eine Erektion. Er hätte sofort zugestimmt, wenn Joschi den Vorschlag gemacht hätte, dass sie sich trotz der vorgerückten Uhrzeit noch mal träfen. Aber Joschi sagte nichts. Und Tom traute sich mal wieder nicht.
»Und was ist, wenn sich einer von uns in einen anderen Typen verknallt?«
Tom wollte nicht noch einmal in die Situation wie mit Pia geraten. Jemanden zu verletzen, den er eigentlich gernhatte.
»Keiner von uns weiß, was morgen ist, oder?« Joschi war jetzt wieder ernst geworden. »Außerdem gibt es viele Möglichkeiten. Vielleicht verlieben wir uns ja in den gleichen Mann und der sich in uns beide? Dann führen wir eben eine Dreierbeziehung. Oder wir haben neben einer Beziehung weiter Sex. Das geht ja auch. Oder wir verlieben uns gleichzeitig in schwule Zwillinge und sind beide total glücklich mit dem, was wir haben.«
»Aber worauf kann ich mich denn dann noch verlassen?«, stöhnte Tom verwirrt. »Wenn wir nicht wissen, was morgen kommt, dann ist doch alles unsicher.«
»Nein, das ist es nicht.« Joschi machte eine Pause. »Du kannst lernen, zu vertrauen. Anderen Menschen und vor allem dir selbst.«
Tom lag nach dem Telefonat mit Joschi noch lange auf seiner Matratze, die er ans Fenster gezogen hatte, und blickte auf dem Rücken liegend in den Himmel. Vielleicht hatte Joschi ja recht und er konnte das mit dem Vertrauen lernen.