Zwanzigstes Kapitel
Freitagabend. Tom und Joschi saßen im Nahverkehrszug in die Kreisstadt, wo sie von Toms Mutter am Bahnhof abgeholt werden sollten. Eine Stunde mussten sie in diesem Zug aushalten, nachdem sie vorher schon zwei Stunden in einem Intercity ohne WLAN gesessen hatten. Kleine Bahnhöfe hielten den Zug ständig auf, Wälder und Wiesen wechselten sich mit verlassenen Industriegeländen und Abraumhalden aus der Zeit des Bergbaus ab. Tom und Joschi hatten es sich in einer Zweiersitzreihe bequem gemacht. Sie saßen eng nebeneinander, quatschten und ließen den Blick immer wieder aus dem Fenster wandern. Hin und wieder landete Joschis Hand auf Toms Oberschenkel und Tom sinnierte dabei über die Diskrepanz zwischen dem Leben in der Stadt und seiner Erwartung an die Provinz, die ja mal seine Heimat gewesen war.
Gerade wollte er Joschi fragen, wie er damit in den letzten Jahren klargekommen war, als an einem kleinen Bahnhof – nicht viel mehr als eine Milchkanne – eine Gruppe junger Frauen in ihr Abteil stieg. Ein Junggesellinnenabschied auf dem Weg in die Kreisstadt. Tom stöhnte leise auf und Joschi kniff ihm in den Oberschenkel. Sofort hatte Tom das Bedürfnis, den Abstand zwischen sich und Joschi zu vergrößern, doch der hielt ihn zurück.
»Jetzt keinen Rückzieher machen!«, raunte er.
Die Frauen, alle etwa Mitte zwanzig, mit wahnsinnig lustigen T-Shirts anlässlich des besonderen Tages, waren schon sichtlich angetrunken und kamen durch die Sitzreihen auf die beiden zu. Tom hasste das. Er hatte sich immer sofort verkrümelt, wenn er diesen Junggesellenabschieden begegnete. Egal, ob es Jungs oder Mädels waren. Blöderweise waren sie beide jung, sahen gut aus und passten damit genau in das Schema der Feiernden. Die erste Frau aus der Gruppe blieb auch direkt neben ihnen stehen.
»Trinkt ihr einen mit?«, fragte sie und reichte ihnen zwei kleine Schnapsfläschchen.
Gerade wollte Tom ablehnen, als Joschi, der auf dem Fensterplatz saß, schon die Hand ausstreckte. Doch das Mädel zog die Fläschchen schnell wieder zurück.
»Nur gegen einen Kuss«, sagte sie lächelnd.
Die anderen Frauen waren hinter ihr im Gang stehen geblieben und kicherten.
»Dann nicht«, sagte Joschi und legte seine Hand wieder auf Toms Bein.
Der Blick der Frau erstarrte. Sie sah erst die Hand an, dann Joschi und schließlich Tom.
»Was seid ihr denn für Spackos?«, fragte sie laut.
»Was ist denn los, Jill?«, fragte eines der anderen Mädchen. »Wollen die nicht?«
Die erste drehte sich zu ihren Freundinnen um.
»Das sind Homos«, antwortete sie. Sie wandte sich wieder den beiden zu. »Seid ihr pervers, oder was?«
In Tom verkrampfte sich alles. Was für eine blöde Kuh! Verzweifelt suchte er nach einer passenden Reaktion auf die Frage, als Joschis Hand über Toms Hose strich.
»Keine Ahnung«, sagte Joschi gelassen. »Wie kommst du darauf?«
Die anderen Mädels drängten sich näher an sie heran und versuchten, einen Blick auf die beiden Jungs zu erhaschen. Tom hörte von einer wieder ein Kichern, während die anderen leise tuschelten.
»Stehst du darauf, in den Arsch gefickt zu werden?«, fragte die Erste mit angeekeltem Blick.
»Nicht wirklich«, sagte Joschi und fixierte sie. »Du?«
Jetzt zuckte das Mädel zurück. »Boah, bist du widerlich!«, zischte sie.
»Lass die doch in Ruhe!«, meinte eine der anderen Frauen, die offenbar die angehende Braut war, denn sie trug einen zerrupften weißen Schleier im Haar.
»Wenn das Schwuchteln sind, dann verkauf ihnen doch Kondome!«, kreischte eine weitere von hinten und verschluckte sich an einem Lachanfall.
Tom bemerkte, wie sich die anderen Fahrgäste im Abteil zu ihnen umwandten und sie angafften. Sie wurden gerade zu einer Sensation, von der man das ganze Wochenende erzählen konnte. Da waren zwei Homos im Zug . Tom bekam eine Ahnung davon, was ihn in seinem Heimatdorf erwartete. Er sollte nicht mit allzu viel Anerkennung und Respekt rechnen. Die Gegend war katholisch geprägt und die Leute gingen sonntags in die Kirchen, um sich von zölibatären Pastoren über eine anständige Moral aufklären zu lassen.
Eines der anderen Mädels drängelte sich jetzt an der Ersten vorbei und betrachtete Joschi und Tom eingehend. Tom kam sich vor wie in einem Zoo.
»Aber die sind doch ganz süß«, meinte sie.
Dann beugte sie sich vor und versuchte, Tom zu küssen. Er roch den Alkohol aus ihrem Mund. Tom drehte schnell den Kopf zur Seite. Er wollte dieser Frau nicht näher kommen als nötig. Doch die legte ihm jetzt eine Hand auf den Scheitel und kraulte ihm durch die Haare.
»Kann der auch sprechen?«, fragte sie Joschi. »Oder ist der stumm?«
»Hör mal«, brummte Joschi. »Lasst uns einfach in Ruhe!«
»Oh, der Schwuli ist sauer«, sagte das Mädel und zog die Hand zurück, aber nur um sie mit abgeknicktem Handgelenk vor sich hin und her zu schwenken und mit näselnder Stimme zu sagen: »Wir sind schwul und wir mögen keine Titten .« Dann zog sie ihr T-Shirt straff, sodass sich ihre Brüste überdeutlich in den Stoff drückten. »Guckt mal genau hin! Vielleicht kommt ihr ja doch noch auf den Geschmack.«
Tom hatte sich noch nie so klein und so gedemütigt gefühlt. Er war froh, dass Joschi neben ihm saß und er so nicht allein durch diese Situation musste. Aber die Verachtung, die ihm von den Mädels entgegenschlug, war schwer wie Blei und zog ihn runter.
»Nicht mehr darauf reagieren«, flüsterte Joschi.
Ein weiteres Mädel setzte sich jetzt in die Sitzreihe vor ihnen und streckte den Kopf zu ihnen nach hinten. Auch sie schien fasziniert davon zu sein, eine seltene Spezies entdeckt zu haben.
»Macht ihr’s auch immer schön brav mit Kondom?«, fragte sie lachend. Dann reichte sie Joschi ein verpacktes Gummi hin. »Nicht dass einer von euch schwanger wird.«
Die anderen lachten lauthals. Toms Hals war trocken. Wie um alles in der Welt kamen sie hier weg? Warum ließen die sie nicht einfach in Ruhe und kümmerten sich um ihren eigenen Scheiß?
»Ach, ihr braucht ja zwei«, meinte das Mädel kichernd und schob ein zweites Kondom zwischen den Sitzen hindurch. »Damit jeder von euch mal ran darf.«
Wieder hysterisches Lachen der anderen. Tom legte seine Hand auf die von Joschi, die weiterhin auf seinem Bein ruhte und nur hin und wieder leicht zuckte.
»Aber nicht hier im Zug rummachen!«, mahnte die erste Frau. »Immerhin sind auch Kinder im Abteil. Los Mädels, lasst uns ’n paar echte Männer suchen!«
Und dann verzogen sie sich. Endlich. Tom hörte sie hinter sich durch den Waggon gehen, kreischend und laute Kommentare über die perversen Schwulen von sich gebend, bis sie durch die Tür am Ende des Wagens verschwanden und Tom nur noch hin und wieder ein Johlen hörte.
Er atmete auf und hatte Tränen in den Augen. Joschi legte den Arm um ihn.
»Daran musst du dich leider gewöhnen. Bis solche Menschen mit uns klarkommen, wird es noch lange dauern.«
Aus irgendeinem Grund hatte Tom gehofft, dass es anders wäre. Aber er kannte ja die Kommentare aus seiner Schulzeit, von den Gemeindefesten und sogar aus seinem alten Freundeskreis. Toleranz konnte er aus dieser Richtung nicht erwarten.
»Entschuldigung«, sagte eine Stimme neben Tom und er befürchtete schon, dass der Junggesellinnenabschied zurück sei. Aber es war nur eine etwa dreißigjährige Frau, die mit leicht schockiertem Gesichtsausdruck zu ihnen herabsah. »Ich bin zu spät reingekommen, sonst hätte ich mich eingemischt«, meinte sie. »Das war unter aller Sau, was die sich da erlaubt haben.«
»Danke«, sagte Joschi.
»Kommt ihr klar?«, fragte die Frau weiter. »Ich setze mich zwei Reihen hinter euch. Wenn die zurückkommen sollten, hau ich denen in die Fresse. Versprochen!«, ergänzte sie aufmunternd lächelnd.
Die Worte der Frau entschärften die Situation ein bisschen. Sie waren nicht allein. Erschöpft lehnte Tom seinen Kopf an Joschis Schulter, und als der ihm eine Hand an die Wange legte, spürte Tom den Schmerz, den er in den letzten Minuten zurückgehalten hatte. Lautlos liefen ihm die Tränen über das Gesicht, die Joschi kommentarlos wegwischte. Ja, daran würde er sich tatsächlich noch gewöhnen müssen, aber Tom war sich nicht sicher, ob er das jemals schaffen würde.
Jack war auf der Titanic von den meisten Passagieren der ersten Klasse auch nicht akzeptiert worden und trotzdem seinen eigenen Weg gegangen. Auch wenn das am Ende nicht so richtig gut für ihn ausgegangen war …