Zweiundzwanzigstes Kapitel
Noch am gleichen Abend saßen Joschi und Tom wieder im Zug in die Stadt. Joschi hatte keinen Bock gehabt, eine weitere Nacht bei seinen Eltern zu verbringen, und Tom wollte ihn mit seinem Frust nicht allein nach Hause fahren lassen. Nicht nach dem, was sie auf der Hinfahrt erlebt hatten. Obwohl es ein Samstagabend war, wurden sie im Nahverkehrszug nicht von weiteren Junggesellenabschieden überfallen und im Intercity saßen sie mit einem Kegelklub in einem Wagen, der ihnen jeweils ein Piccolöchen in die Hände drückte, ohne sie weiter zu belästigen.
Eine halbe Stunde vor Ende der Fahrt brummte Toms Handy und eine Nachricht von Phil kam herein.
Montagabend Lust auf ein Bier? , schrieb er.
Guter Plan , antwortete Tom.
Wunderbar. Ich freu mich , kam zurück.
Tom überlegte einen Moment, ob er Phil schreiben sollte, dass er auf Jungs stand. Oder war das zu viel? Kurzerhand tippte er dann doch noch eine Nachricht ein.
Nur so zur Info: Ich bin schwul. Will aber natürlich nur ein Bier mit dir trinken. Und ein Blinzel-Smiley.
Tom befürchtete schon, mit seiner Nachricht alles kaputt gemacht zu haben, denn es dauerte bis kurz vor der Ankunft in der Stadt, bis Phil endlich antwortete.
Nur zur Info: Ich lese gerne philosophische Texte. Aber wir können auch über Goethe sprechen. Blinzel-Smiley.
Tom fiel ein Stein vom Herzen. So einfach konnte das also sein.
Sie kämpften sich gegen Mitternacht durch den Hauptbahnhof, stiegen zur Stadtbahn in den Untergrund und fuhren in Richtung Süden. Joschi sprach nicht viel, und als seine Station näher kam, wurde Tom bewusst, dass auf Joschi nur eine leere Wohnung wartete, während er darauf hoffen konnte, dass Jula oder Peter zu Hause waren.
»Willst du mit zu mir kommen?«, fragte Tom, kurz bevor die Bahn hielt.
Joschi sah ihn müde an. Er schien nachzudenken.
»Freunde?«, fragte er leise.
»Freunde«, antwortete Tom.
Sie ließen die Bahnstation an sich vorbeirauschen, hielten sich an den Händen, bemerkten den einen oder anderen Blick, der kurz an ihnen hängen blieb. Doch niemand sprach sie an. Sie waren wieder in der Großstadt, wo ihr Leben Normalität war. Sie verließen die Bahn, gingen durch die dunklen Straßen zu Toms Wohnung und fanden sie unbeleuchtet vor. Jula und Peter schienen ausgeflogen zu sein.
Tom entdeckte noch eine halb volle Weinflasche in der Küche und trug sie mit zwei Gläsern in sein Zimmer. Joschi saß auf der Matratze und blätterte durch ein Buch, das er auf dem Fußboden gefunden hatte. Sie sprachen nicht viel, tranken in kleinen Schlucken von dem Wein, und als Joschi beinahe die Augen zufielen, zogen sie sich, ohne sich vorher abzusprechen, aus und krochen unter die Decke.
Tom erkundete Joschis Körper von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Sie küssten sich und hielten sich aneinander fest, bis sie ihre aufgestaute Lust nicht mehr zurückhalten wollten und – erst Joschi und dann Tom – mit zufriedenem Stöhnen aufeinander abspritzten. Der warme Samen lief an ihren Körpern herab, sickerte in die Laken und sie fanden bald eine Stellung, in der sie den Rest der Nacht verbringen konnten.
Gegen halb drei klingelte es an der Wohnungstür. Tom setzte sich müde auf. Sollte er aufmachen? Eigentlich konnte das niemand für ihn sein. Vielleicht für Jula oder Peter. Aber im Flur blieb es still. Stattdessen klingelte es erneut. Diesmal mehrfach hintereinander. Vielleicht hatte ja einer der beiden den Schlüssel vergessen. Also zog sich Tom die Shorts an und taperte zur Tür.
Einen Moment später polterte es im Treppenhaus und Finn kam die Treppe hinauf. Er war sichtlich betrunken und stammelte irgendwas vor sich hin, als er versuchte, sich an Tom vorbei in den Wohnungsflur zu schieben. Doch Tom hielt ihn zurück.
»Geh nach Hause, Finn!«, sagte er und schob ihn sanft ins Treppenhaus zurück.
Finn heulte einen Moment und bettelte, hereinkommen zu dürfen, entschuldigte sich für sein Verhalten und für sein Leben, nuschelte was davon, wie besonders Tom war, und heulte wieder. Doch Tom blieb eisern in der Tür stehen, bis Finn langsam die Treppen wieder hinunterschlich und Tom unten die Haustür ins Schloss fallen hörte.
Als er zurück ins Bett kroch, drehte sich Joschi zu ihm um.
»Was war denn los?«, fragte er verschlafen.
»Nichts«, sagte Tom. »Es war nichts.«