Leseprobe »Turbulenzen«
Eins
Als Tom in die Stadt zurückkehrte und die Tür zu seiner WG aufschloss, hatte er endlich wieder das Gefühl, zu Hause zu sein. Jetzt erst spürte er die Anspannung, die in den vergangenen Tagen auf ihm gelastet hatte. Er war mit Joschi zum Ende der Semesterferien spontan ein paar Tage an die Nordsee gefahren, nachdem sich der Winter zum Glück verabschiedet hatte. Und obwohl sie immer wieder vor Wind und Regen in ihre Pension geflüchtet waren, hatte ihm der Ortswechsel im Prinzip gutgetan. Sie hatten lange Spaziergänge am Strand gemacht und sich zum Lesen in das große Bett verzogen. Aber so tief Tom auch zeitweise in die Zweisamkeit eingetaucht war – das Ganze hatte sich für ihn eigentlich zu sehr nach einer festen Beziehung angefühlt. Dazu war er einfach noch nicht bereit. In seinem neuen Leben, in der Stadt wartete noch so viel auf ihn! Er wollte einfach keine Fesseln, die ihn davon abhielten, all das zu entdecken.
Joschi hatte ihn an diesem Sonntagabend in der Südstadt abgesetzt, um das ausgeliehene Auto zu Freunden zurückzubringen, die am Stadtrand lebten. Tom packte gerade seinen Rucksack aus, als seine Mitbewohnerin Jula den Kopf durch die Tür steckte.
»Wars schön?«, fragte sie.
Tom wohnte jetzt seit einem halben Jahr mit Peter und ihr zusammen und hatte in den beiden echte Freunde gefunden. Er wusste, dass viele WGs einfach Zweckgemeinschaften waren, in denen man aneinander vorbeilebte. Bei ihnen war das anders. Vor allem nach seinem etwas wüsten Outing im Herbst, bei dem ihn die beiden unterstützt hatten, konnte er sich keine anderen Mitbewohner mehr vorstellen. Mit Peter und Jula hatte er im Januar seinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Sie teilten ihr Leben miteinander und waren füreinander da.
»Wir haben uns den Wind um die Ohren blasen lassen«, sagte Tom und wandte sich mit seiner schmutzigen Wäsche im Arm zu Jula um.
»Das war hoffentlich nicht alles, was geblasen hat«, meinte Jula augenzwinkernd. »Oder habt ihr euch gestritten?«
Tom lachte. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich hatte gedacht, dass ich Joschi heute auch noch sehe.«
»Der kommt später vorbei.«
Jetzt bemerkte Tom das unruhige Flackern in Julas Augen und die gerötete Haut am Hals. Sie wirkte aufgewühlt.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte er. »Du siehst irgendwie durcheinander aus.«
»Ach!« Jula winkte ab. »Peter und ich haben uns gezofft.«
Sie strich sich durch die Haare, als könne sie dadurch die Indizien für ihre Unruhe verstecken.
»Lass Tom doch da raus!«, murmelte Peter, der jetzt auch in Toms Zimmer blickte. »Schön, dass du wieder da bist.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Tom wissen.
Peter schüttelte abweisend den Kopf, doch Jula verdrehte die Augen.
»Wir müssen es ihm sagen«, sagte sie zu Peter. »Sonst steht er in der nächsten Zeit völlig auf dem Schlauch, wenn wir uns aus dem Weg gehen.«
»Müssen wir uns wirklich aus dem Weg gehen?«
»Na, du bist es doch, dem das unangenehm ist.«
»Was ist denn los?«, fragte Tom erneut, den diese ungewohnte Anspannung zwischen seinen Mitbewohnern alarmierte. »War Finn wieder hier und hat eine Show abgezogen?«
Mit Finn verband die drei eine besondere Beziehung. Er war mit Peter und Jula befreundet und hatte sogar eine kurze Zeit in der WG gewohnt. Mit ihm war Peter einmal im Bett gelandet.
Und Finn war es auch gewesen, der Tom mit seinen jetzigen Mitbewohnern bekannt gemacht hatte, nachdem sie sich bei einer anderen WG-Besichtigung getroffen hatten. Mit Finn hatte Tom außerdem seinen ersten schwulen Sex gehabt, was fantastisch gewesen war. Allerdings war Finn danach ziemlich abgedreht und hatte Tom eine Weile gestalkt. Hin und wieder tauchte er immer noch wie aus dem Nichts auf und meinte, Toms volle Aufmerksamkeit beanspruchen zu dürfen.
Aber Jula lachte. »Wenn es Finn gewesen wäre, würde Peter vermutlich entspannter damit umgehen.«
»Du spinnst doch!«, wehrte sich Peter ärgerlich. »Ich hätte jetzt auch ein Problem, wenn Finn mir den Schwanz gelutscht hätte.«
Die Worte schnitten durch die Luft wie ein heißes Messer durch ein Stück kalte Butter. Tom sah erstaunt zwischen den beiden hin und her.
»Jula hat dir den Schwanz gelutscht?«, fragte er Peter ungläubig. Dann brach er in Lachen aus. »Und was ist mit Kein Sex mit den Mitbewohnern
?«
Ihr enges Zusammenleben funktionierte auch deshalb so gut, weil sie diese strikte Regel aufgestellt hatten. An Jula hatte Tom natürlich kein Interesse, und Peter hatte für sich nach dem Experiment mit Finn herausgefunden, dass er eindeutig hetero war. Und bis heute hatte Tom geglaubt, dass auch zwischen Peter und Jula alles geklärt sei.
Er schob sich zwischen den beiden hindurch in den Flur. Er brauchte jetzt ein Bier auf den Schreck. Der Kühlschrank war fast leer, aber in dem kleinen Vorratsschrank lagen noch ein paar warme Flaschen.
»Es ist nicht das, was du denkst«, sagte Peter, der ihm folgte und die Flaschen in den Kühlschrank räumte, als hätte er ein schlechtes Gewissen, das Bier nicht für Tom gekühlt zu haben.
»Statt aneinander herumzuspielen, hättet ihr mal lieber einkaufen sollen«, stellte Tom fest.
»Hör doch auf, zu frotzeln!«, sagte Peter leicht gereizt. »Als wenn du irgendwas anbrennen lassen würdest.«
»Was ist denn dann das Problem?«, fragte Tom weiter und machte sich ein warmes Bier auf. »Ist einer von euch schwanger?«
»Kathi ist das Problem«, sagte Jula. »Peter ist der Abend jetzt unangenehm und seine Freundin soll nichts davon mitkriegen.«
Peter stöhnte. »Ist das so absurd? Wenn Kathi davon erfährt, macht die mir die Hölle heiß.«
Tom trank einen Schluck und schüttelte sich. Warmes Bier war schon ziemlich ekelig.
»Warum macht ihr so ein Ding daraus?«, fragte er, während er überlegte, ob er das Bier wegschütten sollte. »Statistisch gesehen geht fast jeder irgendwann mal fremd.«
Jetzt lachte Peter. »Willst du jetzt die angeblich so verbreitete schwule Promiskuität ins Feld führen? Entschuldige, aber das ist nicht dein Stil.«
In diesem Moment klingelte es an der Tür und kurz darauf stand Joschi im Flur. Peter und Jula begrüßten ihn freudig. Er hatte ihnen den klassischen Sanddornschnaps von der Insel mitgebracht, der dort einfach nur Karnickelpisse
hieß und auch genauso schmeckte. Jula verzog das Gesicht, als sie an ihrem Glas nippte, wohingegen Peter von dem Gesöff ganz angetan war.
»Aber jetzt mal ehrlich«, griff Peter das Thema noch einmal auf. »Kathi darf davon echt nichts erfahren.«
»Wovon?«, fragte Joschi neugierig und kippte sich noch ein Glas Karnickelpisse in den Mund.
»Jula hat ihm den Schwanz gelutscht«, sagte Tom süffisant. »Dabei haben wir doch diese WG-Regel. Kein Sex und so. Das
hat Peters Schwanz vergessen.« Er zwinkerte Peter zu. »Darf ich dann auch mal?«
»Können wir bitte aufhören, über meinen Schwanz zu reden?«, sagte Peter genervt. »Ihr seid ja alle völlig sexfixiert.«
Jula kicherte, als sie sich ein Glas Wein einschenkte und sich an den Küchentisch setzte. »Wenn hier einer auf Sex fixiert ist, dann bist du das«, warf sie ein. »Ich wollte Freitag einfach nur gemütlich einen Film gucken.«
»Das war ein Porno, kein Film!«, konstatierte Peter.
»Ein guter Spielfilm mit ein bisschen Sex«, berichtigte Jula ihn. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so empfindsam bist.« Sie sah Tom an. »Kennst du Shortbus
?«
Tom nickte kurz und warf Joschi dann einen vorsichtigen Blick zu. Ihre lockere Affäre, die sie seit dem letzten Herbst führten und in der sie beide keine Ansprüche an den anderen stellten, war für Tom perfekt, denn sie hatten sich darauf geeinigt, Freunde zu sein, ganz egal, was passierte. Freunde, mehr nicht. Oder auch Freundschaft plus. Aber es war eben keine richtige Beziehung. Joschis Blick verriet, dass ihn dieses Gespräch befremdete. War er vielleicht doch nicht so locker und offen, wie er vorgab? Schon in den letzten Tagen auf der Insel hatte Tom so eine Ahnung gehabt.
Nachdem Jula doch noch kurz berichtet hatte, wie sie während des Films die Erektion in Peters Hose entdeckt hatte, und Peter gerade noch verhinderte, dass sie weiter ins Detail ging, wechselten sie das Thema. Tom und Joschi erzählten von der autofreien Nordsee-Insel, schwärmten von den schönen Stränden und den gewöhnungsbedürftigen Insulanern und tranken zum Abschluss noch ein Glas Karnickelpisse mit den anderen. Dann zogen sie sich in Toms Zimmer zurück.
Als Tom die Tür zugezogen hatte, umfasste Joschi ihn von hinten, drängte sich an ihn und schob seine Hände vorne in Toms Jeans.
»Du würdest also gerne Peters Schwanz lutschen?«, fragte er und knabberte an Toms Ohrläppchen.
Der bekam sofort eine Erektion. Er wusste, was Joschi mit seinem Schwanz machen konnte. Joschi kannte ihn einfach zu gut. Tom stöhnte wohlig.
»Hast du Peter schon mal nackt gesehen?«, fragte er zurück.
Joschi umfasste Toms Erektion und zog die Vorhaut zurück. Mit den freigelegten Nervenenden, die jetzt an der Boxershorts rieben, stieg Toms Lust weiter an.
»Sein Body ist schon ziemlich heiß«, hauchte Joschi ihm ins Ohr. »Er macht halt viel Sport und ich habe ihn ein paarmal gesehen, wenn er aus dem Bad kam.«
Joschi zog die Hände wieder aus der Jeans und öffnete jetzt Toms Gürtel, knöpfte die Hose langsam auf und biss ihm leicht in den Hals.
»Aber ich kenne da einen Mann, den ich viel heißer finde!«
Tom lachte leise und wandte sich zu Joschi um. Sie sahen sich in die Augen, und als er sich an Joschi drängte, um ihn zu küssen, spürte er auch dessen Erektion gegen die Hose drücken.
»Dann zieh dich aus!«, hauchte er Joschi ins Ohr.
Der löste sich von Tom, zog den Reißverschluss seiner Jeans auf, riss sich Pulli und T-Shirt über den Kopf und ließ dann seine Hose auf die Knöchel rutschen. Er stieg aus dem Berg Stoff, zog sich die Boxershorts runter und stand nackt vor Tom. Tom liebte diesen Körper vor sich. Er liebte ihn schon seit einem halben Jahr und hatte sich auch in den Jahren davor unbewusst immer wieder nach ihm gesehnt, in der Zeit zwischen der etwas missglückten Abiturfeier, nach der sie sich voneinander entfernt hatten, und dem zufälligen Wiedertreffen in ihrem Heimatdorf.
Joschis Haut war nach dem Winter blass und nur da, wo er in den letzten Tagen am Meer ein bisschen Sonne bekommen hatte, war er leicht gebräunt. Er war schmal, der Bauch flach, die Brust ebenfalls. Tom war kräftiger gebaut und kämpfte in
unregelmäßigen Abständen gegen ansetzende Polster. Er hasste Sport und war manchmal ein bisschen neidisch auf die gut gebauten Männer, die am Wochenende in der Szene abhingen, während sie vermutlich den Rest der Woche in irgendeinem Fitnessstudio ihre Muskeln stärkten. Aber im Grunde hatte er gar nicht den Anspruch, einen makellosen Körper zu haben. Und Joschis war in seinen Augen sowieso perfekt.
Seine Aufmerksamkeit war jetzt allerdings ganz von der schräg nach oben ragenden Latte zwischen Joschis Beinen in Anspruch genommen. Obwohl er diesen Körper im vergangenen Winter so oft nackt gesehen und bis in alle Winkel erkundet hatte, konnte er nicht genug von ihm bekommen. Schnell zog er seine Klamotten auch aus, sein Glied reckte sich nun ebenfalls in die Höhe. Joschi trat auf ihn zu und ihre Eicheln berührten sich sanft. Gleichzeitig griffen sie zu ihren eigenen Schwänzen und rieben sie aneinander. Joschis Penis sonderte einen ersten Tropfen ab, der die Berührung sofort etwas glitschiger machte. Joschi rückte noch ein wenig näher an Tom heran und umfasste mit seinen schmalen Händen jetzt beide Schwänze. Tom stöhnte bei der Berührung mit der kalten Hand auf. Jetzt trat auch aus seiner Eichel ein Tropfen aus, begleitet von einem angenehmen Schauer, der seinen Rücken entlanglief.
»Die Frage ist allerdings«, griff Joschi das vorherige Thema wieder auf, »ob Peter dich auch so gerne in die Hand nimmt wie ich.«
Er rieb die beiden Erektionen gleichzeitig und Tom genoss die Lust, die ihm von den Zehenspitzen bis in die Kopfhaut pulsierte. Er schloss die Augen und bewegte sein Becken vor und zurück. Joschis Handbewegungen wurden allmählich schneller. Er strich immer fester auf und ab und Tom wusste, dass er das nicht mehr lange aushalten würde. Doch kurz bevor er explodierte, hielt Joschi plötzlich die Hand still. Tom öffnete die
Augen und sah Joschi fragend an. Der grinste breit. Dann rieb er weiter.
Tom spritzte seinen Samen mit einem tiefen Stöhnen in die Höhe. Wie ein elektrischer Stoß jagte die Lust durch seinen Körper und sein Schwanz zuckte immer wieder, während er seine Ladung auf Joschis Bauch, seine Erektion und die Hand, die beide fest umfing, hinausschoss. Dann war es vorbei und Tom atmete schwer aus.
Er öffnete die Augen und sah Joschi an. Der lächelte jetzt über das ganze Gesicht. Mit einem kurzen Blick bemerkte Tom, dass Joschi noch nicht gekommen war. Also zog er seinen besten Freund mit sich zur Matratze, die seit einem halben Jahr als Bett herhalten musste. Joschi legte sich hin, Tom wischte ihm das Sperma mit seinem T-Shirt von Fingern und Penis und griff dann nach der Erektion. Er wichste Joschis Schwanz, bis auch er mit einem lauten Seufzer in einer hohen Fontäne kam. Danach lagen sie etwas außer Atem nebeneinander auf der Matratze.
»Und? Willst du immer noch Peters Schwanz lutschen?«, erkundigte sich Joschi mit geschlossenen Augen.
»Nachdem ich jetzt weiß, dass die WG-Regel nicht mehr gilt, lasse ich es mal darauf ankommen«, antwortete Tom lachend und stürzte sich auf Joschi, um ihn durchzukitzeln.
Der wand sich unter Toms Fingern und bettelte darum, dass er aufhörte. Nach einer Weile ließ Tom von ihm ab, schnappte sich seine Shorts und ein frisches T-Shirt und zog beides an. Auch Joschi stieg in seine Boxershorts, um mit einer Zigarette an das offene Fenster zu treten. Sie schwiegen eine Weile. Joschi rauchte. Tom lag auf dem Rücken auf der Matratze und blickte zur Decke.
»Was ist das zwischen uns?«, stellte Joschi schließlich die unvermeidliche Frage.
Tom schossen sofort die Erinnerungen durch den Kopf. Es war gerade mal ein halbes Jahr her, dass er sich aus einer
ähnlichen Beziehung freigekämpft hatte. Damals war es eine Frau gewesen. Pia. Mit der hatte er auch eine unverfängliche Affäre angefangen, die sich dann aber verselbstständigt hatte: Pia hatte sich in ihn verliebt, er war noch nicht geoutet gewesen. Und beinahe wäre er mit ihr in eine Einbahnstraße eingebogen. Haus bauen, Kinder kriegen, den langweiligen Job weitermachen. Doch das war nicht sein Leben. Er wollte frei sein. Seine Möglichkeiten ausloten. Aus der damaligen Welt war er in letzter Sekunde ausgebrochen. Auf keinen Fall wollte er erneut in so einer Sackgasse landen. Joschi hatte das immer akzeptiert. Bis jetzt jedenfalls.
»Was meinst du?«, fragte Tom zurück, um keine Antwort geben zu müssen.
»Freunde?«
Tom atmete erleichtert auf.
»Freunde«, sagte er.
Zwei
Semesteranfang. Zum zweiten Mal für Tom. Im ersten Semester hatte er nicht so wahnsinnig viel auf die Reihe bekommen, und daher hatte er sich einiges vorgenommen. Während er im Wintersemester vor allem mit sich und seinem Outing, der Stadt und dem neuen Leben beschäftigt war, wollte er jetzt im Studium ein bisschen Gas geben. Viele Leute hatte er im Winter an der Uni nicht kennengelernt, aber auf einen Kommilitonen freute er sich schon: Phil. Mit ihm hatte er vereinbart, wieder gemeinsam ein Literaturseminar zu belegen.
Sie trafen sich vor dem Seminarraum und begrüßten sich mit einer Umarmung. Erfreut drückte sich Tom an den Freund, der ihn lachend von sich schob.
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, sagte Phil, schlug Tom auf die Schulter und marschierte vor ihm in den Raum.
Sie fanden hinten rechts einen Tisch, an dem sie zusammen sitzen konnten, packten ihre Unterlagen aus und erzählten sich gegenseitig von den Semesterferien. Phil war zwei Wochen Skifahren in den Alpen gewesen, bei perfektem Schnee. Jeden Abend war er mit seiner Freundin Magdalena und anderen Leuten in irgendwelchen Klubs versackt.
»Wie kannst du Skifahren, wenn du jeden Abend saufen gehst?«, fragte Tom mit kraus gezogener Stirn.
»Reine Gewöhnung«, entgegnete Phil. »Mit Restalkohol im Blut kommt man die Pisten viel eleganter runter.«
Der Raum füllte sich allmählich, und Phil wurde von einer Studentin angesprochen. Er unterhielt sich kurz mit ihr über eine Hausarbeit, die sie zusammen in einem anderen Seminar übernommen hatten, und fragte einen anderen Studenten, wie die Zeit bei seinen Großeltern gewesen war. Tom fiel auf, wie oft Phil im Gegensatz zu ihm gegrüßt wurde. Im letzten Semester hatte er sich fast in die Nesseln gesetzt, als er Phil im Glauben, er sei schwul, angebaggert hatte. Doch der hatte ihm das nicht übel genommen. Im Gegenteil: Er schien die Freundschaft zu Tom zu genießen und bezog ihn ständig in die kurzen Gespräche mit den anderen ein. Manchmal wünschte Tom sich, er hätte ein bisschen was von der Leichtigkeit, mit der Phil durchs Leben ging.
»Du bist halt der einzige Schwule, den ich wirklich kenne«, hatte er am Ende des letzten Semesters zu ihm gesagt, als Tom von einem bescheuerten Typen blöd angepöbelt worden war und Phil sich demonstrativ an seine Seite gestellt hatte. »Und mir ist es doch egal, mit wem meine Freunde ins Bett gehen. Das geht keinen was an.«
Als die Dozentin in den Raum kam und sie sich auf die Plätze setzten, fügte Phil seinen Ausführungen über den Alkohol im Skiurlaub noch hinzu: »Außerdem ist der Sex nach einem Tag auf der Piste phänomenal.«
»Wie bitte?«, hakte Tom leicht irritiert nach.
Phil beugte sich zu ihm herüber und flüsterte: »Skifahren ist so anstrengend und geht so in den ganzen Körper und den Schwanz, dass sich der Sex danach viel intensiver anfühlt.«
Er zwinkerte Tom zu und wandte seine Aufmerksamkeit dann der Dozentin zu. Tom erstaunte Phils Bemerkung. Über Sex hatten sie bislang nie gesprochen und Tom war sich auch nicht sicher, ob er von Phil mehr Details über sein Sexualleben erfahren wollte. Und jetzt erwähnte Phil ihm gegenüber seinen Schwanz, der sich, das hatte er bei der Begrüßung aus den Augenwinkeln sehen können, deutlich durch die für die Jahreszeit ziemlich dünne Stoffhose abgezeichnet hatte. Wollte Phil ihn anmachen oder dachte er einfach, ihre Freundschaft sei so eng, dass er mit ihm über solche Dinge reden könne? Tom war verwirrt, schob aber diese Gedanken schnell zur Seite, weil die Dozentin mit dem Unterricht begann.
Als es an die Verteilung der Seminararbeiten ging, fragte Phil, ob sie zusammen ein Projekt übernehmen sollten. Tom freute sich, denn er hatte das schließlich noch nie gemacht, und Phil versprühte zumindest den Anschein, als habe er einen Plan, wie sie vorgehen konnten. Also meldeten sie sich und bekamen gemeinsam ein Thema zugewiesen.
Nach dem Seminar holten sie sich einen Kaffee in der Cafeteria und setzten sich in die Sonne auf dem Campus. Kurz schoss Tom der Gedanke durch den Kopf, ihn auf diese komische Sexbemerkung anzusprechen, fand es dann aber peinlich, mit Phil darüber zu reden, und erzählte lieber von der kurzen Reise auf die Insel.
»Ich muss gleich los«, sagte Phil nach einer halben Stunde. »Vorlesung in Geschichte. Hast du Lust, übermorgen auf ein Bier rauszugehen? Dann kannst du mehr von der Nordsee erzählen.«
»Gute Idee«, antwortete Tom. »Ich muss auch gleich mal zur Jobbörse und nach einem Job suchen.«
Im Winter hatte er neben dem BAFÖG noch von seinem Ersparten gelebt, jetzt musste aber zumindest ein kleiner Job her, damit er auch mal ausgehen konnte. So richtig Bock hatte er allerdings nicht auf die Jobsuche. Und er ahnte auch, dass das zu Semesterbeginn nicht so leicht sein würde, weil sich alle auf die wenigen Studentenjobs stürzten.
»Ich bin echt ein Idiot!« Phil schlug sich vor die Stirn und sah Tom an. »Ich wollte dich ja fragen, ob du Nachhilfe gibst.«
»Wem? Dir?«
»Nee. Ich bräuchte höchstens mal Nachhilfe in schwulem Sex«, antwortete er.
Tom schoss das Blut in den Kopf und er spürte, dass er tiefrot anlief. Um irgendwie davon abzulenken, zog er die Augenbrauen hoch und versuchte, Phil möglichst verständnislos anzusehen. Der brach in Lachen aus.
»Nicht praktisch«, erklärte er. »Eher theoretisch. Ich habe echt keine Ahnung, wie das geht.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wir wissen einfach viel zu wenig von den Menschen, die wir mögen. Aber Spaß beiseite: Eine Freundin meiner Mutter hat einen etwas missratenen Sohn. Der braucht Nachhilfe in Deutsch und Englisch.« Phil kramte in seiner Tasche und zog schließlich einen Zettel raus. »Hast du Interesse?«
Tom suchte seine in alle Richtungen davongelaufenen Gedanken wieder zusammen und schluckte das Anzügliche, was Phil gerade von sich gegeben hatte, runter.
»In welcher Klasse ist der denn?«, fragte er mit trockenem Mund.
»Keine Ahnung. Der ist sechzehn, glaub ich.«
»Das krieg ich hin«, sagte Tom und nahm ihm den Zettel ab. »Hast du kein Interesse an dem Job?«
Phil tat, als wäre er völlig entsetzt: »Um Gotteswillen, nein! Ich habe keine Geduld mit Jugendlichen.« Er zwinkerte Tom zu. »Ich muss los. Ruf die Mutter des Jungen am besten gleich an. Aber nimm dich vor ihr in Acht: Die ist ziemlich frustriert und gräbt jeden an, der männlich ist und gut aussieht.«
Phil hängte sich seine Tasche um, rief noch kurz »Wir sehen uns übermorgen« über die Schulter und eilte ins Hörsaalgebäude.
Tom sah ihm nach, bemerkte zum tausendsten Mal, seit sie sich kannten, den knackigen Hintern und versteckte das Gesicht in den Händen, als Phil aus seinem Blickfeld verschwunden war. Seit sich Tom dazu bekannt hatte, auf Männer zu stehen, sah er überall diese Hintern, fantasierte von Schwänzen und vermutete an jeder Ecke Sex. Als ob Phil ihn plötzlich einfach so angraben würde! Das war doch völlig bescheuert. Er
war völlig bescheuert. Das musste ein Ende haben, sonst wurde er noch verrückt.
Was wollte er denn überhaupt? In dieser Stadt schien man jederzeit Sex haben zu können. Das hatte er bei seinen Ausflügen in die Szene festgestellt. Aber seine Fantasien spielten sich nur in seinem Kopf ab. Das war nicht real. Er legte eigentlich gar keinen Wert auf schnellen Sex, immer und überall, mit jedem. Aber wünschte er sich eine Beziehung? Es gab da noch so viele Möglichkeiten und Erfahrungen, die auf ihn warteten. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sich eine Beziehung anfühlte. Er dachte an seinen Mitbewohner Peter mit seiner Kathi. Na gut, das war aktuell kein gutes Beispiel. Dann eben Phil und Magdalena. Wobei sich durch diesen Gedanken sofort wieder Phils Bemerkung über den Sex nach dem Skifahren in Toms Hirn bohrte. Vielleicht war eine solide, monogame Beziehung zwischen Schwulen auch gar nicht möglich, weil doch alle immer wieder vom Sex mit dem nächsten Unbekannten träumten.
Tom zwang sich, seine Gedanken zu stoppen. Er betrachtete den Zettel in seiner Hand. Julian Schmitz
stand darauf. Und eine Festnetznummer, hinter der in Klammern der Name Patrizia
geschrieben war. Das war dann wohl die Mutter, vor der Tom sich in Acht nehmen sollte. Er atmete tief durch und zog sein Handy aus der Hosentasche.
Verwundert registrierte er, dass Finn geschrieben hatte. Er wollte wissen, ob Tom wieder in der Stadt sei und wann sie sich sehen würden. Weil Tom den Kontakt zu Finn lieber begrenzt hielt, um weitere Komplikationen zu vermeiden, löschte er die Nachricht ohne zu antworten. Jetzt musste er erst mal bei dieser Patrizia Schmitz anrufen.
Zehn Minuten später war er für den nächsten Tag mit ihr und vor allem ihrem Sohn Julian verabredet. Tom wusste grob, dass der Stadtteil, den sie ihm genannt hatte, im Westen der Stadt lag, in der Nähe des Stadions, und dass es dort eine Siedlung mit ziemlich betuchten Mitbürgern gab. Die Bezahlung stimmte jedenfalls: Fünfundzwanzig Euro pro Stunde. Und bei einer Verbesserung von Julians Noten in Deutsch und Englisch im nächsten Zeugnis bekäme er einen Bonus von zweihundertfünfzig Euro pro Note und Fach. In dem Fall sollte es sich doch lohnen, den Jungen ein bisschen zu triezen.
Ende der Leseprobe
Neugierig geworden?
Das zweite Buch rund um Tom, Joschi, Phil und Finn erscheint am 15 Dezember 2021.
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