SIEBTES KAPITEL

Die Nation

I. Wie entsteht und behauptet sich die Nation in Europa?

Die Nation ist das Produkt der französischen Revolution. Mit der Kanonade von Valmy betritt sie die Bühne der Geschichte.

In der Morgendämmerung des 20. September 1792, auf den vom Regen durchweichten Feldern und Hügeln in der Nähe des kleinen, im Marnetal gelegenen Dorfes Valmy, blickten die Revolutionssoldaten unter dem Doppelkommando der Generäle Dumouriez und Kellermann auf die viel besser bewaffneten, dichten Reihen der Armee des Herzogs von Braunschweig. Das antirepublikanische feudale Europa, zu Hilfe gerufen von französischen Aristokraten im Exil, angeführt von preußischen und österreichischen Marschällen, bereitet sich auf die Invasion Frankreichs vor. Es will Rache für den Affront vom 10. August 1792, als die Monarchie gestürzt wurde, will die Revolution niederschlagen, auf der vom Atlantik bis in die weiten Ebenen Ungarns alle Hoffnungen der unterjochten Völker ruhen.

Eine Kanonade, der rollende Donner der Granaten … und ein Schrei aus Zehntausenden von Kehlen: »Vive la nation!« An diesem Morgen triumphieren die Soldaten von Dumouriez und Kellermann in ihren schäbigen Uniformen und mit ihren zusammengewürfelten Waffen über die Rachegelüste des feudalen Europa.

Auf einer Anhöhe hinter den preußischen Linien beobachtet ein Mann von 43 Jahren das Geschehen. Der Mann ist Minister am Hof des Herzogs von Weimar und heißt Johann Wolfgang von Goethe. Er erkennt sehr klar, was vor sich geht. Tief beindruckt von dem Ereignis, tat er am Abend nach der Schlacht in einem Kreis von Offizieren den Ausspruch: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.«

Wie definierte sich die Nation in dem Augenblick, als diese Idee ganz Europa erfasste? Voltaire schrieb: »Die Nation ist eine Gruppe von Menschen auf einem bestimmten Territorium, die eine politische Gemeinschaft bildet und sich durch das Bewusstsein ihrer Einheit und ihres Willens, gemeinsam zu leben, auszeichnet.«125 Und weiter: »Die Nation ist eine juristische Person, die durch die Gesamtheit der Individuen gebildet wird, die einen Staat darstellen, aber sie ist verschieden von diesem und Träger des subjektiven Rechts der Souveränität.«126

In Europa und speziell in Frankreich ging die Nation aus einer Revolution hervor, aus einem Bruch mit der Feudalgesellschaft. Die Nation entstand mit der Etablierung der Warenökonomie, aus dem Kampf, den das neue, Handel treibende Bürgertum gegen die Feudalherren und gegen den König führte und der es an die Macht brachte. Das Bürgertum war »Ausdruck« der neuen Produktivkraft, die sich anschickte, der Gesellschaft ihr Gesetz aufzuzwingen, als das Kapital den Boden als wichtigste Produktivkraft ablöste. Obwohl die neue Klasse sehr heterogen war (Großbürgertum, das vom Kolonialprofit lebte, städtisches Industrie- und Handelsbürgertum, kleines und mittleres Bürgertum in der Provinz und so weiter), zog sie allen Vorteil aus dem Aufstand gegen die Aristokraten und den König. Dennoch stürmte nicht das Bürgertum die Bastille, und es begann auch nicht den gewaltsamen Kampf gegen das Feudalregime und setzte ihn fort; diesen Kampf fochten vielmehr die ärmsten Klassen aus. Das Bürgertum ergriff die Zügel der Revolution, als sie schon in vollem Gang war, und deutete sie gewissermaßen zu seinem eigenen Vorteil um. Es gab der Revolution eine neue Richtung, die seinen Klasseninteressen entsprach. Der Nationalstaat – das heißt der Staat, der seine Legitimität einzig aus dem Allgemeinwillen der Bürger ableitet – ist die Krönung dieses Prozesses. Am 21. Januar 1793 wurde der König hingerichtet.127

Jacques Berque vertritt die Auffassung, dass die französische Nation dem Nationalstaat, wie er Ende des 18. Jahrhunderts entstand, vorausging und mindestens schon tausend Jahre länger existierte.128 Aber der Streit ist letztlich nur ein semantischer: Im Mittelalter bedeutete Nation »eine Gruppe von Menschen derselben Herkunft«, das heißt, es ging allein um die Abstammung, der Begriff hatte keine politische Konnotation. Die Politik war damals ausschließlich Sache der Könige, Fürsten und Geistlichen – die Untertanen hatten keine oder ganz wenige politische Rechte. Die nationale Legitimität im modernen Sinn des Wortes – die Nation als Gruppe von Menschen, die auf einem bestimmten Territorium leben, unabhängig von ihrer Herkunft, und die eine politische Gemeinschaft bilden – entstand erst in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1789. In dieser Nacht wurde der übergesellschaftliche, göttliche Ursprung der Macht radikal bestritten. Der Dritte Stand konstituierte sich als Nationalversammlung und schaffte das Feudalsystem ab. Eine neue Macht betrat die Bühne: eben die, die aus dem Gesellschaftsvertrag der Bürger hervorgegangen war, aus dem allgemeinen Willen der Menschen, die, vermittelt durch Deputierte, alle Macht ausüben. Dieser Punkt ist wichtig: Die Nation duldet keine metasoziale Begründung. Sie ist, wie Voltaire es ausdrückt, »die Inhaberin des subjektiven Souveränitätsrechts«. Mit anderen Worten: Sie ist die ausschließliche Quelle der Legitimität aller Macht, die sie auf ihre Delegierten überträgt und die in ihrem Namen ausgeübt wird. Vor dem 4. August 1789 war Frankreich eine mächtige historische Gemeinschaft mit einem zentralistischen Staat, in dem sich im Verlauf eines sehr langsamen Prozesses die Bedingungen für die Entstehung einer Nation entwickelt hatten, aber es war noch keine Nation.

In ihren Anfängen von 1789 bis 1792 war die französische Nation so, wie sie Robespierre zufolge sein sollte: eine »große Nation«, eine dualistische Nation, die universelle Werte hervorbrachte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Dualistisch war sie, weil sie auch ein transnationales Ziel hatte: Sie wollte allen Völkern der Welt die Segnungen der in Frankreich errungenen Freiheiten bringen.

Sehen wir uns ein Beispiel an. Von 1801 bis 1803 tauchten in der Bucht von Belém (Brasilien) am Ufer des Solimões und des Amazonas seltsame Karawanen erschöpfter, zerlumpter Menschen mit blutigen Füßen aus dem Wald auf. Es waren die Überlebenden der Sklavenaufstände auf den Französischen Antillen. 1795 hatte eine verblüffende Nachricht aus Paris die Karibik erreicht: Die Sklaverei war abgeschafft, die Gleichheit aller Menschen verkündet, die Herren waren unter der Guillotine gestorben. Die flüchtigen Sklaven trugen die Nachricht von der Französischen Revolution, von den Menschenrechten und von der Abschaffung der Sklaverei bis in die abgelegensten Gebiete am Amazonas. Flüchtige kreolische Sklaven erzählten am Ufer des großen Stroms die Geschichte der blutigen Rebellion auf Haiti. Die Voodoo-Geister begleiteten sie. Diese schwarzen Schüler von Robespierre, ihre Frauen und Kinder wurden größtenteils von Kriegern der Indianergemeinschaften massakriert, die entlang des Flusses lebten. Die Überlebenden entfesselten 1830 am Rand des lusitanischen Reichs Brasilien den Cabanagem-Aufstand.

Unter dem Eindruck der Bedrohung durch das reaktionäre Europa ergriff die junge französische Republik die notwendigen Mittel zu ihrer Verteidigung. Aber sehr bald schon zeigte das siegreiche Bürgertum, diese von Robespierre gefeierte »universelle« Klasse, die den Anspruch erhob, den Völkern die Freiheit zu bringen, sein wahres Gesicht: das einer egoistischen, herrschenden Klasse, die wild entschlossen war, ihre jüngst errungenen Privilegien zu verteidigen und ihren Platz auf den europäischen Märkten zu erobern. Eine bemerkenswerte Konsequenz neben anderen: Auf den Antillen wurde 1803 die Sklaverei wieder eingeführt.

Ein Mann prangerte diese Perversion an: Gracchus Babeuf. Dieser Revolutionär hatte sich 1786 erstmals zu Wort gemeldet. Elf Jahre später, 1797, ließen die neuen Besitzenden ihn festnehmen, aburteilen und enthaupten. Die Eroberungskriege des Direktoriums und Napoleons dienten den Interessen des neuen nationalen Bürgertums, auch wenn es – im Namen der herrschenden Ideologie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – gleichzeitig zur Errichtung laizistischer, demokratischer Republiken in den eroberten Gebieten beitrug.

Die europäische Nation hat drei Hauptmerkmale:

Eine bestimmte Vision der Geschichte

Dem »Wunsch, gemeinsam zu leben«, dem »Bewusstsein der Einheit« (Voltaire), liegt eine gemeinsame Vision der Geschichte zugrunde, die die Mehrheit der Angehörigen der Nation teilt. Das Versprechen von Unabhängigkeit, Freiheit, Gerechtigkeit lässt in allen Bevölkerungsklassen den Wunsch entstehen, gemeinsam eine Nation zu bilden. Ein gemeinsames historisches Projekt, eine von allen geteilte Sicht der Existenz, der durchlebten Vergangenheit und des künftigen Lebens: Sie einen alle Klassen der Gesellschaft. In diesem Sinn ist das nationale Projekt klassenübergreifend und setzt sich über ethnische und regionale Schranken hinweg.

Aber die Klassenkämpfe gehen dennoch weiter. Die dominierende Klasse will sich des revolutionären Prozesses zu ihrem Vorteil bemächtigen und zugleich die Nation konsolidieren, die sie künftig lenkt. Dazu muss sie ihre eigene Klassenideologie mit der nationalen Ideologie verschmelzen. Mit anderen Worten: Sie muss den zur Nation gewordenen beherrschten Klassen ihre eigene Klassenideologie als nationale Ideologie aufzwingen und dabei die Werte integrieren, die ursprünglich einmal alle Klassen als Werte betrachteten. Sie werden damit zum Motto der Machtausübung des Bürgertums. Über den Eingängen der Schulen und Rathäuser steht bis heute die Devise: Liberté, Égalité, Fraternité.129

Der Ausdruck »zur Nation gewordene beherrschte Klasse« hat eine doppelte Bedeutung. Die Arbeiterklasse beispielsweise ist eine nationale Klasse insofern, als sie die Souveränität, die Unabhängigkeit und das Recht der Nation auf Selbstbestimmung verteidigt, energischer und kompromissloser als andere. So hat während der Nazi-Besatzung die französische Arbeiterklasse den höchsten Preis für den Widerstand bezahlt. Die Arbeiter stellten die weitaus größte Zahl der Untergrundkämpfer der FTP (Francs-Tireurs et Partisans). Aber die Bezeichnung »zur Nation geworden« enthält auch eine Einschränkung: Wenn ein Großteil der Arbeiter in Europa nach und nach die Notwendigkeit der internationalistischen, anti-imperialistischen Solidarität mit den Arbeitern in Lateinamerika, Afrika und Asien, mit allen, die das multinationale europäische Finanzkapital ausbeutet, aus dem Blick verliert, markiert der Begriff »zur Nation gewordene Arbeiterklasse« ganz offensichtlich einen Rückschritt, eine Verengung des Bewusstseins.

Überdies hat sich das Bürgertum der verschiedenen Nationen Europas im 19. und 20. Jahrhundert im Zeichen nationaler Ideologien gegenseitig bekämpft. Die Bewusstseinsinhalte einer Nation werden dann apologetisch in dem Maß, wie es für die herrschenden Klassen bedeutsam wird, die Bewusstseinsinhalte anderer Nationen radikal abzulehnen.

Von da an verwandelt sich die gemeinsame Sicht der Geschichte in eine bürgerliche Sicht, die den abhängigen Klassen gewaltsam aufgezwungen wird.

Doch der klassenübergreifende Charakter der Sicht auf die Geschichte, der für die Konstruktion und die Aufrechterhaltung der Nation notwendig ist, überdauert die verschiedenen Phasen der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Seit 1792 hat sich die kapitalistische Produktionsweise fundamental verändert. Dem bürgerlichen Kapitalismus, den ein auf Spekulation ausgerichtetes nationales Bürgertum einführte, folgte der koloniale Kapitalismus, gekennzeichnet durch eine rasche Überakkumulation und die militärische Beherrschung der ausländischen Märkte und der rohstoffreichen Regionen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte der Kapitalismus in Frankreich (wie andernorts) eine dritte entscheidende Veränderung: Das Finanzkapital war mittlerweile transnational geworden und übernahm das Ruder, multinationale Konzerne tauchten auf, der bürgerliche kapitalistische Staat verlor an Gewicht und das nationale Bürgertum mit ihm. Aus dem Bürgertum löste sich allmählich eine sehr kleine, aber sehr mächtige Oligarchie, die ihre überstaatliche, übernationale Macht aus der imperialistischen Profitakkumulation bezieht.

Die Nation erschien im Lauf dieser verschiedenen Phasen als eine klassenübergreifende feste Größe, insofern alle Klassen der nationalen Gesellschaft weiterhin in der Nation ihr Interesse verwirklicht fanden, sei es, indem sie die Nation beherrschten, sei es, dass die Nation für sie das Territorium darstellte, das es zu befreien galt, die Herausforderung der Souveränität, die erst noch wirklich erobert werden muss.130

Ein Territorium

Das Territorium ist vorgegeben. Die geografischen Grenzen der Nation sind das Ergebnis der historischen Entwicklung. Daraus entstehen immer wieder territoriale Interessenkonflikte zwischen den Nationen. Die Art und Weise, wie diese Konflikte die nationalen Gefühle anstacheln, ist das Maß dafür, welche Bedeutung die Vorstellung vom Territorium im kollektiven Über-Ich der Nation hat. Das Territorium steht im Mittelpunkt der nationalistischen ideologischen Denkfiguren. Es konkretisiert materiell, sinnlich – mit seinen Horizonten, seinem Klima, den verschiedenen natürlichen Produkten, mit seinen Bauten und Monumenten, seinen Erinnerungsorten und so weiter – das Gefühl der nationalen Identität. Die Mythen legitimieren es, die Ursprünge der Nation sind dort verankert. Das Territorium bewahrt, erinnert, feiert das Gedächtnis der Nation. Deshalb liebt jeder seine Landschaften, ist stolz auf seine Heimat.

Die Nationalhymnen besingen das Land, patriotische Gedichte beschwören es. Es ist ein klassenübergreifender Bewusstseinsinhalt ganz einfach deshalb, weil es im Bewusstsein aller Klassen, die in der Gesellschaft gegeneinander kämpfen, enthalten ist. La Colline inspirée, die Hymne auf die Schönheit Frankreichs, ist das Werk von Maurice Barrès, einem Anhänger der extremen Rechten.131 Jean Ferrat, der kommunistische Troubadour, besingt dasselbe Land, dieselben Landschaften in einem Liebesgedicht mit dem Titel Ma France (1969). Und Charles Trenet sang während der Besatzung in den Pariser Folies-Bergères Douce France (1941), und der ganze Saal stimmte in den Refrain wie in eine Hymne auf die Nation mit ein. Mit anderen Worten: Das französische Territorium prägt, wenn auch je nach Klassen- und Generationszugehörigkeit unterschiedlich, die kollektive Vorstellungswelt aller Franzosen. Das Territorium besitzt wahrscheinlich von allen Bewusstseinsinhalten, die das nationale Bewusstsein bilden, die stärkste integrative Kraft.

Eine Sprache

Die Sprache ist das privilegierte Instrument, mit dem die Nation ihr neues Bewusstsein durchsetzt. Wie das Territorium existiert die Sprache bereits vor der Nation, aber sie ist nicht so vorgegeben wie das Territorium. Nach den Kämpfen zwischen den herrschenden Klassen, die aus gegensätzlichen historischen Gemeinschaften hervorgegangen sind, wurde die Sprache der siegreichen Gemeinschaft über alle Gemeinschaften hinweg die dominierende Sprache. Aber erst die Nation setzt die nationale Sprache durch. Ihre allgemeine Verbreitung ist das Ergebnis der nationalen Integration, eines historischen Prozesses, der durch den Zwang der die Nation dominierenden Klasse gesteuert wird.

Die nationale Sprache setzt sich mit der symbolischen Gewalt durch, die aus dem kollektiven Über-Ich der Nation erwächst, aus seinen Mythen und Gesetzen, aus seiner Pädagogik, seinem Wunsch nach Effizienz im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Verkehr. Sie ist genormt, hat ihre Akademien und Wörterbücher, ihre Wächter und Zensoren. Sie wird aufgrund eines besonderen Status zur nationalen Sprache erklärt. Sie ist ein Produkt der Macht. In Frankreich beispielsweise hat die zentralistische Monarchie das Idiom der Loire-Gegend auf die verschiedenen Regionen des Landes ausgedehnt und allgemein verbreitet. Aber erst die Nation hat, oft gewaltsam, das Französische als gemeinsame Sprache bei allen Schichten der Gesellschaft durchgesetzt. Die zwangsweise sprachliche Vereinigung war nach 1789 für den Apparat eines zentralistischen Nationalstaats das notwendige Instrument der nationalen Bildung, einer Schule für alle. Und das gilt immer noch, auch wenn die Forderungen nach Autonomie und Freiheit in den Regionen, die sich gegen die Zentralmacht auflehnen, in den alten Sprachen der französischen Provinzen erhoben werden. Die bretonische (keltische) Sprache in der Bretagne, das Provençal in der Provence, die Langue d’Oc im Südwesten Frankreichs, das Elsässische im Elsass erleben derzeit eine lebhafte Renaissance, ohne die Nationalsprache zu gefährden.

Alle Nationen sind definitionsgemäß multiethnisch – eine Folge der Wechselfälle der Geschichte, von Wanderungsbewegungen, Entdeckungen und Eroberungen, von Austausch aller Art, Mischehen –, laizistisch und bestehen aus mehreren Klassen. Ihre gefährlichsten Feinde sind die Rassisten, die Antisemiten, die Fremdenfeinde und die religiösen Fundamentalisten.

II. Die rassistische Bedrohung

Seit einer Generation hat sich die ideologische Landschaft in Europa radikal verändert: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind wieder da. Eine Mehrheit der Menschen hält die Äußerung entsprechender »Meinungen« für ebenso legitim wie andere Meinungen auch. Heute vereinen überall auf dem Kontinent fremdenfeindliche politische Parteien und Bewegungen bei absolut freien und demokratischen Wahlen und Volksabstimmungen immer mehr Stimmen auf sich. In Frankreich ist der Front National auf dem besten Weg, zur stärksten politischen Kraft zu werden. In Italien beherrscht die Lega Nord132 die Regionen Veneto, Lombardei und teilweise Piemont. Der Vlaams Belang (Flämisches Interesse), ehemals Vlaams Blok, dominiert in einer großen Stadt wie Antwerpen und den umliegenden wohlhabenden Regionen. In der Schweiz stellt die Schweizerische Volkspartei (SVP) die größte Fraktion in der Bundesversammlung, dem Parlament; im Februar 2014 hat ihre Initiative gegen den freien Personenverkehr zwischen der Europäischen Union und der Schweiz bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit an Ja-Stimmen bekommen.133 In den Niederlanden, in Bulgarien, der Slowakei, in Dänemark und England erleben Bewegungen der extremen Rechten einen Aufschwung. In Ungarn regiert eine Koalition rechtsextremer Parteien unter der Führung von Viktor Orbán.

In den Kirchen und Glaubensgemeinschaften der drei monotheistischen Religionen gewinnen fundamentalistische Strömungen mit jedem Jahr mehr Einfluss.

Die Ursachen für den plötzlichen Ausbruch und das stetige Anwachsen rechtsextremer, fremdenfeindlicher, rassistischer, separatistischer, laizistischer oder religiöser Bewegungen in den demokratischen Gesellschaften Europas sind vielfältig und vielschichtig.

Eine der wichtigsten Ursachen ist sicher psychologischer Natur. Die weltweite Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals, die Existenz eines Weltmarkts, der nur seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die als »Naturgesetze« hingestellt werden, der zum Dogma erhobene Wettbewerb zwischen den Menschen und zwischen den Nationen, das faktische Verschwinden eines öffentlichen Diskurses, der Werte wie Solidarität, Allgemeinwohl, öffentliche Dienstleistung und soziale Gerechtigkeit, dazu die konkrete Verunsicherung der individuellen Existenzen: All das provoziert ein Gefühl persönlicher Unsicherheit, eine tiefe, anhaltende Ratlosigkeit bei Männern und Frauen in den kapitalistischen Warengesellschaften. Claude Lévi-Strauss hat diese Reaktion als neues mal du siècle bezeichnet: »Der Zusammenbruch jahrhundertealter Gewohnheiten, das Verschwinden von Lebensweisen, das Zerbrechen althergebrachten Zusammengehörigkeitsgefühls, all das verbindet sich häufig mit einer Identitätskrise.«134

Alle fremdenfeindlichen Bewegungen der extremen Rechten haben unabhängig von ihren geografischen und historischen Ursprüngen eines gemeinsam: Sie suchen sich Sündenböcke. Sie setzen sich über die analytische Vernunft hinweg und machen den »Anderen«, den »Fremden« für alle Störungen, Traumata und Ängste, die in der Gesellschaft entstehen, verantwortlich. Amin Maalouf schreibt dazu vor dem Hintergrund der schmerzhaften Erfahrung des Bürgerkriegs in seinem Heimatland, dem Libanon: »Im Zeitalter der Globalisierung mit seinen schwindelerregenden Umwälzungen, die uns alle erfassen, ist ein neues Verständnis von Identität vonnöten. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, Milliarden von ratlosen Menschen nur die Wahl zwischen einem übertriebenen Beharren auf ihrer Identität und dem Verlieren jeglicher Identität, zwischen Fundamentalismus und Traditionsverlust zu lassen.«135

Rassismus ist ein absolutes Verbrechen, die höchste Form des Hasses, die endgültige Negierung dessen, was eine Nation ausmacht. Ein Schwarzer, ein Araber, ein Jude, die gehasst werden, weil sie schwarz, arabisch und jüdisch sind, können dem Hass nicht entgehen, weil sie nicht aufhören können zu sein, was sie sind, in den Augen des Rassisten wie in ihren eigenen Augen: schwarz, arabisch, jüdisch. Die allgemein anerkannte Definition von Rassismus lautet so, wie sie die UNESCO von Claude Lévi-Strauss übernommen hat: »Der Rassismus ist eine Doktrin, die in den intellektuellen und moralischen Merkmalen, die einem Komplex von Individuen zugeschrieben werden (wie immer man diesen Komplex definiert), die zwangsläufige Auswirkung eines gemeinsamen genetischen Erbguts zu sehen behauptet.«136 Das ist der Rassismus des Nazis, des Antisemiten, des Buren in Südafrika, des Ku-Klux-Klan, des ewigen Faschisten. Und das absolute Gegengift gegen den Rassismus ist das Nationalbewusstsein.

Wer dem Gesellschaftsvertrag im Sinn von Rousseau137 beitritt und die Gesetze der Republik respektiert, ist Teil der Nation.

Machen wir uns einen Begriff vom wunderbaren zivilisatorischen Reichtum der europäischen Nationen, der aus tausend kulturellen Beiträgen als Folge der unaufhörlichen Wanderungen entstanden ist, der sich konflikthaften Akkulturationen ebenso verdankt wie der Gesamtheit der historischen, linguistischen, literarischen und künstlerischen Erbschaften, dem Austausch und den Vermischungen?

Roger Bastide spricht von einem savoir savoureux (köstlichem Wissen), das durch die einzigartige Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kulturen und Erinnerungen vermittelt wird. Neben und unterhalb der Hochkultur existiert – wie ein mächtiger unterirdischer Strom – die Volkskultur. Sie entsteht durch Vermengung, durch Vermischung der Völker, durch zufälligen, unerwarteten und unvorhersehbaren Austausch, durch die spontanen Wahrnehmungen eines jeden. Sie wohnt dem nationalen Bewusstsein inne und bereichert es.

Die Ansammlung einzigartiger kultureller Zugehörigkeiten in einer Gesellschaft und die vielfältigen Zugehörigkeiten, die jeder in sich trägt, bilden den großen Reichtum der Nationen und sind das Zeichen der großen Kulturen. Der Terror, den rassistische Parteien und Bewegungen verbreiten, die nur eine Identität kennen, bedroht diesen Reichtum, das Zeichen der Zivilisiertheit.138

Man könnte auf die Nation übertragen, was Fernand Braudel, der geniale Chronist des Mittelmeerraums, über die Kultur gesagt hat: »Lebendig sein heißt für eine Kultur, fähig zu sein zum Geben, aber auch zum Nehmen, zur Anleihe […] Doch genauso gut erkennt man eine große Kultur auch an dem, was sie zu übernehmen sich weigert, woran sie sich nicht anpassen will, was sie aus dem Angebot an fremden Einflüssen auswählt, die ihr häufig aufgezwungen würden, wenn dem nicht Wachsamkeit oder schlicht Unvereinbarkeiten von Temperament und Appetit entgegenstünden.«139 In der Realität schließen sich verschiedene Formen des Austauschs und des Widerstands innerhalb einer Nation nicht aus. Wenn man einen Gegensatz daraus konstruiert, wie es die Parteien der extremen Rechten tun, führt das zum Niedergang, zur Sterilität. Die Besonderheit einer jeden Nation ergibt sich zwar aus einer gewissen Abgrenzung, aber ohne Austausch und ohne bereichernde Anleihen bei anderen erstarrt die Nation und geht zugrunde.

Ich habe es bereits gesagt: Gegen den unerbittlichen Zwang der Globalisierung erhebt sich der Mensch. Er weigert sich, mit einer schlichten Information in einem elektronischen Kreislauf gleichgesetzt zu werden. Er begehrt auf und wehrt sich. Aus den Trümmern dessen, was ihm von der Geschichte geblieben ist, von alten Glaubensüberzeugungen, von Erinnerungen, von aktuellen Wünschen, bastelt er sich eine Identität, in der er Zuflucht sucht und sich vor der totalen Zerstörung zu schützen versucht. Die homogene Identität einer kleinen Gruppe, die manchmal ethnisch definiert ist und manchmal religiös, aber fast immer rassistische Züge trägt, ist ein solcher Zufluchtsort. Diese »Bastelei« ist Frucht der Ratlosigkeit und öffnet politischen Manipulationen Tür und Tor. Unter dem Vorwand des Rechts auf Selbstverteidigung rechtfertigt der Rassismus Gewalt.

Die Mono-Identität ist das genaue Gegenteil der Nation, einer demokratischen Gesellschaft, einer lebendigen, zur Entwicklung fähigen Gesellschaft, die aus der Nutzung unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten und aus freien Stücken übernommener kultureller Vermächtnisse entstanden ist.

Die Nation, die der neoliberalen Ideologie und der Privatisierung der Welt ausgeliefert ist, droht zu sterben. Alain Touraine hat dafür dieses eindrucksvolle Bild gefunden: »Zwischen dem weltweiten, globalisierten Markt und den unzähligen fundamentalistischen Bewegungen an seinen Rändern befindet sich ein großes schwarzes Loch. In diesem Loch drohen der allgemeine Wille, das öffentliche Interesse, der Staat, die Werte, die öffentliche Moral, die Beziehungen zwischen den Menschen zu versinken, kurzum alles, was die Nation ausmacht.«140

III. Die misslungene Dekolonisation

Der Genfer Park von Mon Repos ist ein mit uralten Zypressen bestandener öffentlicher Garten, der sich längs des linken Ufers der Genfer Seebucht erstreckt. Die verwunderten Anwohner des benachbarten Quartiers Les Pâquis wohnen regelmäßig einem ziemlich erstaunlichen Spektakel bei: Ein korpulenter, hochgewachsener schwarzer Mann mit traurigen Augen bewegt sich – halb gehend, halb laufend – mit keuchendem Atem über die Uferpromenade, gefolgt von vier jungen Genfer Kantonspolizisten, einem Tross schwarzer Leibwächter und einigen ebenfalls keuchenden schwarzen Diplomaten. Es ist der morgendliche Trainingslauf des amtierenden Präsidenten der Republik Kamerun, Paul Biya. Biya ist einer der schillerndsten Satrapen des Kontinents, ein willfähriger Söldner, insbesondere der französischen Konzerne.

Seit über dreißig Jahren sorgen die französischen Geheimdienste dafür, dass die »Wahlen« im gewünschten Sinn ablaufen. 1984 wurde Paul Biya zum ersten Mal mit 99 Prozent der Stimmen »gewählt«. Stéphane Fouks, ein persönlicher Freund und politischer Verbündeter von Manuel Valls (seit März 2014 französischer Premierminister) ist heute für Biyas internationales Erscheinungsbild zuständig. Auf der Liste des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen rangiert Kamerun auf Platz 131. Die durchschnittliche Lebenserwartung – von Frauen und Männern zusammengerechnet – beträgt 52 Jahre (gegenüber 80 Jahren in Frankreich). Weniger als 30 Prozent der Menschen haben regelmäßig Zugang zu sauberem Trinkwasser. 36,8 Prozent leiden unter dauerhafter, schwerer Unterernährung.

Auf der anderen Seite besitzt Kamerun Erdöl, Erze und landwirtschaftliche Produkte im Überfluss.

Biya und seine Freunde lieben Genf. Er hält sich mehrfach im Jahr dort auf und wohnt dann bis zu 44 Tage auf zwei eigens für ihn reservierten Etagen des Luxushotels Intercontinental. 44 Tage ist der maximale Zeitraum, für den nach der Verfassung von Kamerun die Macht verwaist sein darf. Die Gebühren, die dafür fällig werden, dass die Präsidentenmaschine auf dem Flughafen Genf-Cointrin stehen darf, belaufen sich auf 11000 Euro – pro Tag.

Die Soziogenese der außereuropäischen Nationen, insbesondere der Nationen in Afrika, unterscheidet sich radikal von der europäischer Nationen.

Tatsächlich leben heute sehr wenige afrikanische Völker, vor allem südlich der Sahara, eine authentische kollektive Existenz. Das vorherrschende soziale Gebilde im heutigen Schwarzafrika ist die Protonation. Das griechische Wort protos (erster) bedeutet hier embryonal, rudimentär, unvollendet, fragil. Die Protonation ist keine Etappe auf dem Weg der Nationenentstehung, und sie ist auch keine Fehlform der vollendeten Nation, die in ihrer Entwicklung ins Stocken geraten ist. Die Protonation ist ein gesellschaftliches Gebilde sui generis. Sie ist eine reine Schöpfung des Imperialismus.

Bevor wir die afrikanischen Protonationen näher untersuchen, wollen wir sehen, wie und warum die Kolonialreiche zusammengebrochen sind.

Die Entkolonialisierung der afrikanischen Völker, ist ein Prozess, der vor mehr als fünfzig Jahren begonnen hat und bis heute nicht zu Ende ist. Bestimmte afrikanische Völker wie die Sahrauis in Westafrika leben, wie wir gesehen haben, immer noch unter kolonialer Besatzung. Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir uns den Prozess der Auflösung der Kolonialreiche näher anschauen.

Erste Kausalkette: die Bedingungen der Kämpfe gegen die Kolonialherren und das Desinteresse der Kommunistischen Internationale für diese Kämpfe. Beim sechsten Komintern-Kongress in Moskau 1928 verhalf die Sowjetunion – auf die sich damals alle Hoffnungen auf Befreiung richteten – einer streng dogmatischen These zum Triumph. Stalin zufolge war der Kolonialismus nur ein Epiphänomen. Der Aufbau des Sowjetstaats, die Doktrin vom »Sozialismus in einem Land« als nationale Bastion einer Revolution, die die gesamte Welt erfassen sollte, musste absolute Priorität haben. Da Kolonialismus und Imperialismus notwendige Entwicklungsstadien der kapitalistischen Gesellschaft seien, werde der Zerfall dieser Gesellschaft das Problem lösen. Mit dem Triumph der proletarischen Revolution in den westeuropäischen Gesellschaften werde ipso facto die Kolonialherrschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika enden.

Innerhalb der Komintern gab es ein Gremium, das damit beauftragt war, die revolutionäre Arbeit bei den Schwarzen in Afrika und in der Diaspora zu koordinieren: das »Negerbüro«. Die besten afrikanischen Aktivisten wurden Mitglieder der sowjetischen kommunistischen Partei. Bis zu ihrem endgültigen Bruch mit der III. Internationale 1935 arbeiteten sie in Organisationen wie der Liga gegen den Imperialismus, der Liga zur Verteidigung der Negerrasse und der Liga für die Befreiung des Orients, deren revolutionäre Ausstrahlung bis in die Karibik und in die Vereinigten Staaten reichte.

Ich nenne zwei Beispiele: George Padmore, ein Aktivist von den englischen Antillen, wurde Delegierter der Komintern in China. Wie alle revolutionären Kämpfer aus Afrika brach er 1935 mit der Komintern.

Beim 5. Panafrikanischen Kongress in Manchester 1945 stellte er seine Erfahrung und seine Intelligenz Kwame Nkrumah zur Verfügung. In der Folgezeit spielte er eine entscheidende Rolle bei der Organisation des ghanaischen Unabhängigkeitskampfs und beim Aufbau des ersten Nationalstaats in Afrika, Ghana, dessen Unabhängigkeit 1957 proklamiert wurde.141 Lamine Senghor aus Kaolack, der als Senegalschütze am Ersten Weltkrieg teilnahm, trat 1924 im 13. Pariser Arrondissement als kommunistischer Kandidat bei der Abgeordnetenwahl an. Er wurde Präsident des Komitees für die Verteidigung der schwarzen Rasse. Sein Tagebuch La Voix des nègres (Die Stimme der Neger) übte auf eine ganze Generation von Kämpfern gegen den Kolonialismus großen Einfluss aus. Zusammen mit Gorki, Nehru, Messali Hadj, Barbusse und Albert Einstein wurde er in seinem Todesjahr 1927 beim Kongress in Brüssel ins Büro der Liga gegen den Imperialismus gewählt.142

1945 waren die Rahmenbedingungen endlich so, dass die nationalen Befreiungskämpfe wieder aufgenommen werden konnten. Die Delegierten der Bewegungen aus den französischsprachigen Ländern Afrikas trafen sich in Bamako zur Gründungsversammlung der Afrikanischen Demokratischen Sammlung (Rassemblement démocratique africain, RDA), bei der sie die Grundlagen für eine einheitliche Befreiungsfront des gesamten Kontinents legten. Die Aktivisten aus den englischsprachigen afrikanischen Ländern wiederum versammelten sich im selben Jahr zum 5. Panafrikanischen Kongress in Manchester. Unter dem Vorsitz von Jomo Kenyatta, unterstützt von Kwame Nkrumah, arbeiteten sie ein detailliertes Programm aus, wie der panafrikanische Befreiungskampf in Gang gebracht werden sollte. Aber im Verlauf der Unabhängigkeitskämpfe wurden die Sektionen der RDA (von der Elfenbeinküste, aus Guinea, Mali und so weiter) allesamt zu »nationalen« Parteien. Wenn man die Ursachen für diesen Rückzug auf sich selbst betrachtet, darf man ganz sicher den Druck aus den Metropolen nicht außer Acht lassen. So setzte beispielsweise 1956 Gaston Defferre, damals Minister für die überseeischen Gebiete in der französischen Regierung, ein Rahmengesetz durch (»loi-cadre Defferre«), das den Kolonialgebieten innere Autonomie bringen sollte. Jedes Gebiet bekam ein Parlament und eine eigene Regierung. Tatsächlich unterlief diese »fortschrittliche« Maßnahme, die ab 1957 angewendet wurde, das Projekt von Bamako und sprengte die kontinentweite antikolonialistische Front der RDA. In dem Zusammenhang muss noch der Verrat des Präsidenten der RDA, Félix Houphouët-Boigny erwähnt werden, der der Studentenvereinigung innerhalb der RDA unter Führung von Cheikh Anta Diop Widerstand leistete und sich hartnäckig allen Forderungen nach Unabhängigkeit widersetzte.

Heute ist Afrika mit seinen 54 Staaten der am stärksten zersplitterte Kontinent des Planeten. Die Projekte von Bamako und Manchester, der Traum von der Befreiung des afrikanischen Kontinents, der panafrikanischen Erhebung, sind gescheitert. Und drei Viertel der afrikanischen Nationen verfügen heute über keinerlei echte Souveränität.

Die zweite Kausalkette beim Sturz der Kolonialreiche und der Entkolonialisierung der afrikanischen Völker hat ihren Ursprung mitten im Zweiten Weltkrieg und geht auf eine Initiative von Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill zurück.

Am 14. August 1941 trafen sich der britische Premierminister Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt auf dem Kriegsschiff USS Augusta, das vor Neufundland kreuzte. Roosevelt hatte das Treffen vorgeschlagen. In seiner »Rede über die vier Freiheiten« hatte er am 6. Januar 1941 vor dem Kongress in Washington die Freiheiten aufgezählt, die er, wie er versicherte, weltweit durchsetzen wollte: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not (freedom from want) und Freiheit von Furcht (freedom from fear).

Die »vier Freiheiten« gaben die Grundlage für die Atlantikcharta ab, die am 14. August 1941 auf der USS Augusta beschlossen wurde. Dies sollte die Geburtsstunde einer neuen internationalen Ordnung sein. Hören wir noch einmal die Artikel der Charta:

»1. Unsere Länder streben nicht nach territorialer Expansion.

2. Sie wünschen keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen.

3. Sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.

4. Sie werden, ohne ihre eigenen Verpflichtungen außer Acht zu lassen, für einen freien Zutritt aller Staaten, der großen wie der kleinen, der Sieger wie der Besiegten, zum Welthandel und zu jenen Rohstoffen eintreten, die für deren wirtschaftliche Wohlfahrt vonnöten sind.

5. Sie erstreben die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem Gebiete, eine Zusammenarbeit, deren Ziel die Herbeiführung besserer Arbeitsbedingungen, ein wirtschaftlicher Ausgleich und der Schutz der Arbeitenden ist.

6. Sie hoffen, dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen.

7. Dieser Friede soll allen Völkern die freie Schifffahrt auf allen Meeren und Ozeanen ermöglichen.

8. Sie sind von der Notwendigkeit überzeugt, dass aus praktischen wie aus sittlichen Gründen alle Völker der Welt auf den Gebrauch der Waffengewalt verzichten müssen. Da kein Friede in Zukunft aufrechterhalten werden kann, solange die Land-, See- und Luftwaffen von Nationen, die mit Angriff auf fremdes Gebiet gedroht haben oder damit drohen können, zu Angriffszwecken benutzt werden können, halten sie bis zur Schaffung eines umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit die Entwaffnung dieser Nationen für notwendig. Ebenso werden sie alle Maßnahmen unterstützen, die geeignet sind, die erdrückenden Rüstungslasten der friedliebenden Völker zu erleichtern.«

Ein paar Monate vor seinem Tod bekräftigte Roosevelt mit eindrucksvollen Worten die Entscheidung, die er zusammen mit Churchill getroffen hatte: »Ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit kann es keine echte persönliche Freiheit geben. Menschen, die Sklaven der Notwendigkeit sind, sind keine freien Menschen. Völker, die hungern und keine Arbeit haben, sind der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht werden. Heute gelten diese Wahrheiten als selbstverständlich. Wir brauchen eine zweite Erklärung der Menschenrechte, mit der Sicherheit und Wohlstand für alle ein neues Fundament bekommen, unabhängig von ihrer Klasse, Rasse und ihrem Glauben.«143

Die Atlantikcharta von 1941 verurteilte eindeutig und ein für allemal jede Form der Kolonialherrschaft in Afrika und überall auf der Welt. Weil Winston Churchill von seinem amerikanischen Verbündeten abhing, musste er notgedrungen diese Verurteilung, schlimmer noch: diesen Totenschein für das britische Weltreich unterschreiben.

In der Atlantikcharta war auch zum ersten Mal von der Einheit aller Nationen der Welt die Rede. Die Weltorganisation mit dem ergreifenden Namen »Vereinte Nationen« wurde nach dem Tod des Visionärs Roosevelt im Juni 1945 in San Francisco gegründet. Eines ihrer von Anfang an aktivsten und einflussreichsten Organe ist der Treuhandrat (Trusteeship Council), der den Auftrag bekam, die Auflösung der Kolonialreiche und den Weg der Kolonialvölker in die Unabhängigkeit zu steuern – gewissermaßen Entkolonialisierung durch die Kolonialherren selbst.

Die dritte Kausalkette hängt offenkundig damit zusammen, dass die westlichen Kriegsparteien im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Soldaten aus Übersee eingesetzt haben. Die Soldaten aus Vietnam, Kambodscha und Indien, vor allem aber die Senegalschützen (die Bezeichnung wurde zum Oberbegriff für alle Soldaten aus Schwarzafrika), die marokkanischen Goumiers und andere, die im Allgemeinen heldenhaft gekämpft und entsetzliche Verluste erlitten hatten, erkannten schlagartig die Absurdität der Situation: Sie hatten schreckliches Leid ertragen, um Europa von der Nazi-Pest zu befreien, und nun kehrten sie nach Hause unter das koloniale Joch zurück! Die Mehrheit dieser Kämpfer bildete die Avantgarde der neuen kolonialen Rebellenbewegungen. Ahmed Ben Bella, der zusammen mit Kameraden den Aufstand an Allerheiligen 1954 organisierte und 1962 erster Präsident des befreiten Algerien wurde, hatte 1944 zu den Helden der Schlacht um Monte Cassino gehört, in der die Armee von General Juin sich durch die deutschen Linien nördlich von Neapel kämpfte und auf Rom vorrückte. General de Gaulle hatte Ben Bella persönlich für seine Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet.

Eine vierte Ursache für die Implosion der Kolonialreiche hat schließlich mit den schrecklichen Verheerungen – Hunger, materielle Zerstörung, Verluste an Menschenleben, wirtschaftlicher Ruin – zu tun, die die nationalsozialistische Aggression in den Ländern Europas anrichtete. Als die Schlächterei des Zweiten Weltkriegs vorüber war, hatten weder Frankreich noch Belgien, noch England – um nur diese drei Kolonialmächte zu nennen – die Kraft, ihre Reiche zu konsolidieren. 1947 wurde der indische Subkontinent unabhängig. Die französische Kolonialstreitmacht wurde 1954 im Kessel von Diên Biên Phu aufgerieben. In Afrika eröffnete der Sieg des aufständischen Volks von Algerien den Weg für die Befreiung aller frankophonen Staaten. Die britischen Soldaten erlitten im Hochland von Kenia, zwischen dem Kilimandscharo und dem Berg Kenia, trotz äußerst grausamer Verbrechen (wozu insbesondere die systematische Entmannung ihrer Gefangenen gehörte) durch die Mau-Mau-Kämpfer eine Niederlage nach der anderen.

IV. Das Versagen der Eliten

Kommen wir nun zu der Frage, warum in Schwarzafrika die Dekolonisation weitgehend gescheitert ist und warum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Nationen, sondern nur Protonationen entstanden sind.

In Luanda (Angola), in einer wunderschönen Bucht am Südatlantik gelegen, stehen unermessliches Elend und aggressiver Luxus unmittelbar nebeneinander. Die Paläste der Generäle, Minister und der Herrscherfamilie ragen mitten aus dem trostlosen Meer der Wellblechhütten der Elendsquartiere, genannt mukeke. Verseuchtes Wasser, Unterernährung und Epidemien töten in Angola jährlich Zehntausende von Menschen. Angola ist nach Nigeria der zweitgrößte Erdölproduzent südlich der Sahara. Zehn meist staatliche Minen beuten 76 Prozent der Diamanten aus. Die Befreiungsarmee und die Widerstandsfront des MPLA (Mouvement Populaire de la Libération d’Angola), die in den 1960er- und 1970er-Jahren gegen Portugal die Unabhängigkeit erkämpften und im November 1975 vor Luanda – dank der Hilfe kubanischer Soldaten – das südafrikanische Expeditionskorps in die Flucht geschlagen hatten, sind heute korrupte Banden. Die großen Gründerväter – Agostino Neto, der Poet Mario de Andrade, Lucio Lara – sind längst tot oder verstoßen (Lucio Lara). Die absolute, uneingeschränkte Macht liegt seit über dreißig Jahren in den Händen des in Russland ausgebildeten und mit einer Russin verheirateten Ingenieurs Eduardo dos Santos und seiner Verwandten.

Gestohlen wird mittels eines undurchsichtigen Geflechts von Offshore-Gesellschaften. 2013 verlangte der IWF Auskunft über den Verbleib von 33,4 Milliarden US-Dollar, die als Kredit an Angola gegangen und daraufhin unauffindbar verschwunden waren. Diamanten werden meist direkt in den Minen geraubt oder von den Garimpeiros (illegale Diamantenschürfer) erpresst.

Diamanten sind international nur handelbar, wenn sie durch ein Exportzertifikat legitimiert sind. Die angolanische Herrscherfamilie und ihre Komplizen haben mit dem schweizerischen Zoll ein fruchtbares Arrangement gefunden: Die geraubten Diamanten werden ins riesige Zollfreilager (Ports Francs et Entrepôts) in Genf eingeliefert. Dann werden sie an Scheinfirmen oder Strohmänner ausgeliefert – »entzollt« – und kommen auf den Markt. Die Republik Genf, in deren Boden bis dato noch nie ein Diamant gefunden wurde, gehört somit zu den größten »Diamantenproduzenten« der Welt.

Der koloniale Besatzer, das multinationale Finanzkapital, die politische, wirtschaftliche und militärische Aggression haben die präkapitalistischen Produktionsweisen zerstört, die politischen Ordnungen der verschiedenen Ethnien durcheinandergebracht, soziale Unterschiede verschärft, »nationale« Grenzen oktroyiert, die den Trennlinien folgten, die bei der Berliner Konferenz 1885 gezogen wurden, als die westlichen Mächte Afrika unter sich aufteilten. Die afrikanische Kompradoren-Bourgeoisie144, die aus der Entkolonialisierung hervorging, verdankt ihre Existenz dem kolonialen Pakt und allein dem Willen der Konzerne. Anders als die Bourgeoisie in Europa ist sie nicht durch den Kampf gegen eine einheimische Feudalklasse entstanden und definiert sich nicht im Gegensatz zu ihr. Außerdem baut die Protonation nicht auf einem alternativen Bewusstsein auf, das mit dem System der symbolischen Gewalt des transkontinentalen Finanzkapitals bricht. Vielmehr neigt diese Bourgeoisie stark zur Nachahmung, zur Reproduktion von Konsumgewohnheiten, die aus den kolonialen Metropolen stammen, zur Übernahme fremder Muster. Doch obwohl die politischen Führer der Protonationen in das weltweite imperialistische System integriert sind und damit die finanzielle und wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Länder zulassen, versuchen sie ihren eigenen Platz im imperialistischen Geflecht zu finden.

Bei der Ausarbeitung ihrer Selbstbilder bedienen sie sich denkbar wirrer, konfuser Theorien: Diese Bilder und Symbolsysteme reichen von der »Authentizitäts«-Theorie des Marschalls Joseph-Désiré Mobutu bis zur »Lord’s Resistance Army« des Uganders Joseph Kony.

Die Protonation ist das Ergebnis einer besonderen Wendung in der Geschichte des Imperialismus: Sie entstand durch die Umorientierung, die Umstrukturierung, die neue Ausbalancierung des imperialistischen Systems am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals entschieden die imperialistischen Mächte, den »autochthonen« Klassen, die sie selbst geschaffen hatten und die sie nach wie vor mit symbolischer Gewalt beherrschten, formell die Macht zu übertragen.

Ein kompliziertes Gewirr von Verträgen über die »gemeinsame Sicherheit« garantiert den Fortbestand der Regime, die bei der »Unabhängigkeit« der betreffenden Staaten installiert wurden.

Konkret bedeutet dies, dass das Kompradoren-Bürgertum, dem die Kolonialherren die formelle Macht übertragen haben, sich überall, von Bangui bis Douala, von Nairobi bis Kampala, im Wesentlichen gleich verhält. Frantz Fanon sagt darüber: »Trotzdem fordert auch die ›nationale‹ Bourgeoisie die Nationalisierung der Wirtschaft und des Handels, weil nationalisieren für sie nicht heißt, die gesamte Wirtschaft in den Dienst des Volkes stellen, alle Bedürfnisse der Nation befriedigen, den Staat an neuen sozialen Verhältnissen ausrichten, um deren Entwicklung zu fördern. Nationalisierung bedeutet für sie ganz einfach die Übertragung der aus der Kolonialperiode ererbten Vorrechte auf die Autochthonen.«145

Frantz Fanon hat recht: Charakteristisch für die Machtausübung der »Eliten«, die in der Vergangenheit vom Kolonialherren installiert wurden und heute von den Oligarchien des transkontinentalen Kapitals benutzt werden, ist eine permanente Vermischung von individuellem Vorteil und Gemeinwohl. In den meisten Ländern des afrikanischen Kontinents gründet die Vorstellung von »nationalen« politischen Führern auf dieser Vermischung mit der Folge, dass sie sich zuverlässig persönlich bereichern können: Denis Sassou-Nguesso, seit mehr als einer Generation Präsident von Kongo-Brazzaville, geht mit den Abgaben, die der französische Erdölkonzern ELF dafür zahlt, dass dieser die Ölvorkommen im Meer vor Pointe-Noire ausbeuten darf, so um, als wäre es sein persönliches Einkommen und das seiner Familie. Zwei renommierte Zeitschriften haben die Vorwürfe untersucht, Forbes aus den Vereinigten Staaten und Venture aus Nigeria. Im Jahr 2014 gibt es auf dem afrikanischen Kontinent 55 Dollarmilliardäre, während 35,2 Prozent der Bevölkerung unter anhaltender schwerer Unterernährung leiden. Die meisten Milliardäre stehen in engen Beziehungen zu den Staatschefs. An der Spitze der Milliardärsliste rangieren drei Frauen, die Verwandte von Staatschefs sind oder zu ihrem engen Umkreis gehören. Die älteste Tochter des angolanischen Präsidenten José Edoardo dos Santos, die schöne Isabel dos Santos, besitzt ein Vermögen von 3,5 Milliarden Dollar. Ngina Kenyatta, die Witwe von Jomo Kenyatta und Mutter des amtierenden kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta, ist 5,4 Milliarden Dollar schwer. Und die sehr enge Mitarbeiterin des ehemaligen nigerianischen Präsidenten Ibrahim Babangida, Folorunsho Alakija, hat laut Venture ein persönliches Vermögen von 7,3 Milliarden Dollar.

Die Protonation ist heute die in Afrika am meisten verbreitete Gesellschaftsform. Sie ist eine Schöpfung des Imperialismus. Der Imperialismus steckte in der Krise, musste sich umorientieren, seine Kräfte neu sammeln, effizientere, flexiblere und rationellere Formen der Beherrschung etablieren, die kostengünstiger und schließlich auch sicherer waren als die vorherigen. Die Protonation war das Ergebnis der neuen Strategie. Sie rechtfertigt den direkten Zugriff des transkontinentalen Finanzkapitals auf die natürlichen Ressourcen, die Arbeitskraft und das strategisch wichtige Territorium der Länder der Peripherie.

Ihr Zugriff ist bewundernswert gut verschleiert. Formal herrscht eine »unabhängige« Regierung über das Land. Ein autochthoner Staat – mit eigener Polizei, Armee, Arbeitsgesetzgebung und so weiter – erstickt alle aufrührerischen Anwandlungen und alles Aufbegehren gegen die Ausbeutung. Ein eng mit den ausländischen Raubtierkapitalisten verbundenes lokales Bürgertum lebt von den Krumen, die bei der imperialistischen Ausplünderung abfallen, und verwaltet den Staat. Natürlich führt dieses lokale Bürgertum »nationalistische« Reden, spricht von »Unabhängigkeit«, von Forderungen und äußert manchmal sogar »revolutionäre« Ideen, die aber, weil es den Worten niemals Taten folgen lässt, nur eine Nebelwand sind. Es täuscht die weltweite öffentliche Meinung ebenso wie die unterjochten Völker selbst. Hinter der Nebelwand kann das transkontinentale Finanzkapital in Ruhe die Ausplünderung organisieren.

Für all das gibt es unzählige Beispiele. Fria, ein Konsortium westlicher Firmen, ursprünglich zusammengebracht von dem französischen Aluminiumkonzern Pechiney, hat über mehr als fünfzig Jahre hinweg die Bauxit-Vorkommen in Guinea-Conakry zu extrem günstigen Bedingungen ausgebeutet, die es selbst diktiert hatte. Guinea verfügt über ein Drittel der gesamten Bauxit-Reserven des Planeten. Der Staat musste direkt oder indirekt den größten Teil der Infrastruktur bezahlen (Wohnungen für die Arbeiter, Eisenbahnlinien zum Meer, Hafeneinrichtungen und so weiter). Und er musste das überausgebeutete Volk unterwerfen und ihm eine strikte Ordnung aufzwingen. Das Bauxit-Konsortium nimmt bis heute Einfluss bei jeder noch so kleinen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidung der Regierung in Conakry.146

Ein weiteres Beispiel: Seit mehr als vierzig Jahren beutet der französische multinationale Konzern Areva die Uranminen in Niger aus. Niger verfügt über die zweitgrößten Uranvorkommen weltweit. Auf der Liste der ärmsten Länder der Welt, die alljährlich vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP-Human Development Index) erstellt wird, rangiert Niger an vorletzter Stelle. Niger ist demnach das zweitärmste Land der Welt. Die 10 Millionen Einwohner leiden regelmäßig unter Dürre und schrecklichen Hungersnöten. Aber ihre Regierung kann nicht einen Cent ausgeben, um Bewässerungsprogramme umzusetzen oder Lebensmittel aufzukaufen und Nahrungsmittelreserven anzulegen. Greenpeace hat es trotz all seiner Bemühungen – auch auf juristischem Weg – nicht geschafft, dass der ausbeuterische Vertrag veröffentlicht wurde, der Niger an Areva bindet.

Welches ist die neue herrschende Klasse in diesen Protonationen? Das nationale Bürgertum? Das existiert in Schwarzafrika praktisch nicht. Die Kompradoren-Bourgoisie? Sie ist die wahre herrschende Klasse in den Protonationen. Sie schöpft das ab, was man als »staatlichen Mehrwert« bezeichnet. Sie konsumiert verschwenderisch. Sie kümmert sich wenig um die Akkumulation im Land. Sie steuert die Importe des Landes nach ihren Konsumgewohnheiten und nicht nach den realen Bedürfnissen des Landes.

Die Bauern im Senegal bekommen für ihre Erdnüsse ein Achtel des durchschnittlichen Weltmarktpreises. Staatliche Einrichtungen des Senegal kaufen die Erdnüsse auf und streichen den Mehrwert ein. Der Mehrwert fließt zum größten Teil zurück an die Staatsbourgeoisie, an die hohen und mittleren Funktionäre, Politiker und so weiter, deren Gehälter in keinem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der Menschen stehen. Diese vielköpfige, oftmals parasitäre Staatsbourgeoisie genießt zahlreiche Privilegien. Neben luxuriösen Dienstlimousinen bekommt sie üppige Baudarlehen: Die Staatsbourgeoisie besitzt Villen, die mit Steuergeldern errichtet wurden, und vermietet sie dann zu astronomischen Preisen an Ausländer. Kurzum: In den meisten Protonationen ist die Staatsbourgeoisie eine wahre Geißel des Volkes. Sie ist komplett dominiert von der symbolischen Gewalt des multinationalen Finanzkapitals.

Natürlich reden die aktuellen Satrapen in den afrikanischen Protonationen – Männer vom Schlag eines Umar al-Baschir, Joseph Kabila, Robert Mugabe, Idriss Déby Itno, Paul Biya, Denis Sassou-Nguesso, Ali Bongo Ondimba, José Edoardo Dos Santos, Michael Sata, Hifikepunye Pohamba – gern von »Nationalbewusstsein« und »Unabhängigkeit«. Sie treten bei Konferenzen auf, bewegen sich ganz vorn auf der internationalen politischen Bühne, reisen eifrig zu Staatsbesuchen und geben jedes Mal feierliche Bekenntnisse zu »Freiheit« und »Frieden« ab. Wenn sich aber ein Volk auf dem Kontinent zu befreien versucht, rufen sie sogleich die Truppen dieser oder jener imperialistischen Macht zu Hilfe.

V. Eine Mordkampagne

Auf die Frage, warum die Nationenbildung in zahlreichen afrikanischen Ländern so tragisch gescheitert ist, gibt es noch andere Antworten.

Auf Druck der weltweiten öffentlichen Meinung, der regelmäßigen Sitzungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen und der aufständischen Bewegungen in Afrika selbst musste Frankreich zwischen 1958 und 1965 18 afrikanischen Kolonien die »Unabhängigkeit« gewähren. Im selben Zeitraum sahen sich auch Belgien und England gezwungen, ihre Kolonien in Afrika in die »Unabhängigkeit« zu entlassen. Wenig später folgten Portugal und Spanien.

Doch bevor sie – auf Druck und gezwungenermaßen – die Souveränität auf die ehemals Beherrschten übertrugen, führten ihre Geheimdienste umfangreiche Säuberungen durch und ermordeten reihenweise gezielt Personen, um die wichtigsten Anführer nationalistischer Bewegungen physisch zu beseitigen.

Diese Art der Gewalt trat ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Erscheinung. In Algerien ermordete oder verletzte die französische Armee nach 1945 in Sétif fast 40000 Menschen, die für die Unabhängigkeit demonstrierten. In Madagaskar gab es bei der Niederschlagung des Aufstands von 1947 durch die Franzosen mehr als 80000 Tote.

Im Jahr 1959 starben der zentralafrikanische Nationalist Barthélemy Boganda und seine Begleiter, als ihr Flugzeug explodierte – ein Attentat, für das französische Nachrichtendienste verantwortlich gemacht wurden. Am 17. Januar 1961 wurde der Premierminister von Kongo und Anführer der nationalen Befreiungsbewegung des Kongo (Mouvement national congolais, MNC), Patrice Lumumba, in der Nähe von Lubumbashi ermordet. Er starb durch die Maschinengewehrsalven eines katangesischen Exekutionskommandos. Belgische Söldner beseitigten die Leichen Lumumbas und seiner zwei Begleiter, indem sie sie in Schwefelsäure auflösten. 1966 wurde der Ghanaer Kwame Nkrumah, der Architekt der panafrikanischen Bewegung und der erste nationalistische Führer in Schwarzafrika, dem es gelungen war, die Unabhängigkeit zu erreichen, in einem Militärputsch gestürzt, dessen Drahtzieher der englische Geheimdienst war. Er starb im Exil in einem rumänischen Krankenhaus an einer mysteriösen, nie aufgeklärten Krankheit. Am 20. Januar 1973 wurde Amílcar Cabral, der Kommandant der Befreiungsarmee von Guinea-Bissau und Gründer der PAIGC (der Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde) von einem Agenten der politischen Polizei Portugals (PIDE) ermordet, 14 Monate bevor sein Land die Unabhängigkeit erlangte.

Der Staatsterror war unerbittlich: Es galt, um jeden Preis die wahren nationalistischen Anführer zu beseitigen, um die »Macht« auf präparierte »Eliten« übertragen zu können, die die Kolonialherren in den Sattel gehoben hatten und kontrollierten.

Paradigmatisch ist der Fall Kamerun. In diesem wunderschönen Land, das sich von den Savannen des Tschad bis ans Ufer des Atlantiks erstreckt, spielen die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessen Frankreichs bis heute eine entscheidende Rolle. Paris übergab die Macht einem traditionellen muslimischen Herrscher aus dem Norden, Amadou Ahidjo. Ahidjo residierte 23 Jahre lang im Präsidentenpalast von Yaoundé, bis er von seinem ehemaligen Kabinettschef abgelöst wurde, dem heutigen Präsidenten Paul Biya. Ahidjo war bis zuletzt ein Handlanger der neokolonialistischen Politik Frankreichs. Doch in Kamerun gibt es viele mutige, irredentistische Völker mit jahrtausendealten Traditionen und dem glühenden Wunsch nach Unabhängigkeit. So widersetzte sich beispielsweise die Union der Völker Kameruns (UPC) der französischen Scharade. Die Gegner der UPC griffen zu den Waffen.

Die Repression war grausam.

15. Januar 1970, auf dem zentralen Platz von Bafoussam im Westen Kameruns. Die Soldaten des Exekutionskommandos der kamerunischen Armee stellen sich so auf, dass sie die aufgehende Sonne im Rücken haben. Eine Gruppe uniformierter französischer Offiziere und ein paar Europäer in Zivil mit weißen Hemden und Leinenhosen überwachen das Ganze. Bauern von der Volksgruppe der Bamileke, ihre Frauen und Kinder sammeln sich schweigend am Rand des Platzes. Eine Kolonne geschlossener LKWs und anderer Fahrzeuge bringt weitere Soldaten, den Staatsanwalt, die Militärrichter, den Gerichtsmediziner und schließlich den Verurteilten. Schwere Wolken hängen über der Stadt, aber trotzdem ist der Morgen klar: Gleißende Sonnenstrahlen brechen durch die Wolkendecke und tauchen den Platz in helles Licht. Ernest Ouandié, fünfzig Jahre alt, das Gesicht gezeichnet von den Verhören, der Erschöpfung, den Schlägen, wird von den Gendarmen aus einem LKW gezerrt. Er ist sehr mager, vorzeitig gealtert, seine Haare sind ergraut. Sein Blick ist müde. In Handschellen wird er vor den Hinrichtungspfahl gestoßen. In dem Augenblick, in dem die Soldaten feuern, schreit er: »Es lebe Kamerun!«, dann stürzt er mit dem Gesicht voraus zu Boden. Aus der Gruppe der Zuschauer löst sich ein französischer Offizier, tritt auf den Sterbenden zu, greift nach seinem Revolver, beugt sich hinunter und feuert zweimal in seine Schläfe. Der wichtigste Führer der kamerunischen Befreiungsfront ist tot.147

Ausnahmslos alle nationalistischen Anführer aus Kamerun wurden nach und nach umgebracht: Ruben Um Nyobe bereits 1955, später seine Nachfolger Isaac Nyobe Pandjok, David Mitton und Tankeu Noé.

1960 kam der junge Arzt und Präsident der UPC, Félix-Roland Moumié, nach Genf, wo er versuchte, diplomatische Unterstützung zu organisieren. Ein französischer »Journalist«, der bei den Vereinten Nationen akkreditiert war, lud ihn in eine Bar in der Innenstadt ein. Am Abend bekam er starke Bauchschmerzen. Er wurde ins Kantonsspital gebracht, wo er in der Nacht starb. Der »Journalist« wurde bald enttarnt: Es handelte sich um Oberst William Bechtel, Offizier des französischen Auslandsgeheimdienstes SDECE (Service de documentation extérieure et de contre-espionnage). Bechtel reiste fluchtartig ab. Gegen ihn wurde ein internationaler Haftbefehl erlassen. Zwanzig Jahre später, am 8. Dezember 1980, stellte die Anklagekammer des zuständigen Genfer Gerichts das Verfahren gegen ihn ein. Die Genfer Justiz hatte kein Problem damit, sich lächerlich zu machen: Die Entscheidung fiel, eine Woche nachdem in Frankreich die Erinnerungen von Oberst Le Roy-Finville erschienen waren. Dieser war 1960 der Vorgesetzte von Bechtel gewesen. In seinem Buch schilderte er detailliert die Ermordung Moumiés durch den Residenten des SDECE in Genf.148

1966 wurde Castor Osende Afana, in Frankreich ausgebildeter Ökonom, ein brillanter Kopf, Kämpfer gegen die Kolonialherrschaft, im äquatorialen Dschungel aufgespürt und in der Nähe der Grenze zwischen Kongo, Gabun und Kamerun umgebracht.

Die Republik Kamerun ist die Heimat großartiger Kulturen und tapferer Völker. Aber die französische Mordkampagne in früheren Zeiten hat ein derartiges Trauma hinterlassen, dass sich trotz all der Korruption, der Ausplünderung des Landes und der extremen Not, die einen großen Teil der Bevölkerung quaält, keine Widerstandsbewegung formiert.

VI. Die Zerstückelung eines Kontinents

Ein letzter Grund, warum die Nationenbildung in so vielen Ländern Afrikas gescheitert ist, hängt mit der Berliner Konferenz 1885 zusammen.

Ein außergewöhnlicher europäischer Staatsmann hat damals bei der Ordnung der im Entstehen begriffenen Kolonialwelt eine entscheidende Rolle gespielt: der deutsche Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck. Bismarck hatte eine wichtige Tatsache begriffen: Die anarchische Entwicklung der kolonialen Eroberungsfeldzüge verschiedener europäischer Staaten gefährdete die Heilige Allianz der reaktionären Mächte, wie sie 1815 aus dem Sieg über die Französische Revolution und das Napoleonische Reich hervorgegangen war. Die Raffgier der Händler, Soldaten und Finanziers und der Fanatismus vieler Missionare hatten ein solches Ausmaß erreicht, dass sie den Frieden in Europa und das Gleichgewicht der Mächte ins Wanken brachten. In Haut-Dahomey (heute Benin), an der Grenze des Sudan, am Rand des vulkanischen Hochplateaus von Nigeria, standen französische Truppen englischen Invasoren gegenüber. Die Offiziere der französischen Republik beschimpften die Abgesandten Ihrer Majestät. Tatsächlich gab es kein Gesetz, kein juristisches Kriterium, keine Regel des Gewohnheitsrechts, um die jeweiligen Einflusszonen der einzelnen europäischen Staaten in Afrika abzugrenzen und zu definieren. Die Aggression der kolonialen Streitkräfte, ihr Drang nach Eroberungen, die Verlockungen des Ruhms, aber auch handfeste wirtschaftliche Interessen und ideologisches Sendungsbewusstsein (gleichermaßen religiöser wie weltlicher Natur) machten die Afrikafeldzüge der Europäer zu wahren Heldenepen, bei denen es um »Nationalstolz«, die »Würde« der Staaten und die »Glaubwürdigkeit« der Regierungen ging. Aus dem kleinsten Zusammenstoß von englischen und französischen Truppen, portugiesischen Händlern oder deutschen Forschungsreisenden im entlegensten Winkel der Sahelzone oder in den Bergen von Benguela drohte ein kaum vermeidbarer, großer Konflikt zu werden.

Klarer als jeder andere erkannte Bismarck die Gefahr. Damals beschäftigten ihn der Aufstieg der europäischen Arbeiterschaft und ihrer Organisationen geradezu obsessiv. Die Arbeitersolidarität entwickelte sich rasch. Bismarck, Herr über die am besten organisierte Polizei Europas, registrierte sehr genau den wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung in allen europäischen Ländern, die den Weg der Industrialisierung eingeschlagen hatten. Bebel, Guesde, Liebknecht und Malatesta verfolgten ihn in seinen schlaflosen Nächten. (Bismarck litt unter schweren, sehr schmerzhaften Neuralgien.) »Die gemeine Bande«, wie er sie nannte, spukte durch seine Albträume. Mit diesem Ausdruck bezeichnete er die Arbeiterführer, die überall in Deutschland – vor allem nach dem Vereinigungsparteitag von Gotha 1875 – seine Macht infrage stellten. Und wenn die Heilige Allianz in Europa zerbrach, drohten die sozialistischen Revolutionäre die Macht in Berlin, Paris, London, Rom und Madrid zu ergreifen.

Im Gegensatz zu anderen Politikern seiner Zeit hing Bismarck keinen kolonialen Eroberungsträumen nach. Seine einzige, beständige Sorge galt der Konsolidierung der fragilen deutschen Einheit, die er 1871 endlich erreicht hatte, und der Stärke und dem Ruhm des deutschen Kaiserreichs. Als weitblickender Mann verstand er, dass die alltäglichen Konflikte infolge der anarchischen Besetzung Afrikas durch die europäischen Mächte das ausgeklügelte, komplexe System der Bündnisse zwischen den europäischen Staaten gefährdeten, mit dem er den Fortbestand und die Größe des Reichs zu sichern versuchte. Kurzum, Bismarck wollte vor seinem Tod noch Regeln durchsetzen, nach denen bei kolonialen Eroberungen Gebiete und Legitimität aufgeteilt werden sollten. Und so berief er 1885 eine Konferenz nach Berlin ein.

Die Liste der Teilnehmer an der Eröffnungssitzung am 26. Februar vermittelt einen Eindruck von der Zusammensetzung des Kartells der Kolonialherren, zu dem praktisch alle großen und mittleren militärischen, wirtschaftlichen und finanziellen Mächte der damaligen Zeit gehörten. Wir finden dort den deutschen Kaiser, die Königin von England, den Sultan des Osmanenreichs, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Zaren von Russland, die Könige von Spanien und von Portugal, den Kaiser von Österreich-Ungarn, die Könige von Italien, Belgien, Schweden-Norwegen, der Niederlande und den Präsidenten der französischen Republik.

Die großen und mittleren Kolonialmächte verfügten nach Belieben über Afrika. Sie zerstückelten den Kontinent, schnitten ihren Besitz heraus, zerstreuten Völker, zerstörten Kulturen und traditionelle kollektive Identitäten, sie plünderten, brandschatzten, vergewaltigten und raubten den Reichtum des Bodens, der Wälder und der Menschen, wie es ihnen mit ihren egoistischen Interessen gerade gefiel. Die Berliner Konferenz sollte die Anarchie beenden.

Ziel der Konferenz war es, der kolonialen Ordnung der Welt und insbesondere Afrikas Legitimität und Legalität zu verleihen. Man wollte den »wilden« Besetzungen ein Ende machen und festlegen, dass zwischen konkurrierenden europäischen Staaten das Recht des »ersten Eroberers« gelten sollte. Außerdem wollte man die großen Flüsse für die internationale Schifffahrt öffnen, den Sklavenhandel eindämmen und den Umgang mit einheimischen Arbeitskräften kontrollieren. Auch ein kleines Stück internationales Recht wurde eingeführt: Ein Gebiet, über dem die Fahne eines europäischen Landes wehte, sollte als legitimer Besitz des betreffenden Landes angesehen werden. Wenn ein konkurrierender europäischer Staat ebenfalls Ansprüche auf das Gebiet erhob, musste er vor einer Schiedsinstanz beweisen, dass seine Besitzansprüche schwerer wogen (zum Beispiel durch Schutzabkommen mit Häuptlingen der Eingeborenen, durch Kaufverträge und dergleichen).149

Mit der Berliner Konferenz entstand ein tatsächliches Weltsystem mit eigenen Regeln für Besetzung und Verhalten, mit Schiedsinstanzen, mit einer legitimierenden Ideologie und einer eigenen Rechtsordnung. Mit diesem homogenen, strukturierten, kohärenten Kolonialsystem hatten es künftig die Befreiungsbewegungen zu tun.

Die Konferenz hat Afrika zerstückelt wie ein Kannibale, der einen lebendigen Körper zerstückelt.

Die nach den Interessen und dem Gutdünken der Kolonialherren festgelegten Grenzen haben die großen traditionellen Gesellschaften, die Kulturen und Zivilisationen zerschlagen. Eingeschlossen in Grenzen, die nichts »Natürliches« hatten und in keinerlei Beziehung zur je einzigartigen Geschichte der betroffenen Völker standen, haben diese verstümmelten, aber lebendigen Stücke von Kultur im Inneren der willkürlich ausgeschnittenen Gebiete extreme Spannungen verursacht, die bis heute spürbar sind.

Kurzum: Bismarck hat Europa befriedet, wenn auch nur sehr vorübergehend, dabei aber Afrika verstümmelt.

Am 23. Mai 1963 wurde in Addis Abeba der Gründungskongress der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) eröffnet, der Vorläuferorganisation der heutigen Afrikanischen Union. Unter Führung des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah leisteten die Anhänger einer kontinentalen Struktur Widerstand gegen die Vertreter eines »Afrika der Staaten« um den senegalesischen Präsidenten Léopold Sédar Senghor. Letztere setzten sich durch. Um Bruderkämpfe im unabhängigen Afrika zu verhindern, legte die Charta der OAU ausdrücklich fest, dass die Kolonialgrenzen unantastbar sein sollten. Damit wurde die Zerstückelung der traditionellen kollektiven Identitäten und der großen überkommenen Kulturen festgeschrieben.

Die möglichen kulturellen Orientierungen für die künftigen afrikanischen Nationen waren damit von vornherein beschnitten. Anstelle eines aufkeimenden Nationalbewusstseins regierte in vielen Regionen der Tribalismus. Unter allen gegenwärtigen Formen des Rassismus ist der Tribalismus eine der unerbittlichsten, schlimmsten und destruktivsten. Der Tribalismus verheert das kollektive Bewusstsein der Protonationen, in denen die regierenden ethnischen Gruppen das Gewaltmonopol behaupten und autokratische Regierungen installieren, die die anderen ethnischen Gruppen diskriminieren – im Namen und entsprechend ihrer jeweiligen Stammesidentität.

VII. Die Hölle im Südsudan

Das eindrücklichste aktuelle Beispiel für das Drama des Tribalismus bietet der jüngste der 195 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die Republik Südsudan.

Die 12 Millionen Einwohner des Südsudan, die verschiedenen Niloten-Kulturen angehören – Azande, Nuer, Dinka, Massalit, Schilluk und so weiter –, leben in einem prächtigen Land mit einer Fläche von mehr als 900000 Quadratkilometern, bestehend aus unberührten Wäldern, einer außergewöhnlichen Fauna, fruchtbaren Ebenen und fischreichen Flüssen.

Die Republik Südsudan hat den längsten nationalen Befreiungskampf aller Länder Afrikas hinter sich: Der Sudan war seit 1899 ein Kondominium Großbritanniens und Ägyptens. Auf Druck von Gamal Abdel Nasser und seiner Freien Offiziere, die seit 1952 die Macht in Kairo innehatten, wurde das Kondominium 1956 aufgelöst. Sofort revoltierte das Equatoria Corps, die Truppen, die die englische Kolonialmacht bei den christlichen nilotischen Völkern im Süden rekrutiert hatte. Der lange Krieg gegen das muslimische Regime in Khartum begann. Bis dahin hatten zwei großartige Völker mit einer strahlenden, hochentwickelten Kultur, mit reichen und lebendigen Kosmogonien die Southern Sudan Liberation Army (SSLA) dominiert: die Dinka und die Nuer. Ihre jeweiligen kollektiven Erinnerungen, ihr symbolischer Überbau, ihre gesellschaftlichen (nicht-staatlichen) Organisationen haben die Anthropologen fasziniert, allen voran Edward E. Evans-Pritchard.150

In einem Zeitraum von etwas mehr als einem halben Jahrhundert starben ganze Generationen junger Nuer und Dinka in den Sümpfen des Weißen Nils, im Dschungel und in den Savannen im Kampf, wurden bei lebendigem Leib verbrannt, durch Artilleriefeuer und Bomben der muslimischen Armeen verwundet. Zehntausende Frauen und Kinder aus dem Süden wurden bei den Terrorbombardements der Luftwaffe aus dem Norden zerfetzt. Das Kommando über die SSLA teilten sich Offiziere der Nuer und der Dinka (die letzten beiden Oberkommandierenden John Garang und Salva Kiir waren allerdings beide Dinka; Garang starb bei der Explosion seines Flugzeugs).

Ich erinnere mich an meinen kürzlichen Besuch in Juba – eine krakenhafte Riesenstadt mit ihren Hochhäusern und überbevölkerten, armseligen Slums. Vor der Unabhängigkeit war Juba in erster Linie eine Garnisonsstadt gewesen, extrem arm, gelähmt von Angst. Aus dem Ozean rostiger Hausdächer ragten hier und da hohe gelbe Häuser mit rissigen Wänden heraus, deren Terrassen die Fluten der Regenzeit und die Feuchtigkeit, die dauernd aus dem Bahr al-Dschabal, dem Weißen Nil, aufsteigt, zersetzt hatten. Mir ist vor allem das ehemalige British Railway Hotel in Erinnerung geblieben, ein elegantes, langgezogenes, zweistöckiges Gebäude aus ockerfarbenen Ziegeln. Eine Veranda mit Arkaden, in der sich Sessel und Tische aus Weidengeflecht aneinanderreihten, schützte den großen Speisesaal im Erdgeschoss vor der Hitze. Bahr al-Dschabal heißt wörtlich »das weiße Meer«, denn flussaufwärts von Juba verschwindet der Nil wie durch Magie unter Millionen weißer Seerosen.

Am 15. Januar 2011 fand das Referendum über die Selbstbestimmung des Südsudan statt, und am 9. Juli wurde die Unabhängigkeit verkündet. Die Staatsgewalt übernahmen gemeinsam Salva Kiir vom Volk der Dinka als Staatspräsident und Riek Machar vom Volk der Nuer als Vizepräsident.

Aber kaum zwei Jahre nach der Unabhängigkeit, im Juli 2013, beanspruchte die ethnische Mehrheit der Dinka die alleinige Macht. Salva Kiir entließ Riek Machar und alle Minister und Generäle vom Volk der Nuer. Nuer-Familien flohen zu Tausenden aus der Hauptstadt Juba.

Kiir ist ein stämmiger Dinka, einen Meter neunzig groß, mit einem warmherzigen Lächeln; er trägt immer einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Machar hingegen ist der typische Nuer, schlank und agil. Er erinnert an die Hirten seines Volkes, die, auf einem Bein stehend mit einem langen Stock in der Hand, an den Zuflüssen des Weißen Nils die beeindruckenden Herden der Zebus mit den wie eine Leier geschwungenen Hörnern hüten. Machar ist ein Intellektueller, ehemaliger Philosophieprofessor an der Universität Khartum. Kiir erhob gegen Machar eine absurde Anklage, um die Jagd auf die Nuer zu eröffnen: Sein Stellvertreter habe geplant, bei der Präsidentschaftswahl 2015 gegen ihn zu kandidieren, und sich somit der Verschwörung schuldig gemacht.

Angesichts eines gemeinsamen, unerbittlichen muslimisch-arabischen Feinds haben die Völker des Südens trotz regelmäßiger ethnischer Konflikte mit außerordentlichem Mut und großartiger Entschlossenheit Widerstand geleistet und ihre Identität, ihre Religion, ihr Land verteidigt. Doch dieser Kampf, den Generationen aus unterschiedlichen Volksgruppen geführt und für den sie mit schrecklichen Leiden bezahlt haben, ließ kein strukturiertes gemeinsames Bewusstsein entstehen, kein die ethnische Zugehörigkeit übergreifendes Nationalbewusstsein. Die Stammesidentität ist nach wie vor der Bezugspunkt letzter Instanz, die ultimative Zuflucht für die Völker im Südsudan. Und nach fünfzig Jahren Krieg zur Selbstverteidigung sind Tribalismus und Ethnozentrismus immer noch die beiden einzigen Faktoren, die das vielfach gespaltene kollektive Bewusstsein strukturieren.

Die uralten Hochkulturen der Niloten-Völker wie Nuer, Dinka, Azande, Massalit und Schilluk zählen, wie ich bereits gesagt habe, zu den höchstentwickelten, komplexesten, reichhaltigsten Kulturen auf unserem Planeten. Ihre Kosmogonien bieten eine allumfassende Erklärung der Welt und der Bestimmung der Menschen. Ihre Verwandtschaftssysteme und Initiationsriten dienen dazu, das gesellschaftliche Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Ihre Hierarchien von Befehl und Gehorsam, die sich durch Komplementarität und Reziprozität zwischen Männern und Frauen, zwischen unterschiedlichen Altersklassen, Clans und so weiter auszeichnen, ihre Begräbnisrituale, die das Weiterleben, die Unsterblichkeit, die beständige gesellschaftliche Anwesenheit der Verstorbenen garantieren: All das erzeugt eine stark strukturierte soziale Basis, solide kollektive Identitäten.

Solange aufeinanderfolgende arabisch-muslimische Herrscher in Khartum den Nilvölkern zugesetzt haben und versuchten, sie zu unterwerfen und manchmal zu vernichten, sammelten sie sich in einer gemeinsamen Widerstandsfront.

Doch als der Sieg errungen war, die Fesseln der Unterdrückung gesprengt waren und der äußere Druck nicht mehr bestand, löste sich die gemeinsame Front auf, und die verschiedenen ethnischen Gruppen übernahmen wieder das Monopol auf die Strukturierung des jeweiligen kollektiven Bewusstseins. Die Hochkulturen der Nilvölker wurden füreinander zu »mörderischen Identitäten«, um es mit einem Begriff von Amin Maalouf zu sagen.

Bis zum Sommer 2014 sind in diesem neuen Krieg bereits viele Zehntausend Frauen, Kinder und Männer aller ethnischen Gruppen gestorben. Millionen Menschen haben die Städte verlassen, vor allem Bentiu, Bor, Leer und Juba, wo die schlimmsten Kämpfe tobten, und sind in den Busch geflohen.

In allen Winkeln dieses riesigen, herrlichen Landes rufen lokale Radiostationen, die wichtigsten Kommunikationsinstrumente, dazu auf, Frauen zu vergewaltigen, die nicht der eigenen ethnischen Gruppe angehören.151 In Leer, im Osten des Landes, wo Nuer leben, musste die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihr Krankenhaus aufgeben. Hunderte Verwundete und Kranke hielten sich monatelang in den Sümpfen versteckt. Im April 2014 verübten Schergen von Machar in Bentiu, wo Tausende Dinka-Familien Zuflucht gefunden hatten, ein Massaker.

Kaum entstanden, ist die Protonation Südsudan somit wieder zerfallen. Neben der Wiederkehr des Tribalismus sind das soziale Elend, der Hunger und Epidemien an dem gegenwärtigen Chaos schuld. Seit der Proklamation des Staates Südsudan vor drei Jahren sind 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Uganda, Kongo und Äthiopien ins Land zurückgeströmt. Zwar liegen 85 Prozent der sudanesischen Ölfelder im Süden, aber der Norden kontrolliert die Pipelines, die das Öl nach Port Sudan und zu den Häfen am Roten Meer transportieren.

Um die Protonationen zu stabilisieren und zu verhindern, dass die Staaten mit ihrer fiktiven Souveränität im Chaos versinken, vor allem aber um den eigenen Einfluss zu sichern, hat die ehemalige Kolonialmacht mit den Regierungen, die nach der Unabhängigkeit die Macht übernahmen, Abkommen über die sogenannte »gemeinsame Sicherheit« geschlossen. In Abidjan, in Dakar und in anderen Hauptstädten unterhält die französische Armee Garnisonen. Denn in Ländern, in denen die legale Opposition verfolgt wird, suchen sich Unzufriedenheit, Verzweiflung und das Leiden der Bevölkerung oft Ausdruck in Protestbewegungen, die außerhalb der Legalität agieren.

In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents, achtgrößter Ölproduzent der Welt, sind Korruption, Vetternwirtschaft und Wahlbetrug an der Tagesordnung. Texaco, ExxonMobil, British Petroleum und Shell beuten das Land aus und machen dabei gemeinsame Sache mit den Herrschern in Abuja. Im Delta kämpfen irredentistische Bewegungen, im Norden treiben die Terroristen von Boko Haram ihr Unwesen.

Die Dschihadisten verheeren das Sahelgebiet. Aber die französischen Garnisonen in Niamey (Niger), Dakar (Senegal), Nouakchott (Mauretanien) und Bamako (Mali) sind so lange nutzlos, wie Areva und andere französische Unternehmen weiterhin zu Bedingungen, die an Plünderung grenzen, die Uranminen in Niger ausbeuten, die Goldvorkommen in Mali oder das fruchtbare Land in der Schleife des Flusses Senegal. Die Abkommen über die »gemeinsame Sicherheit«, die die herrschenden neokolonialen Eliten schützen sollen, erweisen sich letztlich als wirkungslos. Die Protonationen gehen von innen heraus zugrunde.

VIII. Der äußere Faschismus

In welchem Augenblick der Geschichte und an welchem Ort der Welt die Nation auch in Erscheinung tritt, sie birgt immer universelle Werte in sich.

Ein Beispiel: Kurz vor Valmy hielt Maximilien Robespierre in Paris folgende Rede: »Franzosen, unsterblicher Ruhm erwartet euch, aber ihr müsst ihn unter großen Mühen erringen. Ihr habt nur die Wahl zwischen der schändlichsten Sklaverei und der vollkommenen Freiheit. Entweder die Könige unterliegen oder die Franzosen. Das Schicksal aller Nationen ist mit dem unseren verknüpft. Das französische Volk muss das Gewicht der Welt tragen […] Auf dass die Sturmglocke, die in Paris ertönt, von allen Völkern gehört werde.«152

Und noch ein Beispiel: Der Erhebung der polnischen Nationalisten gegen die russischen Besatzer endete mit einer Niederlage und mit Blutvergießen. Dennoch beanspruchte die entstehende polnische Nation die gleiche Universalität wie Robespierre. In einer Nacht im September 1831 tauchten an den Mauern von Warschau Plakate auf, direkt vor den Fenstern des Feldmarschalls Paskiewitsch, dem russischen Peiniger Polens. In lateinischer und kyrillischer Schrift stand auf den Plakaten zu lesen: »Für unsere Freiheit und für eure.« Nur wenige Soldaten der russischen Besatzungsarmee verstanden die Botschaft. Die Erhebung wurde niedergeschlagen. Die Polen mussten bis zum Jahr 1989 und zum friedlichen Sieg von Solidarność darauf warten, dass sich der Griff der russischen Kolonialherren lockerte und die polnische Nation aus der Asche wiederauferstehen konnte.

Ein letztes Beispiel: Im August 1942 übernahm Missak Manouchian von Boris Holban die Führung der Partisanenorganisation MOI (Mouvement des ouvriers immigrés, Bewegung der immigrierten Arbeiter). Die Nazi-Besatzer hatten in Paris Tausende rote Plakate aufgehängt, die die Gesichter bestimmter Mitglieder der Gruppe mit ihren Namen zeigten. Da es alles ausländische Namen waren, hauptsächlich armenische und polnische, wollten die Nazis damit den Eindruck erwecken, der bewaffnete Widerstand und dessen »Terror« seien das Werk von Ausländern. Im November wurde die Gruppe an die Gestapo verraten. Manouchian und mehr als sechzig Kameraden, Männer und Frauen – darunter die 23, die auf dem roten Plakat zu sehen waren – wurden festgenommen. Nach entsetzlichen Folterungen starben sie im Morgengrauen des 21. Februar auf dem Mont Valérien im Kugelhagel eines Erschießungskommandos. Sie stammten aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Volksgruppen, aber fast alle riefen, ehe die Kugeln sie trafen: »Es lebe Frankreich!«

Alle Menschen streben nach Leben, Gesundheit, Bildung, Wissen, einer sicheren Existenz, einem festen Arbeitsplatz, einem regelmäßigen Einkommen. Sie wollen ihre Familien vor Demütigungen schützen, ihre politischen und staatsbürgerlichen Rechte im vollen Umfang ausüben können, ohne Willkür ausgeliefert zu sein, und wollen vor Unglücken bewahrt werden, die ihre Würde verletzen.

Die Nation, die in Valmy erstanden ist, ist eine Nation der Armen, die entschlossen sind, zu leben – und frei zu leben. Sie ist heute das Modell für die meisten Volksbewegungen, für die Revolutionäre in Bolivien, in Venezuela, in Ecuador, in Kuba, in Bahrain, Nepal und an vielen anderen Orten auf der Welt.

Innerhalb des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen haben die westlichen Länder (die europäischen und nordamerikanischen) 2010 eine informelle, aber mächtige Organisation gebildet, die sich regelmäßig trifft und ihr Abstimmungsverhalten koordiniert: die like minded group. Diese Gruppe besteht aus den Ländern, die den Anspruch erheben, gemeinsam die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheitsrechte erfunden zu haben.

Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass diese Länder mit einem gespaltenen Bewusstsein leben. Die Grundwerte werden bei ihnen im Allgemeinen geachtet und gelten auf ihren jeweiligen nationalen Territorien. Aber ihre Geltung endet an ihren nationalen Grenzen.

In Bagram in Afghanistan, im größten Militärgefängnis der Welt, und in Guantánamo, dem Gefangenenlager auf dem Stützpunkt der US-Navy im Südosten von Kuba, wendeten die Vereinigten Staaten – wie wir gesehen haben – systematisch Folter und andere unmenschliche Behandlungen gegenüber ihren politischen Gefangenen an, die aus allen Ecken des Planeten stammen. Im Jemen und in Pakistan töten amerikanische Drohnen jeden Monat Dutzende Kinder, Männer und Frauen, die absolut nichts mit terroristischen Aktivitäten zu tun haben.

Die Europäische Union praktiziert Dumping in Schwarzafrika, das heißt, sie verkauft ihre eigenen Agrarprodukte billiger als die lokalen Produkte und zerstört damit wissentlich die lokale Landwirtschaft. Ihre Organisation FRONTEX schickt jedes Jahr Tausende Männer, Frauen und Kinder auf das Meer zurück – Menschen, die versuchen, über den Atlantik oder das Mittelmeer in die Festung Europa zu gelangen, auf die Kanaren, nach Malta oder an die italienische Küste. Nach Angaben des Hochkommissariats für Flüchtlinge sind dabei von 2001 bis 2013 31000 Menschen ertrunken.

Laut einer Untersuchung, die Global Financial Integrity veröffentlicht hat, eine 2006 in Washington gegründete Nichtregierungsorganisation, die sich um Korruption, Schmuggel, organisiertes Verbrechen und Steuerflucht kümmert, sind durch »anonyme Scheinfirmen, undurchsichtige Steuerparadiese und kommerzielle Geldwäsche im Jahr 2011 fast 1000 Milliarden Dollar aus den ärmsten Ländern der Welt abgeflossen«. Die astronomischen Summen, die illegal aus den Ländern gelangen, werden von Jahr zu Jahr größer. »Der Anstieg betrug 13,7 Prozent gegenüber 2010 und 250 Prozent gegenüber 2002. Von 2002 bis 2011 haben die Entwicklungsländer nach Schätzungen der Studien insgesamt 5900 Milliarden Dollar verloren […] Das Volumen der Kapitalflucht lag 2011 um das Zehnfache höher als die Netto-Entwicklungshilfe, die im selben Jahr den 150 Ländern gewährt wurde, mit denen sich die Studie befasst. Das bedeutet, dass für jeden Dollar Entwicklungshilfe, den ein Land bekommt, 10 Dollar auf illegalem Weg abfließen.«153

Und etwas weiter heißt es: »Das subsaharische Afrika, wo sich die Kapitalflucht jedes Jahr auf mehr als 5,7 Prozent des BIP summiert, ist die Region, die unter volkswirtschaftlichem Gesichtspunkt am meisten unter dieser Entwicklung leidet. In den letzten zehn Jahren lag der Anstieg bei den Summen, die illegal aus dem Land geschafft wurden, deutlich über den Wachstumsraten des BIP154

Im Jahr 2014 hat das schweizerische Außenministerium eine Forschergruppe der Universität Bern beauftragt, die Ströme von illegal aus Afrika abgeflossenem Kapital zu untersuchen, die in den Tresoren von schweizerischen Banken landeten. Und das war das Ergebnis ihrer Untersuchung: 83 Länder der südlichen Hemisphäre bekamen Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe aus der Schweiz. 2013 hat die Schweiz dafür umgerechnet 2,2 Milliarden Dollar ausgegeben. Aber im selben Zeitraum deponierten die herrschenden »Eliten« dieser
Länder auf ihren persönlichen Konten bei diversen Schweizer Banken insgesamt geschätzte 7,5 Milliarden Dollar, das Dreifache der mit Steuergeldern finanzierten Entwicklungshilfe …

Die Kapitalflucht, die von schweizerischen und europäischen Banken organisiert wird, führt überall zu Katastrophen.

Einer meiner brillantesten Studenten an der Universität Genf war Carlos Lopes aus dem kleinen westafrikanischen Land Guinea-Bissau. Im marmorverkleideten »Palast der Nation«, am Ufer des Mittelmeers, nahe bei Algier gelegen, habe ich ihn wiedergesehen. Dort wurde am Morgen des 28. Mai 2014 die 17. Ministerkonferenz der Blockfreien Staaten eröffnet. Meiner Freundschaft mit Abd al-Aziz Bouteflika verdankte ich meine Einladung als »ausländischer Beobachter«. Carlos Lopes ist heute beigeordneter UNO-Generalsekretär und leitender Sekretär der UNO-Wirtschaftskommission für Afrika (UNECA) mit Sitz in Addis Abeba. Sein Vortrag fand spätabends am 29. Mai statt. Carlos Lopes prangerte detailliert die westliche Plünderungsstrategie an, erklärte akribisch die illegalen Kapitalflüsse und analysierte die tödlichen Gefahren, welche die flutartig ansteigende Kapitalflucht für die Völker des Kontinents verursachten. Die Minister waren erschüttert … und sprachlos. In zahlreichen Ländern Afrikas ist die Infrastruktur marode, Krankenhäuser und Schulen müssen schließen, Unterernährung und Arbeitslosigkeit richten fürchterliche Verheerungen an. Die Länder sind ausgeblutet. In Burkina Faso stirbt eines von sechs Kindern vor dem zehnten Lebensjahr. Wegen chronischer Unterernährung können nur 25 Prozent der Frauen in Mali ihre Säuglinge stillen.

Gewisse Ideologen im Dienst der transkontinentalen Finanzoligarchien behaupten, ein großer Teil der Länder Afrikas mache spektakuläre wirtschaftliche Fortschritte. Was hat es damit auf sich?

Der IWF hat über fünf Jahre (2004–2008) das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 30 der 54 afrikanischen Länder untersucht; auf sie entfallen 86 Prozent der Bevölkerung des Kontinents und 91 Prozent der Produktion. Und das sind die durchschnittlichen Wachstumsraten des BIP in diesen Ländern: 5 Prozent in 2005, 5,8 Prozent in 2006, 5,5 Prozent in 2007, 6 Prozent in 2008.

Wie ist dieser »Erfolg« zu erklären? Vor allem durch die Intensivierung der Ausbeutung von Bodenschätzen durch die ausländischen transkontinentalen Gesellschaften und den Preisanstieg bei Rohstoffen wie Erzen, Gas und Erdöl. Nigeria zum Beispiel ist achtgrößter Erdölproduzent der Welt. Viele afrikanische Volkswirtschaften sind Rentenökonomien, in denen das Wachstum durch die ausländische, vor allem asiatische, Nachfrage angeheizt wird.

Die Kehrseite des Wachstums ist das unermessliche Elend zahlreicher Völker. Gemessen an seiner Bevölkerung hat Afrika heute die höchste Hungerrate der Welt: 35,2 Prozent seiner Bevölkerung sind permanent schwerstens unterernährt. Afrika ist ein Bettler, der auf einem Goldberg sitzt.

Ich war kürzlich in Goma in der Republik Kongo, der einst stolzen Metropole von Nord-Kivu, die im Ostafrikanischen Grabenbruch am Fuße der Virunga-Vulkanberge liegt. Dort erlebte ich, dass eine banale Infektion tödlich sein kann. Dass die Krankenhäuser keine Antibiotika haben. Dass die anderen Medikamente knapp sind. Im Kongo fordern Krankheiten, die die Medizin seit Langem besiegt hat, jedes Jahr Hunderttausende von Opfern. Die medizinische Grundversorgung ist mangels staatlicher Investitionen praktisch zusammengebrochen.

Afrika erfreut sich einer enormen demografischen Vitalität. 2014 waren 65 Prozent der Afrikaner jünger als dreißig Jahre, in Europa hingegen nur 29 Prozent. 2005 machten die Afrikaner 12 Prozent der Weltbevölkerung aus, 2050 werden es bereits 22 Prozent sein. 2007 zählte Afrika 960 Millionen Einwohner, 2025 werden es 1,4 Milliarden sein und 2050 2 Milliarden. Aber diese Menschen müssen die Folgen einer erdrückenden Staatsverschuldung tragen, einer vor allem durch ausländische Investoren induzierten Korruption, unzureichender Investitionen in die lokalen Unternehmen, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie in die Infrastruktur; sie müssen zusehen, wie ihre Bodenschätze durch multinationale Konzerne geplündert werden und die Massenarbeitslosigkeit steigt.

Doch wie man weiß, handeln die privaten multinationalen Konzerne in vollem Einklang mit den Regierungen ihrer Heimatländer – und manchmal sogar mit deren aktiver Unterstützung.

Somit praktizieren die Mitglieder der like minded group gegenüber den armen Ländern der südlichen Hemisphäre das Gesetz des Dschungels, die Politik des Stärkeren. Sie negieren die Werte, die sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen verkünden und hochhalten. Maurice Duverger, Professor für Verfassungsrecht an der Sorbonne und Kolumnist der Zeitung Le Monde, hat zur Zeit des Vietnamkriegs ein solches Verhalten als »äußeren Faschismus« bezeichnet.155

Man muss in Maniema, in Kivu und Katanga im Osten des Kongo, in den Tälern des Sambesi in Sambia und Mosambik oder auch im angolesischen Benguela die Gettos gesehen haben, die multinationale Konzerne wie Glencore, Anaconda Copper oder Rio Tinto für ihre Minenarbeiter errichtet haben. Diese Gettos werden von bis an die Zähne bewaffneten Privatmilizen bewacht. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung. Die Ausbeutung der Arbeiter – Bergleute, Steinbrecher, Transportarbeiter und so weiter – macht ganze Völker zu Sklaven: die Bafulero, die Bashi, die Bateke. Nie werde ich die verängstigten Blicke vergessen, die ausgemergelten Körper der jungen Männer, die für einen Hungerlohn in den Coltan-Minen in Kivu schuften, ständig bedroht durch Milizionäre. In der Region Kivu lagern 60 bis 80 Prozent der weltweiten Reserven dieses strategisch wichtigen Erzes, das für die Produktion elektronischer Bauteile156, von Handys und Flugzeugen unerlässlich ist.

Die Nation ist eine der wunderbarsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Die Soziologie kann einen wichtigen Beitrag leisten, um sektiererische Verirrungen, Fundamentalismen und rassistische Tendenzen zu bekämpfen. Sie spielt auch eine entscheidende Rolle beim Kampf gegen den »äußeren Faschismus«, den so viele westliche Länder gegenüber den Völkern der südlichen Hemisphäre ausüben.

125 Voltaire, Essai sur les mœrs et l’esprit des nations, in Œuvres complètes, Paris 1778.

126 Ebenda.

127 Zu dem Problem, das das Konzept einer »nationalen Klasse« aufwirft, siehe Georges Haupt, Michael Löwy, Claudie Weill, Les Marxistes et la question nationale, 1848–1914, Paris 1974, Neuaufl. Paris 1997.

128 Jacques Berque, Beitrag bei der Sommeruniversität in Tabarka, August 1977.

129 Siehe dazu Olivier Bétourné, Aglaïa I. Hartig, Penser l’histoire de la Révolution. Deux siècles de passion française, Paris 1989.

130 Siehe dazu Samir Amin, Classe et nation, Paris 1979.

131 Erschienen im Verlag Émile Paul, Paris 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

132 Kurzform von Lega Nord per l’Indipendenza della Padania.

133 Die Abstimmung vom 9. Februar über die Initiative der SVP brachte eine Mehrheit von 51,34 Prozent Ja-Stimmen.

134 Claude Lévi-Strauss, Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter Leitung von Claude Lévi-Strauss, Stuttgart 1980, S. 7.

135 Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, Frankfurt am Main 2000, S. 35.

136 Claude Lévi-Strauss, Der Blick aus der Ferne, Frankfurt am Main 1993, S. 13 f.

137 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundzüge des Staatsrechts, Stuttgart 2001 (franz. Originalausgabe 1762). Diese Schrift lenkte das Konzept der Volkssouveränität und den Aufbau der modernen Nation in eine ganz neue Richtung.

138 Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, a. a. O.

139 Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, Frankfurt am Main 1990, S. 561.

140 Alain Touraine im Gespräch mit dem Autor.

141 Padmore hat ein umfangreiches unveröffentlichtes Werk hinterlassen, das in der Padmore Library in Ghana aufbewahrt wird. Von den veröffentlichten Schriften ist insb. zu nennen Panafricanisme ou communisme? La prochaine lutte pour l’Afrique, Paris 1961.

142 Sein Buch La violence d’un pays et autres écrits anticolonialistes, das er dem Senegal gewidmet hat, ist ein zu Unrecht vergessener Klassiker der afrikanischen Literatur (letzte Ausgabe Paris 2012).

143 Franklin D. Roosevelt, Rede vom 11. Januar 1944 vor dem Kongress der Vereinigten Staaten.

144 In den 1960er-Jahren verwendete Nicos Poulantzas diesen Begriff aus dem Portugiesischen (comprador, der Käufer) zur Abgrenzung dieser speziellen Form der Bourgeoisie, die ihr Geld mit Dienstleistungen für ausländische Konzerne bezieht, von der »inneren« Bourgeoisie, die an der Produktion einheimischer Reichtümer interessiert ist.

145 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1981, S. 130.

146 Das Fria-Konsortium gründete 1957, ein Jahr bevor Guinea unabhängig wurde, die erste Aluminiumfabrik. Sie ging später an die amerikanische Firma Reynolds Metals über und wurde 2003 von dem russischen Konzern Rusal aufgekauft, dem Weltmarktführer bei Bauxit. 2012 schloss Rusal die Fabrik und hinterließ eine durch die Arbeitslosigkeit zerstörte Stadt.

147 Über den Tod von Ouandié vgl. Mongo Beti, Main basse sur le Cameroun, Paris 1972.

148 Philippe Bernert, SDECE Service 7. L’histoire extraordinaire du colonel Le Roy-Finville et de ses clandestins, Paris 1980.

149 Vgl. den »Annexe documentaire« in Henri Brunschwig, Le Partage de l’Afrique, Paris 1971, Reihe »Questions d’histoire«, S. 112 ff.

150 Edward E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, erstmals erschienen Oxford 1937 (gekürzte deutsche Ausgabe: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt am Main 1978) und The Nuer. A Description of the Modes of Livelihood and Political Institutions of A Nilotic People, Oxford 1940.

151 Le Monde, 23. April 2014.

152 Zitiert bei Jean-Philippe Domecq, Robespierre, derniers temps, Paris 1984.

153 Illicit Financial Flows from Developing Countries, 2009-2011.

154 Ebenda.

155 Maurice Duverger, »Le fascisme extérieur«, Le Monde, 9. Februar 1966.

156 Im Jahr 2000 sollen eine weltweite Knappheit und der Preisanstieg bei Tantal, das aus Coltan-Erz gewonnen wird, verhindert haben, dass Sony seine PlayStation 2 in ausreichender Stückzahl produzieren konnte.