5.

In Ulm, um Ulm, um Ulm herum

Äußerst dynamisch, jedoch zuvorkommend, höchst besorgt und charmant entschuldigend war der Manfred seinem glänzenden roten (und durch Uns schuldhaften) Ferrucci entsprungen, um sich um die beiden Damen zu kümmern, deren tannengrünes Sportsmobil an der rechten vorderen Reifenüberwölbung tief eingedellt war von einem gänzlich ungerührten Betonpfeiler der Tiefgarage. Rasch halfen Wir der schwarz Pudellockigen, die sich verwirrt mit einer vielfach ringgeschmückten Hand die Stirn hielt, aus dem Wagen, dann der silberblonden, grimmig Schauenden mit ihren größeren Volumina. Alles sei allein seine Schuld gewesen, beteuerte der Manfred, da liege kein Zweifel vor. Wie die Damen sich fühlten? Ob er einen Arzt verständigen solle, sonst irgendwie behilflich sein oder lindernd wirken könne? Dass er für alle Folgen des Unfalls aufkäme, wäre selbstverständlich, darüber bräuchte man sich keine Sorgen zu machen.

Nachdem er sich noch einige Male, auch durch sanftes Berühren verschiedener peripherer Körperteile der Geschädigten, vergewissert hatte, dass sie körperlich wohlauf waren, schlug der Manfred vor, den Unfallschaden ohne lästige Polizei zu regulieren, indem er persönlich das Sportsmobil, das ja noch fahrtüchtig zu sein scheine, in eine Werkstatt bringe und dort auf seine Kosten reparieren lasse. Für die Zwischenzeit würde er den Damen dann einfach und ab sofort seinen funkelnden Ferrucci zur Verfügung stellen, dessen Bedienung er ihnen gerne in einer kleinen Fahrstunde darlegen würde, sobald sie sich, bei einer guten Tasse Tee vielleicht, in seiner Wohnung allesamt beruhigt und noch einmal besprochen hätten.

Erst als sie dann auch wirklich (den Damen schien wie erhofft ein vergnüglicher Leichtsinn zu eigen) in Manfreds Livingroom saßen, ein jeder bei einem Tässchen Earl Grey, komponiert aus schwarzem China-Blatt und weißem Pai Mu Tan, zu dessen Vervollkommnung der Manfred gewandt einen kleinen Spritzer frisch gepressten Zitronensafts anbot, kamen die unfallgeschädigten, jedoch schon sehr heiter gestimmten Nachbarinnen dazu, sich vorzustellen. Es handelte sich um Meike und Silke, auf eine vielsagende, mehrschichtige Art!

MEIKE: Ich bin Meike.

SILKE: Aber auch Isabel.

MEIKE: Sie ist Silke.

SILKE: Aber auch Marina.

MANFRED (in der Stille seines Schädels im Dialog mit Uns): Pudellockig ist gleich Meike-Isabel, Silberblond ist gleich Silke-Marina.)

MEIKE: Wir sind —

SILKE: Krankenschwestern!

MEIKE: Yoga-Lehrerinnen?

SILKE: Aber auch Köchinnen.

MEIKE: Und Friseusen.

SILKE: Stewardessen.

MEIKE: Oder Hostessen.

SILKE: Mätressen!

MEIKE: Delikatessen!

SILKE: Petitessen!

MEIKE: Was ist das denn für ein Beruf?

SILKE: Passend zu Delikatessen wie Ober zu Koch!

Alles das, verkündete der Manfred, habe er unbedingt nötig. Wie hätte er nun nicht, zur Steigerung der Erheiterung, einen kleinen Stregazotti anbieten müssen (Silke: Aber nur einen Spritzer! Meike: Und noch einen bitte, ins zweite Gefäß!), und wie hätten Wir bei all diesen Meike-Silke-Isabel-Marina-Doppeldeutigkeiten nicht an Eleonore Albertine Chevignard de Chavigny denken sollen, während die Damen immer entspannter mit ihren Gläschen in ihre Designer-Sesselchen zurücksanken und sich mit viel- oder wenigstens doppeltsagenden Blicken auf die gemalten Lustbarkeiten des Hieronymus auf ihre Fahrstunden im Ferrucci freuten?

Der fröhliche Blechschaden des tannengrünen englischen Sportsmobils (ein Gefährt, das Ada gut angestanden hätte, wäre es ihr vergönnt gewesen, einhundertzwanzig Jahre länger zu leben, eine Kinder- und Jugendzeit für Unsereinen), hatte den Manfred hübsch aufgewühlt. Kaum schien er imstande zu begreifen, auf welch elegante Weise er mit den beiden munteren Damen zu einem Arrangement gekommen war. Ihren Autoschlüssel lange in der Mulde seiner Hand wärmend, als müsste er die daran befestigte silberne Raubkatze mitten in ihrem ewigen Sprung tröstend umfangen, sank er, an seinem Küchentisch sitzend, in die angenehmsten und verborgensten Erinnerungen zurück. Eben hier und jetzt öffneten Wir den Spion zum größten Öffnungswinkel, weiteten ihn zum Fenster und blickten endlich — auf die Gefahr hin, dass der Manfred zurücksah und unter Einbuße seiner geistigen Gesundheit Umrisse Unserer wahren Gestalt erhaschte — in die bislang so sorgsam verschlossenen Geheimarchive seines Gedächtnisses, nämlich den Sabine-Tresor.

Uns interessierten hier selbstredend weniger die kleinen Spritzer im Detail als der Gesamteindruck jener vierzehn Tage, die der Manfred bislang wie einen inneren Augapfel vor Unserem Zugriff gehütet hatte. In seinem dritten Jahr an der traurig eitlen Kleinuniversität seine Heimatstadt war es tatsächlich geschehen, dass die zu Schulzeiten aussichtslos vergötterte und zur Studienzeit allenfalls fern am Horizont vorbeiziehende Sabine an der Tür seiner alten Bude läutete und ihm regelrecht in die Arme fiel. Sie befand sich in einer recht aufgelösten Verfassung. Es war ein milder Herbsttag, aber sie hatte sich in einem dicken Wintermantel versteckt. Darunter trug sie eine Art Nachthemd, an den nackten Füßen weiße Sports-Schuhe mit einem offenen Schnürsenkel. Ihr prachtvolles pantherschwarzes Haar wirkte zerdrückt und wirr wie die Borsten eines zwar neuwertigen, jedoch längere Zeit von einem größeren Gewicht gequetschten Besens. Als sie ihr tränennasses Gesicht hob, erschrak er von ihrem verschmierten Lippenstift und einem violetten Bluterguss unter ihrem rechten Auge.

Sie war auf der Flucht, sie verlangte Asyl, sie wollte Ruhe und Geborgenheit, sie brauchte jemanden, dem sie blind vertrauen konnte. Da sei ihr nur noch der Manfred eingefallen, ihr guter alter Schulkamerad, der Einzige in der Klasse, mit dem man schon damals ein gutes Gespräch (welches nur?) habe führen können (ihm fiel keines ein).

Die folgenden Tage scheinen für den Manfred seltsam unwirklich gewesen zu sein, denn sein Hirn weiß bis heute nicht, wo es sie einordnen soll zwischen Märchen, Wunschträumen, absurden Realien und schwülstigen Fantasien. Schneewittchen isst Marmeladenbrot und weint an seinem wackeligen Küchentisch. Die Traumgestalt seiner hinters Pult gezwängten Schülerseele rüttelt an den störrischen Plexiglaswänden der Duschkabine in seinem engen Bad und öffnet sie dampfend, kurz bevor er ihr von außen beispringen kann — strahlendes Ebenholzhaargeschöpf, nass überperlt, schwarz, weiß und himbeerrot, pudelschwarz (kleiner Hund), ein langes Bein hebend, als sollte (und er wollte) er den dargebotenen schmalen Fußrücken küssen. Ein Eisbeutel für den Bluterguss, Tee (hat er nicht, doch, es gibt zwei mumifizierte Säckchen am Grund einer Blechdose) für die innere Wärme, Manfreds heiße Ohren, geduldig alles aufnehmend, was die dramatische Studentin der Theaterwissenschaft ihm erzählt über ihre zwei Liebhaber und den anderen, den dritten, einen leibhaftigen Stückeschreiber, faszinierend wild, jedoch ein wenig gewalttätig, wie man an ihrem Auge sehen konnte.

Manfred räumte auf, kaufte ein, kochte die wenigen Gerichte seines Repertoires und lernte zwei neue, wenn auch fragwürdige dazu. Im Spiegelsalon seines Hirns finden sich einige mit wohlwollenden Rahmen versehene Selbstbildnisse, welche Unseren Helden (noch nicht im von Uns an Gestalt, Gebiss und Gewohnheiten aufgebesserten Zustand, jedoch wenigstens jugendfrisch und rank) bei durchaus gentlemanhaften Aktionen zeigen, etwa dem unermüdlichen Anreichen von Papiertaschentüchern für den Tränenstrom der Sabine, dem peinlichen, aber notwendigen Einkauf eines Minimums an Damenunter- wie Oberbekleidung in einem so genannten Pinky-Market oder dem allabendlichen Vorlesen von Theaterstücken aus einer Klassiker-Kassette, die ihm seine Patentante zur bislang drastisch unterbliebenen kulturellen Aufbesserung an seinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Auch sah er an etlichen Abenden USA-Filme mit der schauspielbegeisterten alten Schulkameradin und er spielte mit ihr Schach, wobei sie beim Stand von sechs zu sechs endeten, da die Sabine einmal sehr unaufmerksam und kindisch, einmal mit geradezu diabolischer Raffinesse ihre Figuren zu arrangieren pflegte.

Am Ende des mehrwöchigen Asyls, dessen intimen, pink-pinkyhaften Bilderbogen der Manfred in seinem Gedächtnis bislang erfolgreich vor Uns verborgen hatte wie eine kleine Schatzkammer (oder ein Geschlechtsteil-Tabernakel — vage erinnern Wir Uns an den Brauch, seine Fortpflanzungsorgane vor einer kriegerischen Auseinandersetzung abzunehmen und wegzuschließen, wissen aber nicht, ob es sich um eine träumerische Abwegigkeit handelt oder um eine martialische Sitte auf CHYHTEM!NERIA … Risse … fahles Licht, das durch die sonst undurchdringlichen Vorhänge der Blendung fällt), am Ende des Asyls jedenfalls waren dem Manfred gute Grundkenntnisse der Menschlings-Dramatik (zehn von ihm selbst vorgetragene Theaterstücke) zuteilgeworden, leider auch eine Fülle quälender, bizarrer Details aus dem Familien- und Liebesleben der Sabine. Er hatte sich bemüht, seine Geschlechtsteile in einem fernen Depot zu verschließen wie ein chyhtem!nerianischer Krieger, da die Sabine fortwährend vor seinen Augen der Duschkabine entstieg oder sich in sie hineinbegab, wenn sie nicht gerade die von ihm schamhaft erstandenen Pinky-Kleider an- und auszog, an jeder Stelle seiner engen Behausung. Wie um ihn noch härter zu prüfen, bestand die Sabine darauf, neben seinem tröstlichen, noch ganz flach-mageren Körper auf der Bettstatt zu schlafen (hätte er doch nur auch sein flehendes Gehirn in ein Depot stecken können).

Schließlich klingelte es Sturm in der Nacht, machte es einen gewaltigen Bumms, hämmerte es an der lausig-klapprigen Wohnungstür und schrie durch sie hindurch. Das war ohne Zweifel der alkoholisierte Stückeschreiber und aggressive Liebhaber Nummer drei, der die Asylunterkunft der Sabine ausfindig gemacht hatte. Eine dramatisch schwarzweiß gefilmte und wild geschnittene Sequenz im Gedächtnis des Manfred zeigt ihn neben der verschreckten Sabine die Bettdecke von sich werfen. Schon steht er in fragwürdiger Aufmachung barfüßig im Flur, während der Stückeschreiber weiterhin brüllt und mit den Fäusten trommelt. Endlich fällt die Kette des Schlosses herab und die malträtierte Tür wird aufgerissen. Manfred und ein in schwarzes Leder gehüllter, von einem schwarzen Räuberbart wie vermummter, mit einer schwarzen Lederkappe beschirmter trunkener Dramatiker, dessen Kugelbauch ein schwarzes T-Shirt unter der geöffneten Schweinehautjacke spannt, stehen sich direkt gegenüber und erkennen nach einer Schrecksekunde beinahe mit derselben Verblüffung das ansehnliche Filetiermesser in Manfreds rechter Hand, das er beim Durchqueren der Küche aus einem hölzernen Block gezogen hat.

Der schwarze Herr habe die Wahl, weiterhin Lärm zu schlagen, woraufhin er, der Manfred, die Polizei zu rufen gedenke, oder den Versuch zu machen, die Wohnung zu betreten, auf die Gefahr hin, filetiert zu werden (»in diese Klinge zu laufen!«), erklärte Unser Held, gemäß seiner Gedächtnisaufzeichnung mit einer erstaunlich ruhigen Stimme, beinahe, als hätten Wir ihn auch damals schon mühelos beschützen und in den Besitz der Kleinen Zeitlupe versetzen können.

Nun wirkte der schwarze Dramatiker jäh ernüchtert und er wählte die gar nicht dargebotene Alternative des schweigenden Abgangs. Tags darauf war allerdings auch die Sabine verschwunden. Eine Woche später erblickte der Manfred — mit dem Gefühl eines jähen Boxschlags in die Magengrube — die von ihm sieben Wochen lang Beherbergte in der Nähe des städtischen Theaters Arm in Arm mit dem nächtlichen Ruhestörer. Während jener vom Anblick des Manfreds völlig unberührt schien, winkte die Sabine knapp und freundlich auf die andere Straßenseite hinüber.

Es machte die Sache für Unseren Klienten nicht leichter, dass die Sabine in einer besonderen Nacht ihres Asyls eine Flasche Weißwein geleert und daraufhin den Manfred in ihre trunkene Schmelze mit hineingezogen hatte. In einer weiteren Nacht, kurz vor ihrem Verschwinden, schien sie eine Art paradoxes hygienisches Bedürfnis ergriffen zu haben, denn kaum war sie der Dusche entsprungen, lüpfte sie die Bettdecke des Manfred und säuberte mit der Zunge seinen Nabel, während sie ihn innig mit ihrem Hinterteil küsste. Auch dieser Vorgang, der in Manfreds innerem Kino Tausende von Aufführungen erlebte, bis er vollkommen unglaubwürdig, verrauscht, zerkratzt und verflimmert war wie ein alter Zelluloidstreifen (Wir erinnern Uns bisweilen gerne an die eine oder andere versunkene Negativtechnik der Menschlinge), trug wohl dazu bei, dass der Manfred vom geraden Pfad seiner Studienabsichten abkam und still und nutzlos vor sich hinwucherte, bis Wir in ihm landeten, ohne ihn direkt gemeint zu haben.

Es waren auch recht krumme Wege, auf denen der Descartes in das tief verschneite Ulm einritt. Als er beim Anblick einer segelnden Schneeflocke an den Astronomen Kepler dachte, lebte er schon mehr als einen Monat in der Stadt. Er hatte noch einmal die vor den Toren lagernde Armee des Bayern besucht, um zu erfahren, dass man noch längere Zeit dort ausharren und die Kräfte sammeln werde, bevor es nach Prag gegen den Pfälzer ging. So konnte der junge Cartesius weiter sein Leben als müßiger Edelmann in der Stadt genießen, in der er — dank Unserer Quartierwahl — vor einer der Unannehmlichkeiten geschützt war, die er am meisten hasste, der Kälte des Winters nämlich. Statt in einem Armeezelt auf dem bloßem Feld einzufrieren wie ein gelagertes Stück Wildbret durfte er behaglich seinen Lieblingsbeschäftigungen frönen, also lange und gründlich nachdenken und sich mit Gleichgesinnten austauschen, zu denen er mit Hilfe des Empfehlungsschreibens des Oraniers leichten Zugang zu finden hoffte. Sanft hatten Wir ihn und sein (animalisches) Pferd gleich bei seinem ersten Einritt in die Stadt zu einer Herberge nahe dem Spital und der Stadtmauer gelenkt. 

Der Cartesius bildete sich ein, etwas wie eine angeborene Nest-Idee habe ihn zu der eher unauffälligen, aber von mächtigen Mauern umgebenen Herberge mit dem geräumigen Stall geführt. Jedoch kannten Wir das Haus von einem zweihundertsechzig Jahre in der Zukunft seiner Menschlingsgegenwart liegenden Einsatzes her als außerordentlich solides und gut isoliertes Bauwerk und wussten auch, dass in angenehmer Nähe der Rechenmeister Johann Faulhaber lebte, für den eines seiner Empfehlungsschreiben bestimmt war.

Ulmense sunt mathematici war in diesen und jenen Holzbalken geschnitzt und in so manchen hiesigen Stein gemeißelt. Daran mochte es liegen, dass sie keinen langen Balken durch ein Tor tragen konnten, aber die Chroniken des Äußeren Amtes fünf Einsätze im Rahmen von drei Jahrhunderten in dieser verwinkelten Stadt mit den spitzgiebeligen Fachwerkhäusern verzeichneten, die sich um die schroffe graue Glucke des Münsters scharten. Wir sind hierbei nicht der monotonen temporären Ablauflogik der Menschlinge gefolgt. Dass die vermeintlich hintereinandergelegten Zeiten, jene Myriaden von Abschnitten, die wie Maßzentimeter das große chronologische Band ausfüllen, voneinander gelöst und wie von einem gewaltigen Jongleur durcheinandergewirbelt werden konnten, würde ja auch der Descartes einmal klar niederschreiben: »Die ganze Lebenszeit kann nämlich in unzählige Teile zerlegt werden, und jeder dieser Teile ist ganz unabhängig von den übrigen.« So verhält es sich mit der Menschlingszeit für einen der Unsrigen. Also besuchten, behandelten, befriedeten Wir in diesem verschachtelten Ulm sowohl die in den Menschlingschroniken nirgends erwähnte, genialisch-wirre Schneiderin Karla Lagentreu, welche im Jahr der Französischen Revolution dem Wahnsinn verfiel, längere Zeit nachdem Wir Uns um den so genannten Einstein bemüht hatten, der seit den zwanziger Jahren ihres so genannten Zwanzigsten Jahrhunderts in jedem Lexikon der Menschlinge steht und als ungeheuer bedrohlicher, aber doch auch als ungeheuer elegant gelöster Fall Eingang in das Goldene Buch des Äußeren Amtes gefunden hat.

Bei dem Descartes spürten Wir im Übrigen dieselbe unbändige geistige Energie wie bei dem kleinen Ulmer Albertle Einstein, das an einem sonnigen Freitagmittag des Menschlingsjahres 1879 in diese verriegelte Welt kam, mit einem so mächtigen würfelförmigen Hinterkopf, dass der Arzt die junge Mutter nur mit Mühe hatte beschwichtigen können. Das Äußere Amt wurde erst fünfzehn Jahre später alarmiert, als der träumerische Intellekt des pubertären Einstein einen Lichtstrahl überholte, so dass mit einem Mal das Porträt eines aberwitzigen Ulmer Menschlingsjünglings in einer der ruhigsten meditativen Zonen des Krasschgathors aufblitzte. Dies kann man für Menschlinge nur mit einem Lausbubenstreich vergleichen, bei denen der Lichtreflex eines Taschenspiegels oder der flinke Strahl eines Laserpointers störend durch die würdigen höhere Sphären eines Konzils oder einer wichtigen Kabinettssitzung huscht und flackert — durch die meterdicken, für absolut sicher gehaltenen, vollkommen fensterlosen Bunkerraum hindurch, der Schale aus Anderer Materie, die Wir um die Welt des Descartes und der seinen geschlossen haben.

Um ebensolche Umhüllungen des bescheidenen Ensembles von Planeten, die um die irdische Sonne kreisen, die meisten völlig unbrauchbar und mit den absonderlichsten unwirtlichen Klimaten gestraft, ging es bald in etlichen Gesprächen zwischen dem Faulhaber und dem Cartesius. Der Rechenmeister lebte in einem engen, aber hohen Haus, dessen niedrige Stockwerke von umherwirbelnden Kindern, einem Dutzend wenigstens, wie von kreischenden Meteoriten und irren Kleinkometen durchrast wurden. In einem halbrunden, von Bücherregalen und drei großen überladenen Arbeitstischen verrammelten Zimmer saß der Mathematikus wie eine Spinne im Netz seiner Gelehrsamkeit und Bastelwut (anscheinend konstruierte er leidenschaftlich Modelle von Belagerungsmaschinen und von Befestigungsanlagen, die ihnen widerstanden, als spielte er Schach gegen sich selbst). Von dem eintretenden jungen Mann, der ihm viel eher ein Soldat zu sein schien als ein Gelehrtenkollege, mochte er gleich wissen, ob ihm — da er ja einen zünftigen Degen trage und sein Empfehlungsschreiben von dem großen militärischen Genie Oraniens käme — der Fechtmeister Ludolph von Ceulen ein Begriff sei.

»Ich habe seinen berühmten Grabstein besucht«, erwiderte Descartes, »als ich in Leiden war, bei seinem ehemaligen Schüler Snellius.«

»Sind auf diesem Stein tatsächlich alle 35 Stellen eingraviert, die er gefunden hat?«, wollte der Rechenmeister wissen, einen prüfenden Blick aus den kastanienbraunen Augen unter einer stark gewölbten Stirn auf den jungen Ankömmling richtend.

»Die Ludolphische Zahl, ja, 35 Stellen der Obergrenze, 35 Stellen der Untergrenze, innerhalb eines Kreises, dessen Rand von den 35 Stellen des Mittels umschrieben wird.«

»Wie viele können Sie auswendig?«

»3,1.415.926.535

»Also zehn hinter dem Komma, aha.« Der Faulhaber wirkte nun schon freundlicher und zupfte anscheinend genussvoll seinen Kinnbart. »Sie wissen vielleicht, dass man mich den deutschen Archimedes nennt? — Sagen Sie, ich habe hier ein interessantes Blatt. Können Sie etwas damit anfangen?« Sein Latein war knorrig und fehlerhaft, aber er konnte ausdrücken, was er wollte. Mit einem plötzlichen Ruck hatte er dem Cartesius eine Zeichnung vorgelegt, auf der man den rechten Bogen einer Kreislinie sah, in die ein großes, mit der Spitze nach links weisendes Dreieck eingeflogen schien wie eine Pfeilspitze in eine Seifenblase. Die Kuppe eines Faulhaber’schen Fingers tippte auf eine Linie, welche die Schnittpunkte der Dreieckseiten mit dem Kreisbogen verband.

»Eine von Trillionen Seiten«, sagte der junge Soldat gelassen.

»Die wir auf welche Art berechnen?« Faulhaber lächelte aber schon und hatte sich schon halb erhoben. Auf der Lehne seines dunklen hölzernen Stuhls saßen als Abschluss die faustgroßen geschnitzten Köpfe von Männern, die wohl alles andere als Holzschädel gewesen sein sollten, allerdings sehr wenig den antiken Gelehrten glichen wie sie vor Unser Auge getreten waren (darunter zwei nicht unbedingt platonische Klienten).

»Wir subtrahieren von vier die Seitenlänge des Vielecks mit der halben Eckenzahl, ziehen die Wurzel — «

»Merci bien, das genügt, junger Kollege, gratias ago!« Faulhaber stand nun ganz aufrecht und freudestrahlend hinter seinem Tisch und legte ein kleines Büchlein auf das Blatt mit dem gezeichneten Kreisbogen. »Dieses kleine Werk möchte ich Ihnen schenken und Sie bitten, mir von Ihrem Eindruck zu berichten, wenn Sie länger in der Stadt bleiben.«

Cubicossischer Lustgarten stand auf dem Buchdeckel, und mit der herzlich dankenden Entgegennahme des mathematischen Übungsbuches aus der Feder des Meisters begann eine Reihe vergnügter gemeinsamer Rechenstunden, in denen sie eine unsägliche Mischung aus Latein, Deutsch und Französisch radebrechten, die zu verstehen selbst Unsereinem nicht ganz leichtfiel.

Seit Wir tiefer in die cubicossischen Lustqualen des Manfred haben schauen müssen, empfinden Wir stärker mit ihm, wenn er im Gassengewirr seiner Stadt, welche aus Unserer Sicht sowohl dem alten Ulm gleicht als auch einem Irrgarten für Laborratten, auf die leibhaftige Sabine trifft. Immerhin hat Uns der nächtliche Auftritt mit dem Filetiermesser imponiert, und abgesehen davon, dass Unser Forschungsgang nun einmal durch die Ada-gleiche alte Schulfreundin hindurchzuführen scheint, sind Wir geneigt, dem Manfred bei ihr etwas voranzuhelfen, auch wenn ihr Glacis, ihre Vortürme, die Bollwerke und Schanzen, die sie um sich herum errichtet hat, durchaus den Festungsbaumeister Faulhaber hätten beeindrucken (und reizen) können.

Der Manfred hatte gerade das vornehme dunkelgrüne alte Sportsmobil der Meike-Isabel und Silke-Marina von der Reparatur abgeholt und vor dem Teeladen geparkt, in dem Wir ihn seit einiger Zeit besondere Sorten einkaufen ließen, um seinen Geist (soweit vorhanden) zu schärfen und zu beruhigen, als er erneut auf die Sabine stieß.

Ein jedes Mal, dachten Wir mit Unserer neuen Einfühlsamkeit, lässt sie ihn gegen ihren hohen Felsen prallen, weil sie ganz gewiss mit seiner hündischen Ergebenheit und stillen Brunst rechnen kann. Ihr Blick traf belustigt die braune, golden beschriftete Tüte mit exquisiten teas, während der seine an ihrer hohen Gestalt im blaugrauen Daunenmantel hinabglitt bis zu ihren Händen, die sich gegenseitig aus rosenroten Tierhautfingerlingen befreiten, so dass ihre Rechte bald nackt und etwas semifreddo in seine Rechte gleiten konnte wie ein Schwan, der flüchtig auf einem Stück erregten Holzes ausruht.

»Du trinkst Tees, ich staune«, erklärte sie ruhig.

»Man hat subtilere Ideen — als Teetrinker«, versicherte er, von der eigenen Antwort überrascht.

»Wenn du programmierst, etwa den CARTESIO

»Zum Beispiel.«

Die Sabine nickte wie beeindruckt. Übermorgen fände die Party in ihrem Haus, der Villa Mathilda, statt, benannt nach ihrer verstorbenen Mutter und gerade frisch restauriert von ihr und dem architekturverrückten Ronald, welcher sich wirklich sehr auf Manfreds Kommen freue. Einige ihrer nachfolgenden Sätze verrauschten ohne Resonanz im Hirn Unseres Klienten, der sich wenig für die Frau Mathilda interessierte. Seine Aufmerksamkeit beschränkte sich seltsam auf den linken Mundwinkel der Sabine. Doch halt, da wollte sie wieder etwas von ihm: Wie er an ihrer postalisch zugegangenen Einladungskarte habe sehen können, gelte die Einladung auch für eine Begleitung.

»Ich werde eine gute Freundin mitbringen«, sagte er und blieb vor dem grünen Sportsmobil stehen, vor das sie nun hingeschlendert waren.

»Schon wieder ein überraschendes Auto! Aber dieses Mal ein geschmackvolles, ein Oldtimer, sehr elegant«, meinte die Sabine, ihre Verwunderung über die Leichtigkeit, mit der sich Manfred Damenbegleitung verschaffen konnte, auf das grüne Blech umlenkend.

»Nun, ich bin ja doch eher dezent«, versicherte er zum Abschied.

Als er rückwärts von dannen fuhr, den Hochmut der Sabine fahrlässig schnell verkleinernd, jedoch von Uns, seinem Autopiloten, achtsam gelenkt, fasste er zwei interessante Beschlüsse. Erstens würde er den beiden fidelen Nachbarinnen anbieten, noch für eine längere Weile den sie begeisternden Ferrucci fahren zu dürfen, da er das Sportsmobil so angenehm nostalgisch fände und sich gut damit behelfen könne. Zweites würde er die Partybegleitung der Meike-Isabel antragen. Sie erschien Uns in ihrer pudellockigen, exaltierten und schwarzledernen Art provokanter und somit besser geeignet, die vornehme Sabine zu verwirren. Zufrieden tippte Manfred auf das Gaspedal und ließ das hölzerne Lenkrad durch seine Finger gleiten. Er würde sich sportive Handschuhe besorgen.

Bezüglich seiner Begeisterung für umweltschädigende Fahrzeuge inmitten einer Kleinstadt, die selbst ihre kleinsten Nachkommen den giftigen Dampfschwaden ihres Verkehrs aussetzte, erinnern Wir — rein theoretisch, ohne Hoffnung auf ein baldiges Vorankommen der Menschlinge — an die

Fünfte Qualifikation

Man verlässt den Planeten so, wie man ihn vorgefunden hat! Jede Zivilisation, die sich des Sprungs in die Sphäre der Höheren Zivilisationen als würdig erweisen möchte, muss zuvor den bislang von ihr bewohnten Planeten in seinen ursprünglichen oder einen ihm gleichwertigen Zustand zurückversetzt haben, zuverlässig, wenigstens über eine Periode von zehn Generationen der jeweils höchsten und somit für die planetarische Stubenordnung verantwortlichen Lebensform. (Bio-Öko-Klausel).

Von Mutter Mathilda war offenkundig an der gleichnamigen Villa nicht mehr viel übrig geblieben. Am Südostrand der Stadt thronte der Bau oder Überbau eines alten Familienhäuschens in einer Art andalusischem Protzstil, schneeweiß, großfenstrig, mit einem runden Erkerflügel, der einen mittelalterlichen Wehrturm zitierte, auf ein Plateau aus hellem Stein gesetzt, welches in eine saphirblau leuchtende Schwimmpfütze überging (anscheinend aufgeheizt, da sie in der Winterkälte dampfte wie zur Verspottung der Fünften Qualifikation) und anschließend in einen schräg abfallenden dunklen Rasen, auf dem einige angestrahlte Figuren in antiken Posen befangen waren. Im Innenraum prunkte alles in weiß-goldenem Glanz. Marmor, Glas, Edelstahl und schwarzes Leder herrschten vor. Ausladende Leinwände, ohne erkenntliche Gegenstände vorherrschend meeresblau und feuerrot bemalt, schufen den Hintergrund für die Menge der geladenen Gäste, die sich zwanglos über mehrere ineinander übergehende Räume verteilten. Zurückhaltend, aber durchgängig fand man Christmas-Schmuck, goldene Kugeln, silberne Tannenzweige und ähnliches, aber keine weißbärtigen Schokoladenmänner und keine Elchtiere, die ihren Schlitten mit aufgestapelten Paketen zogen (etwas, das Uns eigentümlich berührt, vielleicht weil den Menschlingen Gaben gebracht werden oder diese Christmas-Wesen himmlischen Ursprungs sein sollen). Das X-Mas-Fest überhaupt erscheint Uns beachtlich, beruht es doch darauf, dass ein beträchtlicher Teil der Menschlinge zu glauben scheint, ein ungeheuerlicher GOT!HH sei in einen nahöstlichen Säugling gefahren und zu einem Menschling voller Weisheit und Liebe herangewachsen, den sie abschlachteten, als er knapp dreißig Jahre alt geworden war. Man sieht also, zu welch bitterer Selbstkritik diese Zivilisation im Grunde fähig ist.

Schnurrbärtig, hochgewachsen, breitbeinig begrüßte Uns der Ronald wie ein Kapitän auf seiner Brücke. Die Sabine als Gastgeberin trug ein bronzefarbenes Kleid, das zu seinem marineblauen Anzug nicht passte. Beide gaben sich entzückt, den Manfred empfangen zu dürfen, den Wir in einen schwarzen Maßanzug und handgenähtes Schuhwerk gesteckt hatten, und beide gaben sich überaus beeindruckt von seiner Begleiterin. Wir waren davon ausgegangen, dass die Meike-Isabel in engem schwarzen Leder wie ein frivoler X-Mas-Engel der körperlichen Erlösung erscheinen würde, aber sie trat in einem eleganten grauen Stoffmantel auf, unter dem ein glänzendes rotviolett-purpurfarbenes Kostüm zum Vorschein kam. Es lag immerhin so eng an ihrem Körper, dass man an eine reichlich gefüllte Pfingstrosenblüte dachte, insbesondere der wild glotzende Ronald und seine Geschlechtsgenossen.

Auch auf die Sabine, die Wir in Unruhe versetzen wollten, übte der päonische Reiz der Meike-Isabel den gewünschten Effekt aus, denn sie kam im Laufe des Abends immer wieder auf den Manfred zu, um sein Sektglas nachzufüllen, ihn auf besondere Spezereien des Buffets aufmerksam zu machen, mit ihm Nischen zu finden, in denen man einige persönliche Worte wechseln konnte. Kannte er seine wilde Pfingstrose schon lange, diese ehemalige Stewardess, die nun diversifizierte (so stellte sich Meike überall vor)? Wäre sie nicht zu offensiv für ihn, zu körperlich gewissermaßen?

Nachdem sich etwa einhundert Gäste (dreiundneunzig) versammelt und warmgeplaudert hatten, hielt der Ronald eine Ansprache, in welcher er zunächst seinen Freunden, darunter etlichen Investoren seiner kühnen Projekte, herzlich dankte. So wie seine Eltern Daisy und Zacharias Mackinson von der Idee der Sauberkeit her, beginnend mit der durchdachten Autobahntoilette, die Wurzel des Cleansmile-Konzerns gelegt hatten, so nutzten er und seine wunderbare Gattin Sabine nun das Cleansmile-Kapital als Wurzel zahlreicher ideeller und technologischer Initiativen, bei denen es sowohl um den Schutz als auch um die Erweiterung der industriellen und biologischen Grundlage des Menschen ginge. Die Bandbreite reiche dabei vollkommen organisch in Bezug auf die Familiengeschichte von der wasserfreien, preiswerten und Felddünger produzierenden Toilettenbox für Entwicklungsländer bis hin zur grünen Satellitentechnologie (integriertes Einsammeln von Weltraummüll). Auch scheinbar unverträgliche, weit voneinander entfernte Gebiete ließen sich durch die Klammer der fantasievollen Investition zusammenbringen. Plötzlich offenbarten sie dann tiefere Verwandtschaftsverhältnisse und weitreichende Synergien. Sie zeigten die wahren, puren Quellen der menschlichen Existenz auf, und Cleansmile potenziere ihre Kraft, indem man sie ineinander strömen ließe. So wäre es mit der Molekularbiologie, welche auf unseren Ursprung ziele als Lebewesen der Erde, und der Astronomie, welche uns deutlich mache, dass wir letzten Endes Wesen des Weltalls und der Sterne seien. Er wolle und dürfe noch nicht zu viel verraten, aber schon jetzt könne er für das kommende Frühjahr die Präsentation eines einzigartigen Projekts ankündigen, das mit seiner Verbindung von KI-Technologie und Astrophysik nichts weniger verspräche als einen vollkommen neuartigen Blick in die Tiefen des Universums. Dass diese Präsentation hier, in der Villa Mathilda, erfolgen würde, habe viele gute Gründe. Zunächst wolle man, wie auch am heutigen Abend, an die Mutter der Sabine erinnern, deren altes Familienhäuschen in diesem Gebäude aufgegangen sei, welches ihr gewiss gefallen hätte. Denn sie wäre eine zwar einfache, aber auch großzügige und äußerst gastfreundliche Natur gewesen. Wer die chemische Reinigung mit drei Filialen, die sie geführt habe, als eine der sauberen Quellen von Cleansmile ansehe, ebenso wie die Unternehmen der Mackinsons, liege nicht falsch, obgleich er, der Ronald, und seine geliebte Sabine, als sie sich hier in dieser Stadt als Oberschüler kennenlernten, wirklich an alles andere gedacht hätten als an die gemeinsame Führung eines sauberen globalen Unternehmens. (Gockelgelächter einer Herrenrunde an der Westseite des Buffets.)

Um also noch einmal dankend an den Ursprung all ihrer gemeinsamen Unternehmungen zu erinnern, würde die große Präsentation im Frühjahr eben hier, in dieser alten und traditionsreichen Universitätsstadt R. erfolgen. Und da man jetzt schon, parallel zur Fertigstellung der Villa Mathilda, auch gleichsam das Richtfest des astrophysikalischen Technologievorhabens feiere, über dessen ungeahnte Dimensionen er hier noch kein Sterbenswörtchen verlauten lassen dürfe, sei es ihm wenigstens erlaubt, einen Toast auf eine der wichtigsten Säulen der Unternehmung auszubringen, die er den Gästen eigentlich nicht vorzustellen bräuchte, da sie jedem durch ihre Tatkraft, ihre Weitsicht und ihre richtungsweisenden Auftritte in den Medien bekannt sei: die deutsche Forschungsministerin bei der Europäischen Union, Frau Prof. Dr. Dr. Sandström!

Man erhob die Gläser in Richtung der leuchtturmartig hervortretenden Sandström, einer hochgewachsenen, sehr kräftigen Erscheinung mit blau gerahmter Brille und einem hellen Strohwisch auf dem Haupt, eingeschlagen in eidechsenartig schillerndes Grün. Da Wir den Ronald und auch die Sabine mit einiger Sicherheit aus dem Kreis der Alarmverdächtigen ausschließen konnten, rückte jetzt die walkürenhafte Ministerin in Unseren Fokus, in dem sonst nur noch der Axel übrig geblieben war. Jener allerdings war entgegen Unserer Hoffnungen nicht auf der Party erschienen, obgleich Wir durch den Ronald selbst erfuhren, dass er im regen Austausch mit dem Cleansmile-Pärchen stehe und ganz entscheidend an dem großen Frühjahrsprojekt beteiligt sei.

»Er lebt äußerst zurückgezogen, vor allem aus gesundheitlichen Gründen«, versicherte Uns der Gastgeber im marineblauen Anzug, der — damit eine gewisse Aufmerksamkeit erregend — gleich nach seiner Ansprache zu dem Manfred und der päonisch schillernden Meike-Isabel getreten war. Letztere schien ihn sehr zu fesseln. Seine großen Augen rollten ihr regelrecht über das Glacis seines Schnurrbärtchens entgegen, und sie schien willens, sie in ihrem Dekolleté aufzufangen, ganz in der ihr eigenen gepuderten und lackierten Gelassenheit.

Im Laufe des Abends sprach die Sabine, als bronzefarbene schimmernde Figur mit einer antiken und wehrhaften Aura, in einer der Nischen, in die sie den Manfred zu manövrieren verstand, so distanziert vom menschlichen Körper an sich, dass Wir zu verstehen glaubten, weshalb sich die Okulare ihres Ehemanns so tief in die Pfingstrosenblätter der Meike-Isabel verirren wollten. Der Manfred, noch immer nicht von seiner praktischen Geschlechtstraurigkeit erlöst (Wir hatten bislang noch nicht entschieden, auf wen Wir ihn aufspringen lassen sollten, aber es wurde Zeit, bevor er sich ernsthaft etwas antat), jedoch insgesamt aufgelockert durch seine fröhlichen Austauschaktionen mit Meike-Silke, Marina-Isabel, wollte sichergehen, dass sie einen melancholischen Überdruss an allen körperlichen Freuden andeutete. Die Sabine berührte mit zwei Fingerspitzen eine gläserne Vase, welche sich auf ihrer Augenhöhe in einer Nische befand. Die Orchideenstiele darin erinnerten den Manfred unangenehm an die Terrarienobjekte ihres gemeinsamen Klassenkameraden Axel.

»Am Ende der Faszination steht die Perversion, am Ende der Perversion steht der Überdruss«, sagte sie, als hätte dies sehr viel mit den optisch vergrößerten Orchideenstielen hinter Glas zu tun und als wäre sie wie eine Göttin in ihrem wehrhaften Erz herabgestiegen, um allein dies zu verkünden.

»Vielleicht ist es nur Müdigkeit«, erwiderte der Manfred aus eigenem Antrieb (er hat kreative Momente).

Berührt wollte die Sabine näher an ihn herantreten, wurde aber von anderen Gästen in Beschlag genommen.

Einige Zeit danach, zwei Glas Champagner später, die Wir dem Manfred spendierten, um ihn frisch und locker zu halten für neue Kontakte, kam die Sabine erneut auf ihn zu. Gerade aber schloss sich ihm auch die Meike-Isabel wieder an, gleichfalls um zwei Glas erheiterter, um ihm zu versichern, wie großartig es von ihm wäre, ihr und der Silke-Marina weiterhin den Ferrucci zur Verfügung zu stellen. Sie führen jetzt auch öfter zu den Kunden hin (Krankenschwestern zu Patienten, Stewardessen zu Passagieren), welche hoch beeindruckt seien vom röhrenden Luxus des Sportwagens und dann ganz anders aus sich herausgingen.

»Bei der Müdigkeit stellt sich die Frage, ob es der Geist im Körper ist oder nur der Körper selbst«, erklärte die bronzefarbene Sabine, deren physische Pracht in ihrer Athena-haften Aufmachung (in den Menschlings-Manfreds-Augen) die zwar durch ihr Kostüm päonisch erhöhte, aber doch ein wenig zu plakativen Reize der Hostesse-Petitesse Meike in den Schatten stellte. »Aber bei dem CARTESIO-Programm ist mir noch einmal aufgefallen, wie eng Körper und Geist miteinander verknüpft sind.«

Descartes selbst sei von einer starken Verknüpfung ausgegangen und habe deshalb festgestellt, dass der Geist nicht einfach über den Körper gebiete wie ein Seemann über sein Schiff, erinnerte sich Manfred, ein wenig über seine Kenntnisse erstaunt.

Der Zusammenhang sei gewiss nicht einfach, entgegnete die Sabine. Vielleicht ginge es dem Geist aber wie einem Adler im Käfig.

»Oder wie einem wilden Affen!«, warf die Meike-Isabel ein, die schwarzen Pudellocken schüttelnd, die ihr weit über die nackten Oberarme fielen. »Oder — wie einem Kaninchen in der Schlange!«

Noch während der Manfred und die Sabine diese profunden Gleichnisse gedanklich auszuloten versuchten, trat der Ronald in Begleitung der Forschungsministerin Sandström auf die Gruppe zu. Ihre mächtige grün schillernde Gestalt zog Uns ebenso sehr an, wie sie den Manfred erschreckte. Durften Wir durch den dunklen Vorhang der Blendung hindurch vermuten, dass die Fr!auh!hen in Unserer Heimat von ähnlich imposantem Wuchs waren?

Der Ronald stellte Madame Prof. Dr. Dr. Sandström überraschenderweise auch noch als leibliche Tante des Axel vor. Also würden Wir sie aus zwei guten Gründen ins Visier nehmen. Das mysteriöse Großprojekt des Cleansmile-Pärchens, an dem sie maßgeblich beteiligt war, musste von Uns näher untersucht werden. Ihr Verwandtschaftsverhältnis, die genetische Nähe zu dem Axel, der womöglich durch sein pures Genie den Alarm ausgelöst hatte, machte ihre walkürlichen Kapazitäten aber auch in ihrer blanken Existenz verdächtig. (Es ist ja doch die Unschärfe der terrestrischen Landung, die Unsere Missionen so reizvoll macht!)

Madame Sandström zeigte sich sehr erfreut, als ihr der Manfred als außerordentlich talentierter Programmierer vorgestellt wurde, der auf Augenhöhe mit ihrem Neffen Computer abzurichten verstand. Es sei nur schade, gab sie zu bedenken, dass immer noch zu wenig Frauen sich dieser Disziplin verschrieben.

Als die Sabine nun zwanglos ihre historische Zwillingsschwester Ada Lovelace ins Feld führte, schalteten Wir den Manfred nahezu vollständig aus, traten der mächtigen schillernden Dame ein gutes Stück näher und beschrieben auf ihre Frage hin (sie war von Hause aus eine gewaltige Physikerin mit großem quantitativem Verständnis) recht genau, wie Ada Lovelace der von ihr getätigten Übersetzung eines Aufsatzes des italienischen Mathematikers Federico Menabrea über Babbages (niemals im Bau verwirklichte) große Analytische Maschine einen Anhang hinzufügte, welcher den Text um die dreifache Länge übertraf und eine genaue Anleitung enthielt, wie die Maschine rein mechanisch die Zahlen des Bernoulli ermitteln konnte — mithin das erste genau niedergeschriebene Computerprogramm. Obgleich die Ministerin mit funkelnden Echsenaugen hinter der blau gerahmten Brille sich sehr entzückt von Manfreds Fähigkeit gab, ihr das Ada-Programm anschaulich darzustellen, wollte sie sich (noch) nicht überreden lassen, Hinweise zur Natur des geheimnisvollen Forschungsvorhabens zu geben, das der Ronald so spannungsvoll angekündigt hatte. Folglich verlegten Wir Uns darauf, durch eine Reihe dezenter und einfühlsamer Fragen, einiges mehr über das Leben und die facettenreiche und hochwichtige Tätigkeit der Ministerin Sandström zu erfahren.

Der wieder eingeschaltete Manfred erschrak über die Nähe, die Wir zwischen ihm und der ihn an Größe und Gewicht überragenden Dame hergestellt hatten. Aber er war so höflich, sich nicht von den angeregten smaragdgrünen Wölbungen zurückzuziehen, selbst als Madame Sandström ihn vertraulich am Oberarm fasste, als wollte sie ein gutes Steak prüfen.

Bei der Vorstellung kurz vor Mitternacht trafen das Gastgeberehepaar und der Manfred mit seiner heiteren Meike noch einmal an der gläsernen Tür zur dampfenden Poolpfütze zusammen.

»Ich möchte Ihnen etwas mit nach Hause geben«, sagte der Ronald zu Unserem Klienten und reichte ihm einen Briefumschlag. »Es ist ein kleiner Gruß unseres gemeinsamen Freundes Axel. Wahrscheinlich hat es etwas mit dem CARTESIO-Programm zu tun.«

»Cartesio?«, fragte die Meike-Isabel, vorwitzig kichernd.

»Eine Chat-Anwendung, die sich mit René Descartes auseinandersetzt«, erklärte höchst ungnädig im Ton die Sabine. Wir registrierten zufrieden, wie schwer es ihr fiel, den Manfred mit seiner fröhlich-lüsternen Begleitung davonziehen zu lassen.

»Descartes? Ah, der Bursche mit den kleinen Buchstaben!«

»Kleine Buchstaben?« Amüsiert betrachtete Ronald die Pudellockige, der gerade auffiel, dass sie schon ihren grauen Mantel trug, aber noch ein Champagnerglas hielt.

»Nun ja, all diese kleinen a, b, c — die vorderen Buchstaben, mit denen man spielen kann«, seufzte die Meike, dem Ronald vertrauensvoll ihr Glas überreichend. »Dabei wird es erst am hinteren Ende so richtig interessant mit x und y und z, den geheimnisvollen Unbekannten.«

Die winterliche Stimmung und das Weiß der Villa führen Uns zu jenem verschneiten Novembertag des Jahres 1619 zurück, an dem der Cartesius von einem Kurzbesuch bei der gleichfalls eingeschneiten Armee vor den Toren der Stadt heimkehrte. Am Abend war er bei Faulhaber zu einer Mahlzeit eingeladen, deren Verlauf ohne seine dramatischen Folgen nicht weiter erwähnenswert gewesen wäre. Das deutsche Essen (Spätzle und Schäufele, Keulen und Knödel, Rüben, Pudding und Mus) und der weiße Rheinwein, dem der Cartesius ganz gegen seine Gewohnheit tüchtig zugesprochen hatte, bewogen ihn dazu, den auffrischenden Spaziergang durch den Schnee kürzer zu halten als beabsichtigt. Er verspürte ein schweres elliptisches Schlingern in seinem Geist, und seine Gedanken tanzten dahin wie die Faulhaber’sche Kinderschar um die Möbel, Bücher und Modelle seines neuen Freundes. Konzentriert und zusammengehalten wurden sie (Kinder und Gedanken) nur durch die Dame des Hauses, Madame Faulhaber, die wie eine schreitende Festung (Festung! Offenbar hatten den Cartesius die Bastelmodelle des Rechenmeisters für uneinnehmbare Burganlagen inspiriert.) durch das seltsam übereinandergestapelte Haus wandelte (im Grund eine vertikale Version der stabförmigen Wohnung der Axel-Familie). Mit ihrer selbstgewissen, in sich ruhenden, herrschaftlichen Art erinnerte Madame Faulhaber so verstörend an die Gräfin Eleonore Albertine, dass der Descartes stets große Erleichterung verspürte, wenn sie all ihre quirligen Meteore ordnete und wie einen Kometenschweif hinter sich her, hinab in die Küche und in die Schlafräume zog, damit der Rechenmeister und er noch ein wenig philosophieren konnten. An diesem Abend hatte Faulhaber sich weniger als der großartige Cossist, sondern mehr als der fanatische Kabbalist und Mystiker erwiesen, der er zum Leidwesen des stets klargeistigen Cartesius ebenfalls war. Wieder einmal sprach er von den apokalyptischen Zahlen und den Auserwählten, die Gott zu ihrer Auslegung bestimmt hatte. Auch kam er auf seine Rolle im Ulmer Streit um den grausamen Kometen zurück, eine Polemik, die er selbst mit seiner Schrift Fama siderea nova entfacht hatte.

Gaudet aberrare mens tua, dein Geist liebt es abzuschweifen, necdum se patitur intra veritatis limites cohiberi, hält sich nicht gern an das Käfiggitter der Wahrheit, hatte der Cartesius eingewendet, um dann gleich, von Faulhaber mehr amüsiert als verärgert aufgefordert, seine eigenen Prinzipien darzulegen: Le premier était de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, also zuerst einmal nichts für wahr zu halten, das man nicht vollkommen klar erkennen könne, que je ne la conusse évidemment être telle …

Nun war er, zugleich aufgewühlt und erleichtert, in seiner Stube angekommen, um zehn Uhr dreißig in der Nacht des zehnten November. Ganz allein und direkt steuerte er den Nullpunkt des später nach ihm benannten Koordinatensystems an. Das Epizentrum seines geistigen Erbebens war nichts weiter als dieser schlichte Gastraum, den ein brusthoher zuckerdosenhafter Kachelofen über das gängige Maß hinaus erwärmt hatte, so dass er sich wie in einer Backstube fühlte. Die grandiose Behaglichkeit der Stube, die Wärme und Sicherheit, die beruhigende Distanz zu den weißen Eisplatten, die in der Donau trieben und ab und an mit einem dumpfen Krachen in der Finsternis gegeneinanderstießen, ließ den Descartes immer ruhiger und gelassener werden — und denken — und träumen. So brauchte es nichts mehr als zweiundzwanzig Grad Celsius zwischen Kleiderschrank, schmalem Bett, Holztisch und Eichenstuhl, um die kritische Masse im kartesianischen Gehirn zu zünden. Für das Äußere Amt, das Unseren Einsatz angeordnet hatte, war diese schlichte Gaststube einer der gefährlichsten Orte der Welt, auch wenn das Zeitalter, das die stille Kammer umgab, in Feuer und Krieg, Blut und Asche, Raubgier und Mord zu versinken drohte. Vielleicht hätte ein aus dem Depot geschmuggelter und in der Nachbarstube installierter Apparat mit Tonaufzeichnungen, große beruhigende Musik des Zeitalters durch die Wand hinüberschickend, die nervöse und durch die Diskussion mit dem Rechenmeister noch stärker gereizte Denkmuskulatur des Descartes zu entspannen vermocht. Allein — im weiß vermummten Ulm jener Tage hatten sich die dicht gewebten Tonteppiche eines Bach, Händel oder Vivaldi (kein Klient darunter, nur der Erste erschien zeitweilig gefährlich, wurde aber ähnlich wie Unser Johannes Faulhaber durch seine enorme Kinderschar genügend zerstreut) noch nicht in die Luft erhoben, und in seinem Traum sah der Cartesius zunächst nur dürre Tabellen und dann einen schmalen silbrigen Weg oder Steg, von dem ihn ein heftiger Sturm hinwegzufegen drohte. Er suchte Zuflucht in einem düsteren Kirchhof. Dort trat eine Gestalt auf ihn zu und wollte ihm ein Rechenbrett überreichen, um ihn zu beruhigen. Im Augenblick der Übergabe verwandelte es sich in eine reife Melone, schwer und exotisch duftend. Der Cartesius wog die Melone in der linken Hand, in der er sie ihres hohen Gewichts wegen nicht lange würde halten können. Doch sein Augenmerk galt der im Dunkeln schwer erkennbaren Gestalt, einer fühlbar starken und eigenwilligen Person oder Existenz, die ihm nach einer kurzen Weile mit einer kühlen weichen Hand (An wen erinnerte sie nur?) die Last abnahm.

Im nächsten Augenblick blitzte eine silberne Klinge in der Finsternis auf, und Descartes hielt anstatt der schweren Frucht eine große Scheibe derselben in der Hand, einen sauberen Querschnitt, der rot aufleuchtete, als glühte er wie ein Kohlestück. Die schwarzen Kerne im Fruchtfleisch bewegten sich seltsam, zentrifugal, allesamt, so dass sie, nahe des Schalenrandes, alle zusammengenommen eine geometrische Figur bildeten — ein Sechseck, das sich jedoch gleich wieder veränderte — in ein Zwölfeck offenkundig, dessen Seiten sich erneut in der Mitte teilten, so dass sich die Figur immer vieleckiger und näher an den Kreisrand schmiegte.

»Die Methode des Aristoteles, er wollte nur die Zahl Pi berechnen — aber du hast ihn hinrichten lassen!«, sagte die Gestalt im Dunkeln vorwurfsvoll. Es war eine weibliche Stimme, offenbar hatten Wir es mit einer stattlichen Dame zu tun. »Noli turbare circulos meos — pah!«

Der Vorwurf war nicht an den Descartes, sondern selbstverständlich direkt an Uns gerichtet, als hätte die finstere Dame (langsam gewöhnten sich die Traumaugen des Cartesius an die Dunkelheit und stolze Konturen traten hervor) etwas ganz anderes zu dem jungen Philosophen gesagt, durch das Wir aber hindurch sahen wie durch einen grauen Nebel.

»Eleonore Albertine?«, vermutete der Cartesius hellsichtig, denn vordergründig schien sich aus der Finsternis, die weiterhin nur durch das Schimmern der Melone erhellt wurde, eher die Gestalt der Madame Faulhaber abzuzeichnen, während in ihrem Inneren eine noch stärkere und anscheinend viel weniger berechenbare und sittliche gefestigte Erscheinung sich zu regen und an die Oberfläche drängen zu wollen schien.

Doch noch während sich der junge Träumer angstvoll, lustvoll fragte, ob sie ihre Frankfurter Kniffe erneut an ihm ausprobieren wollte, sahen Wir noch eine Schicht tiefer in sie hinein, um hinter den stattlichen Aufbauten von Madame Faulhaber und hinter der gefährlich flackernden Koketterie der Gräfin etwas zu entdecken wie —

»Geometrische Körper, platonische Leiber! Die Liebe als schönes Gefängnis!«, flüsterte die finstere mächtige Dame, und schon musste der Cartesius feststellen, dass er, im Begriff auf sie zuzugehen, in etwas eingeschlossen wurde wie die archimedischen Vielecke im Kreis, nur eben räumlich, in der dritten Dimension (mit viel mehr Aspekten der Dinge kommen die Menschlinge kaum zurecht), in eine Art Pyramide, zusammengefügt aus festen Gitterstäben. Kaum hatte er sich, der zurückweichenden, lockenden, dunkel schimmernden Madame Faulhaber-Eleonore-Albertine folgend, aus der Dreiecksumrahmung einer Pyramidenseite herausgewunden, umgab ihn ein noch vertrackteres Gebilde, das aus kleineren, aber wesentlich zahlreicheren, vielleicht zwei Dutzend Dreiecken zusammengesetzt schien. Es umschloss ihn fast, als wäre ein großmaschiges Netz über ihn geworfen worden.

»Zwischen Venus und Erde sind die Verhältnisse immer am kompliziertesten«, raunte Eleonore-Albertine-Faulhaber, die sich, rückwärts davonschwebend, offenbar immer ganz mühelos aus dem Viel-Dreieckskörper (ein Ikosaeder, vermutete der Cartesius inzwischen) befreite, aus welchem sich der Träumer qualvoll und akrobatisch herauswinden musste, nur um sich in einem neuen Gebilde eingeschlossen zu sehen, das von nachgerade scheußlicher Vertracktheit war, ein Würfel aus Vielecken, Sechs- — nein Fünfecken offenbar, der wiederum in einer Pyramide steckte. Die schlimme Verkeilung, Verschachtelung, Verklammerung von Gitterkörpern, in die ihn Eleonore-Albertine gelockt hatte wie in die Falle einer mathematischen Ameisenlöwin, löste (verständlicherweise) bei dem Cartesius einen mächtigen Fluchtimpuls aus. Denn obgleich er plötzlich, kraft seines geschulten Geistes, begriff, worin er sich befand, nämlich im irdischen Sonnensystem, dessen Planetenbahnen sich der Astronom Kepler mit Hilfe einer Ineinanderstauchung und Umkugelung der regulären platonischen Körper (die Holzmodelle auf dem Basteltisch des Monsieur Faulhaber!) erklärt hatte, wollte er mit einem Mal sehr konkret aus den eingeschachtelten Zwangsverhältnissen des den Menschlingen gegebenen Lebensraumes hinaus (jenem Kerker, in dem man die funkelnden Spitzen der Nägel, die seinen Deckel fixierten, zu Sternen verklärte), und er schloss die Augen, um einen Weg zu finden.

In diesem Moment hätten Wir nicht mehr zögern dürfen, die Ultima Ratio, das letzte Mittel zu ergreifen! Wenn Wir den Archimedes nicht verschonten, weil er mit einem Stecken in den Sand etwas zeichnete, das eindeutig (meine liebe Yssth!) über die Illustration seiner Vielecksmethode zur Bestimmung der Ludolphischen Kreiszahl hinausging, dann hätten Wir schon längst den freilich ungeliebten und hässlichen Weg der Extermination gehen müssen. (Man wird dann eingefangen vom Äußeren Amt, noch im Sattel sitzend, während das Reittier bereits dahingegangen ist.) Da Wir aber zögerten und gleich darauf feststellen mussten, nicht mehr handlungsfähig zu sein, geschah etwas, das in der Geschichte der Pforten-Missionen schier ohne Beispiel ist. Unser letzter Versuch, den Descartes in das Labyrinth der platonischen Körper zurückzustoßen, empörte den reizbaren und enorm athletischen Denkapparat Unseres Klienten so sehr, dass er Uns aus sich gleichsam herauskatapultierte und zurückstieß in den Tunnel, den das Äußere Amt als Zugang in das Ulm jener blutigen Zeit erschaffen hatte. Schier hilflos hingen Wir fest, gleichsam wie durch einen Menschlings-Niesvorgang gegen eine Wand gerotzt, und bei jedem Versuch, wieder zurückzufinden, verhedderten Wir Uns wie das berühmte Spatzenvieh dieser Stadt, das einen Zweig im Schnabel trug, als es durch eine schmale Lücke wollte, wenn auch in der dritten und nicht in Unserer heimischen siebenten Dimension. Ein ungeheures Krachen ertönte, als hätte ein Blitz (Wir, einige Wochen zuvor, aber jetzt spürte er es plötzlich und setzte sich zur Wehr) in den kartesianischen Schädel eingeschlagen. Er riss die Augen auf. Die niedrige überheizte Stube schien voller Funken zu stehen, als wären mehrere Feuerwerkskörper darin explodiert und die Gitter der platonischen Körper zerrissen.

Nichts war mehr von der großen Melone des sinnlichen Daseins übrig als das seltsame, nicht naturgemäße Zentrum, welches einem apfelgroßen Walnusskern glich. Dem Cartesius erschien dieses Gebilde als Stellvertreter des eigenen Hirns oder vielmehr des üblicherweise unsichtbaren, ungreifbaren, geisterhaft im eigenen Schädel fliegenden Geistes! Obgleich Gitter und Melone in tausend Stücke gesprungen waren, existierten sie immer noch, in diesem Gedankenkern, der wie eine Frucht in seiner Hand lag und absurderweise immer noch drei Kilogramm zu wiegen schien. Nichts war wirklicher als dieser eigene Kern! Man konnte sich einbilden zu träumen, zu erwachen, wieder zu träumen, die funkenerfüllte Stube, das zerfetzte platonische Gitter, die Gestalt der Madame Faulhaber, in der die Gräfin Albertine Eleonore Chevignard de Chavigny steckte — das alles konnte eine Illusion sein oder ein groteskes Bild der Wirklichkeit — aber dieser Gedankenapparat, diese massive Walnuss, die jene Bilder registrierte, was auch immer sie vorstellen wollten und waren, konnte nicht beseitigt werden, solange man lebte, auch wenn man sie allenfalls im Traum packen und mit den Fingern umschließen konnte wie einen irrwitzig schweren Stein.

»Est et non!«, hörten Wir den Descartes ausrufen, doch Wir steckten weiterhin als Spatzenvieh im Tunnel, von der kartesianischen Gedankenkraft wie von einer mächtigen Windturbine gegen die Wandung gepresst.

Noch einmal versuchten Wir Uns loszureißen, vergeblich. Es gab in der Geschichte der irdischen Missionen höchstens ein Dutzend Fälle, die für die Agenten (zunächst einmal) tödlich endeten. Dies war im Grunde nur möglich, wenn Man nicht rechtzeitig den Ausgang aus dem Klienten oder Reittier fand, weil durch einen komplett unabsehbaren Exitus (ein sofort tödlicher Schuss, eine nicht absehbare Explosion oder ähnliches) der Tunnel verschlossen worden war. Dann allerdings besteht wirklich die Gefahr, ein Vogel ohne Himmel zu werden (wie der Axel es ausdrückte) oder ein Vogel zu sein, der durchs Weltall flog und seinen Planeten nie wieder erreichen konnte. In den gärtnerisch begabten Niederlanden war ausgerechnet jenem Cartesius, der Uns jetzt zu zerstören drohte, einmal der Gedanke gekommen, dass der Mensch wie eine Tulpe wäre, sein kostbarer blühender Geist könne nicht existieren ohne die Wurzeln seines Körpers in der Erde der Materie. Gerade als Wir selbst diese endgültig zu verlieren drohten, gerade als Wir Uns sagten, dass es zum ersten Mal geschehen könnte, im oder am noch überaus lebendigen Leib des Klienten zu verenden, spürten Wir die Auhrha! Unserer Kollegin Yssth! Sie war es tatsächlich, sie hatte sich in der Gräfin verborgen, die in der Faulhaberin steckte! Jetzt kam sie zurück, um ihren Fall erneut zu übernehmen. Sie wollte die Wiedergutmachung für ihre Austreibung in Breda. Der Druck der Wand in Unserem eingebildeten Rücken ließ nach und Wir spürten, ahnten, er!chhuzttten! die Präsenz von Yssth!, die sich im Tunnel an Uns vorbeidrängte, schmerzlich rasch mit ihrer heftigen, eigentümlich prallen, skrupellos ehrgeizigen Art. Wir mussten gehen (und froh sein, Unserer Zerstörung zu entrinnen). Yssth! dagegen kam an — und sprang direkt in den Descartes, dem sie in Breda so jämmerlich unterlegen gewesen war.

»Ego sum, ego cogito, certum est!«, hörten Wir ihn noch murmeln, aber Wir konnten Uns da auch verhört haben, bevor Wir verschwanden …

… und doch wieder auftauchten, aus der Tiefe der Vergangenheit. Alles wird einmal Erinnerung, am Ende der Missionen. Liegend treiben Wir nach oben in das Licht einer Zukunft, in der die Zeit wesentlich zartfühlender mit den Lebewesen umgeht und die Jahrhunderte friedlich nebeneinander ruhen wie eng aneinander geschmiegte Schafe in der verfilzten Wolle ihrer Stunden.

»Ulm«, flüstern Wir und fühlen Uns erhoben und wollüstig auf den Rücken gelegt. »Ulm!«

Jemand reitet Uns, es müsste Yssth! sein, die in Uns dringen und womöglich etwas in Uns zerstören möchte. Aber da erkennen Wir glücklich den Manfred, der Uns umgibt, und Wir sehen von unten den gespannten weißen pudellockigen Leib.

»Ulm?«, flüstert die Meike, Silke, nein, Isabel zurück. »Du weißt nicht mehr, wo du bist? Das kommt vor.« Sie greift nach der herausragenden Mitte des Manfred und vollführt mit ihr eine gleichsam nickende Bewegung. »Man verirrt sich bisweilen, aber man ist immer zwischen Venus und Erde. Wenn du möchtest, nennen wir die Venus heute Ulm, spürst du sie? In Ulm, um Ulm, um Ulm herum …«