Kapitel 16

­VALERIE

Die letzten beiden Tage waren für ­Valerie ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Zuerst die zarte Annäherung in der Nacht, als sie und ihre Schwester das Haus weihnachtlich dekoriert hatten. Dann der große Streit mit Mia, nach dem sie am liebsten sofort zum Flughafen gefahren und nach New York zurückgeflogen wäre.

Glücklicherweise gab es ­Sebastian und Max, zu denen sie jetzt mit einer reichen Auswahl an griechischem Essen unter­wegs war. Heute Vormittag hatten die beiden sie abgeholt und mit ihr einen Ausflug auf die Fraueninsel ­gemacht. Im ersten Moment hatte sie fast ablehnen wollen, denn die kleine Insel mitten im Chiemsee war mit vielen schönen Erinne­rungen an ihre Kindheit und zahlreichen Familien­ausflügen an Sonntagen dorthin verbunden. Doch ­Sebastian konnte sie schließlich überreden. Nicht zuletzt mit der Unter­stützung von Max. Sie hatten den zauberhaften Christkindlmarkt besucht, der an diesem Wochenende seine Pforten geöffnet hatte, waren ein Mal um die verschneite kleine Insel spaziert und hatten sich ein leckeres Mittagessen gegönnt. Mit ­Sebastian zusammen zu sein fühlte sich für ­Valerie an, als ob sie sich erst vor wenigen Tagen zum letzten Mal gesehen hätten. Die alte Vertrautheit aus ihrer Kindheit war immer noch da und im Moment ihr einziger Anker.

Als sie jetzt in die Hofeinfahrt zu seinem Haus abbog, sah sie Licht in ihrem Elternhaus brennen. Mia war offenbar zu Hause. Für einen Moment kam sie in Versuchung, zu ihr zu gehen und sich auszusprechen. Doch vermutlich würden sie nur erneut aneinandergeraten. Und darauf hatte sie jetzt weder Lust, noch hatte sie die nötige Energie dafür.

Sie griff nach der Tüte mit dem Essen, stieg aus dem ­Wagen und klingelte. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Max öffnete.

Mit seinem lustigen Zahnlückengrinsen begrüßte er sie und zog sie ins adventlich geschmückte Esszimmer, wo ­­Sebastian bereits den Tisch gedeckt hatte.

»Ich hab schon so Hunger!«, rief der Kleine und setzte sich an den Tisch. »Darf ich den Adventskranz anzünden?«

»Ja«, sagte ­Sebastian und reichte seinem Sohn ein Streichholzpäckchen. Max war ganz stolz, dass er die erste Kerze anzünden durfte.

»Wow!«, sagte ­Sebastian, während er ­Valerie half, das Essen aus den Schalen in Teller zu geben. »Kommen da noch ein paar Leute mehr?«

­Valerie lächelte.

»Du wirst staunen, wie viel ich futtern kann«, sagte sie, und dann ließen es sich alle schmecken.

Als Nachspeise brachte ­Sebastian seine schon am Morgen vor dem Ausflug zubereitete Bayerische Creme mit Erdbeerspiegel herein.

»Wie hast du nur so gut kochen gelernt?«, fragte ­Valerie ehrlich erstaunt. »Ich würde so was nie so gut ­hinbekommen.«

In Wahrheit stand ­Valerie nur äußerst selten am Herd. Meistens war sie den ganzen Tag in der Firma und mittags oder abends bei irgendwelchen Geschäftsessen. Und an den Wochenenden hatte sie auch keine Lust, sich stundenlang in die Küche zu stellen, um für sich allein zu kochen. Wozu gab es schließlich den Lieferservice, der ihr eine schier ­unbegrenzte Auswahl an Köstlichkeiten aus aller Herren Länder bot?

»Früher hat Tina immer für uns gekocht«, erklärte ­­Sebastian. »Nachdem sie weg war, blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit dem Thema zu befassen. Du kennst mich ja und weißt, wie gern ich esse.«

­Valerie lachte.

»Papa mampft total viel«, gluckste Max, dem die Nachspeise ebenfalls zu schmecken schien.

»Das stimmt, Max. Das hat er schon als kleiner Junge gemacht«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Wie ­Sebastian es schaffte, trotzdem so schlank zu sein, war ihr ein Rätsel. Sonderlich viel Zeit für Sport konnte er als alleinerziehender berufstätiger Vater kaum haben.

­Sebastian schien ihre Gedanken zu erraten.

»Max und ich sind immer viel draußen unterwegs«, ­erklärte er ungefragt. »Außerdem gibt es bei uns natürlich oft Gemüse und auch leichtere Sachen.«

»Ich mag am allerliebsten viele Brezenpflanzerl«, informierte Max sie. »Mit Kartoffelsalat dazu. Das ist soo ­lecker.«

»Wirklich? Die habe ich früher auch total gern gegessen!«, sagte ­Valerie amüsiert, dass dieses Gericht aus der Vergangenheit schon wieder Thema war. »Dann kann dein Papa ja echt richtig toll kochen, was?«

Max nickte.

»Ich gestehe, dass Kochen mir von allen Aktivitäten im Haushalt am meisten Spaß macht … Noch einen Löffel?«

Sie winkte ab.

»Danke, aber wenn ich noch was esse, platze ich«, sagte sie, was bei Max für einen Lachanfall sorgte.

»Ich platze auch«, sagte der Kleine.

»Dann gibt’s jetzt wohl besser nichts mehr«, sagte ­Sebastian und stellte den Rest in den Kühlschrank.

Nach dem Essen durfte Max noch ein wenig fernsehen, bis es Zeit zum Schlafen war. ­Sebastian und ­Valerie räumten währenddessen gemeinsam den Tisch ab.

»Möchtest du noch einen Cappuccino oder Espresso?«, fragte ­Sebastian.

»Gern einen Espresso«, antwortete ­Valerie und sah ihm dabei zu, wie er zwei kleine Tassen aus dem Regal holte, und den Espresso zubereitete.

»Sag mal, was ist eigentlich bei dir und deiner Frau schiefgelaufen?«, stellte sie ihm eine Frage, die ihr schon den ganzen Tag auf der Zunge lag.

­Sebastian schien ihr die Neugierde nicht zu verübeln.

»Es hört sich vielleicht banal an, aber Tina hat mich irgendwann nicht mehr geliebt. Sie war nicht mehr glücklich in unserer Ehe.«

­Valerie musste spontan an ihre Eltern denken. War es bei ihrer Mutter damals genauso gewesen? Hatte sie ­Albert deswegen so unvermittelt verlassen können?

»Und du? Warst du glücklich in deiner Ehe?«, hakte ­Valerie nach, um nicht weiter über ihre Eltern nachdenken zu müssen.

»Schwierige Frage …« Er stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich zu ihr. »Tina und ich haben damals ziemlich schnell geheiratet, nachdem wir erfahren hatten, dass sie schwanger war. Mitunter frage ich mich natürlich, ob wir das auch getan hätten, wenn sie kein Kind von mir bekommen hätte.«

Nachdenklich gab er einen Teelöffel Zucker in seine Tasse. »Und wenn ich mir die Frage ganz ehrlich beantworte, dann bezweifle ich das … Ich glaube, was mich wirklich glücklich machte, war unsere Familie. Und erstaunlicherweise funktioniert sie jetzt besser als vorher, ­obwohl wir nicht mehr zusammen sind. Zumindest, was das gemein­same Elternsein betrifft.«

»Ich finde es jedenfalls toll, dass ihr das so hinbekommt«, sagte ­Valerie. Sie nahm einen Schluck des aromatischen Espressos.

»Max kann ja schließlich nichts dafür, dass sich seine ­Eltern als Paar nicht mehr verstehen«, sagte er.

»Leider haben unsere Eltern das bei der Trennung ganz anders gesehen.« Es fiel ihr gar nicht auf, dass ihre Worte Mia mit einschlossen.

­Sebastian sah sie aus seinen blauen Augen etwas verlegen an. »Ehrlich gesagt war die Trennung eurer Eltern für mich ein Grund, dass ich mir bei meiner eigenen Scheidung noch viel mehr Gedanken darüber machte, wie wir das für Max am besten hinbekommen«, sagte er.

­Valerie lächelte bemüht. »Dann hatte das Ganze ja ­wenigstens für Max was Gutes«, sagte sie.

»­Valerie … ich weiß, dass ich versprochen habe, nicht mehr darüber zu reden, aber du und Mia hattet wegen eurer Eltern so schwere Zeiten, dass ich mir wirklich wünsche, ihr würdet noch mal miteinander über alles reden.«

­Valerie spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Doch sie wollte diese Gefühle nicht an sich heranlassen.

»Sie hätte mir sagen müssen, dass Paps krank war«, ­beharrte sie.

­Sebastian fuhr etwas ratlos durch sein dichtes dunkelblondes Haar.

»Ja. Das hätte sie tun sollen«, gab er zu. »Und ich möchte das auch nicht verteidigen, aber zumindest erklären. Nach der Diagnose war Mia am Boden zerstört. Gleich­zeitig musste sie sich um einen neuen Job kümmern, von München hierherziehen und euren Vater unterstützen, dem die Diagnose erstmal selbst den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.«

»Seitdem sind über drei Jahre vergangen«, gab ­Valerie zu bedenken.

»Ja. Aber ­Albert hatte ihr doch verboten, es dir zu sagen. Er wollte auf keinen Fall, dass deine Mutter erfährt, wie krank er ist.«

»Vater hat es ihr verboten, damit Mutter es nicht ­erfährt?«, fragte ­Valerie fassungslos.

­Sebastian nickte.

»Oh, oh – Mia wird mich vierteilen, wenn sie herauskriegt, dass ich dir das gesagt habe«, meinte er betreten. Offenbar war ihm erst jetzt bewusst geworden, dass Mia ihrer Schwester diese Tatsache verschwiegen hatte.

­Valerie wusste erst einmal nicht, was sie dazu sagen sollte. Doch letztlich war es keine Überraschung. Ihre Eltern hatten sich durch die Trennung so zerstritten, dass all die Jahre keine Annäherung mehr möglich gewesen war.

»Wie konnte aus einer großen Liebe nur so was rauskommen?«, murmelte sie ratlos.

­Sebastian sah sie mitfühlend an.

»Ich weiß es nicht, ­Valerie.«

­Valerie hob die Tasse zum Mund und merkte, dass sie schon leer war.

»Möchtest du noch einen?«, fragte ­Sebastian aufmerksam.

»Nein, danke. Ich fahr jetzt besser zurück ins Hotel.« Sie wollte es nicht aussprechen, aber der kommende Tag würde sie viel Kraft kosten, sie wollte zumindest einigermaßen ausgeruht sein.

»Vorher muss ich dir aber noch was zeigen«, sagte er und lächelte jetzt wieder. Er stand auf und sah sie an. »Kommst du mit?«

Sie zögerte.

»Nur ganz kurz.«

»Na gut.«

Sie stand ebenfalls auf und folgte ihm in den Flur, an dessen Ende sein geräumiges Büro war.

»Das war doch früher das Zimmer deiner Oma, oder?«, fragte ­Valerie und erinnerte sich an Marianne, die damals nicht nur lecker gekocht, sondern auch immer irgendetwas gestrickt hatte.

»Ja, genau«, sagte er.

Sie sah sich um. Der Raum war, wie die ganze Wohnung, freundlich mit hellen Möbeln eingerichtet. Auf den Fensterbrettern standen bunte Töpfchen mit Grünpflanzen. Der große Eckschreibtisch mit zwei Bildschirmen sah erstaunlich aufgeräumt aus. Schon bei ihrem Gespräch am Nachmittag hatte er ihr mehr über seine Arbeit erzählt, dass er als freier Grafikdesigner für verschiedene Unternehmen ­arbeitete.

»Vielleicht kannst du ja auch mal was für unsere Firma machen«, hatte ­Valerie laut überlegt.

»Da würde ich nicht Nein sagen. Aber nur wenn die ­Bezahlung stimmt und du meine Ansprechpartnerin bist«, hatte er gesagt und ihr zugezwinkert.

­Valerie hatte das nur halb scherzend gemeint. Die Werbe­abteilung der Firma vergab häufig Aufträge an externe Dienstleister. Und im Zeitalter von Internet und Videokonferenzen war es auch gar nicht unbedingt nötig, dass die ­Geschäftspartner immer alle an einem Tisch saßen. Außerdem gefiel ihr die Aussicht, mit ­Sebastian weiterhin Kontakt zu haben.

»Und was willst du mir zeigen?«, fragte sie.

»Na das hier«, sagte er und nahm ein Jo-Jo aus einem Regal.

»Das hast du noch?«, fragte sie überrascht.

»Aber klar. Das war immerhin dein letztes Geburtstagsgeschenk für mich.« Er ließ es einmal geschickt auf- und abrollen.

­Valerie lächelte. Sie hatte das ursprünglich holzfarbene Jo-Jo damals mit kleinen bunten Figuren und Formen ­bemalt. Inzwischen waren die Farben ziemlich verblasst, doch es war ein echtes Unikat.

»Willst du auch mal?«

Er reichte ihr das Jo-Jo.

»Keine Ahnung, ob ich das noch kann …«, sagte sie, doch als sie es ausprobierte, klappte es gleich beim ersten Mal.

»Ein Naturtalent«, feixte er.

Sie ließ es noch ein paarmal auf und ab tanzen, dann gab sie es ihm wieder zurück.

»Noch viel schöner wäre es gewesen, wenn du es mir selbst gegeben hättest«, sagte er, nun ein wenig leiser. »Ich weiß noch, wie enttäuscht ich damals war, dass du an meinem Geburtstag nicht da warst.«

Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Damals war sie erst ein paar Tage in New York gewesen und hätte niemals gedacht, dass sie dortbleiben würde.

»Für mich war es jedenfalls eines der kostbarsten ­Geschenke, das ich je bekommen habe«, fuhr er fort.

Als sie ihn ansah, schien sich etwas zwischen ihnen verändert zu haben. Er stand ganz dicht vor ihr und betrachtete sie mit einem intensiven Blick, der ihr Herz unvermittelt schneller schlagen ließ. Als er sich ihr langsam näherte, hielt sie für einen Moment den Atem an.

»Papi! Es brennt!«, hörten sie Max aufgeregt rufen, und sie schreckten augenblicklich auseinander.

­Sebastian eilte sofort hinaus, und ­Valerie folgte ihm. Max stand neben der Tür zum Esszimmer, aus dem beißender Rauch kam. Der Adventskranz hatte Feuer gefangen! Glücklicherweise war die Tischplatte aus Glas, und so konnte ­­Sebastian den Brand rasch mit einer Flasche Wasser löschen. Bis auf viel Gestank und Rauch war weiter nichts passiert. Trotzdem saß allen der Schreck in den Gliedern.

»Man darf Kerzen doch nicht alleine brennen lassen«, mahnte Max vorwurfsvoll.

»Da hast du völlig recht«, antwortete sein Vater. »Das war mein Fehler.«

»Unser Fehler«, gab ­Valerie zu, die das Fenster öffnete, um den Gestank zu vertreiben.

»Jetzt haben wir keinen Adventskranz mehr«, sagte Max traurig.

»Wir besorgen einen neuen«, versprach sein Vater.

»Aber diesmal mit blauen Kerzen«, verlangte Max, und ­Sebastian nickte.

Eine halbe Stunde später verabschiedete ­Valerie sich an der Haustür.

»Danke für das Essen und für deine Hilfe beim Aufräumen«, sagte ­Sebastian.

»Kein Problem. Das ging doch super schnell«, meinte sie und lächelte. »Gut, dass weiter nichts passiert ist.«

»Ja … das hätte auch anders ausgehen können.«

Für ein paar Sekunden herrschte Stille.

»Tja. Dann mache ich mich jetzt mal auf den Weg zum Hotel«, sagte sie schließlich.

»Soll ich dich morgen auch abholen?«, fragte er. »Wir könnten alle gemeinsam zum Friedhof fahren, Mia, du und ich.«

»Ich … ich glaube, ich fahre am besten selbst.«

»Wenn du es dir anders überlegst, dann sag Bescheid. Und … und wenn du reden möchtest, dann melde dich, okay? Egal wann.«

Sie nickte. »Danke, ­Sebastian.«

»Gute Nacht, ­Valerie«, sagte er und umarmte sie zum Abschied.

Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen und blieb ganz still in dieser Umarmung stehen, die offenbar keiner von beiden so schnell beenden wollte. Er streichelte sanft durch ihr Haar, und sie konnte seinen Herzschlag spüren. Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu lösen.

»Weißt du, ­Valerie, du bist zwar erst seit Kurzem wieder hier, und wir haben uns so lange nicht …«, begann er.

Sie legte einen Finger auf seinen Mund und bedeutete ihm zu schweigen.

»Bitte nicht, ­Sebastian. Sag jetzt nichts«, murmelte sie und wich seinem enttäuschten Blick aus.

Sie ahnte, dass er sich genau so zu ihr hingezogen fühlte, wie sie sich zu ihm, aber das alles hatte sie ziemlich verwirrt, wie sie sich eingestand. Vorhin wäre sie fast der Ver­suchung erlegen, ihn zu küssen. Doch schon in dem Moment, als Max sie unterbrochen hatte, war ihr bewusst geworden, dass es ein großer Fehler gewesen wäre. Gefühle zuzulassen und sich dann erneut von ihm zu trennen, wenn sie in zwei Tagen wieder zurückging, das wäre im Moment einfach zu viel für sie. Und auch ­Sebastian gegenüber wäre es nicht fair.

»­Valerie …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gute Nacht«, sagte sie möglichst fest, dann ging sie zum Auto und fuhr zum Hotel.

Sie nahm eine lange heiße Dusche, um den Rauchgeruch aus ihren Haaren zu bekommen. Obwohl es nur ein kleiner Brand gewesen war, rochen ihre Haare und ihre Kleidung, als hätte sie den ganzen Abend an einem Lagerfeuer verbracht. Dabei versuchte sie, die Gedanken an ­Sebastian zu verdrängen, was ihr nur schwer gelang. Die wenigen Tage, die sie nun hier war, hatten gereicht, um die Gefühle, die damals als junges Mädchen gerade zart zu sprießen begonnen hatten, aufblühen zu lassen. In seiner Nähe schien die Welt viel bunter und turbulenter und gleichzeitig auf eine wohltuende Weise ruhiger zu sein. Schon verrückt, dass ihr dieser Mensch, den sie so lange nicht gesehen hatte, noch immer unglaublich vertraut war … mehr noch als das. Schon jetzt tat der Gedanke weh, dass sie ihn bald wieder verlassen würde. Natürlich könnten sie weiterhin Kontakt halten, aber zwischen ihnen lag ein Ozean, nicht nur ­geografisch, sondern sie lebten auch in völlig unterschiedlichen Welten. Sie war eine engagierte Geschäftsfrau im weltweit erfolgreichen Familienunternehmen, die kaum ein Privatleben hatte. Er hatte seinen Beruf der Situation als alleinerziehender Vater angepasst. Es war also für alle ­Beteilig­ten besser, wenn sie sich distanzierte, bevor sie sich in Gefühle verstrickten, die sie am Ende womöglich nur beide verletzen würden.

Als sie aus dem Badezimmer kam, hörte sie das Klingeln des Handys. Ihre Mutter. Kurz überlegte sie, es klingeln zu lassen. Aber wie sie ­Olivia kannte, würde sie es später sicherlich noch einmal versuchen.

»Ja, Mutter?«, meldete sie sich auf Englisch.

»Wie geht es dir?«

»Ich komme klar, danke.«

Ein paar Sekunden lang herrschte Stille in der Leitung, was für ­Olivia eher unüblich war.

»Mutter?«

»Entschuldige, ich war gerade abgelenkt von deiner Großmutter. Sie steht neben mir.«

»Sag ihr bitte Grüße«, bat ­Valerie.

»Mache ich … Gruß zurück. Hör mal, du kommst doch ganz sicher am Dienstag wieder zurück?«

»Ja natürlich!« Was sollte diese Frage?

»Gut. Mutter plant am Tag danach ein Abendessen. Des­wegen wollte ich noch mal nachfragen, ob du bis dahin wirklich wieder hier bist.«

»Muss das denn sofort nach meiner Rückkehr sein?«, fragte ­Valerie. »Als Erstes werde ich wohl ziemlich viel in der Firma aufzuholen haben, und ich …«

»Anthony hat gesagt, dass du ruhig noch ein paar Tage freimachen kannst«, unterbrach ihre Mutter sie.

­Valerie atmete einmal tief ein und aus. Letztlich war es müßig zu diskutieren, denn Kate würde ihren Willen ohnehin durchsetzen. So wie sie es immer getan hatte. Eine Einladung von ihr auszuschlagen kam nicht in Frage. Die einzige Entschuldigung, die ihre Großmutter gelten ließ, war der Tod.

»Du hattest doch ohnehin schon lange keinen richtigen Urlaub mehr«, fügte ­Olivia hinzu.

»Darüber reden wir, wenn ich zurück bin«, sagte ­Valerie.

»Gut … Konstantin Treval und seine Eltern sind übrigens auch eingeladen.«

»Okay.« Also war es kein zwangloses Familienessen, ihre Großmutter plante etwas anderes. Vermutlich bemühte sie sich weiter darum, ­Valerie und Konstantin zu verkuppeln, ganz im Sinne von ­Olivia.

»Schön. Ich freue mich, wenn du wieder zurück bist. Außerdem gibt es für deine Geburtstagsparty noch einiges zu besprechen«, sagte ­Olivia.

Doch dafür hatte ­Valerie jetzt wirklich keinen Kopf.

»Ich muss langsam schlafen gehen, Mutter.«

»Natürlich. Gute Nacht, mein Liebes.«

»Gute Nacht«, antwortete ­Valerie, obwohl es in New York noch nicht einmal Abend war. Dann legte sie nachdenklich auf.

Sie hatte ihrer Mutter nichts davon gesagt, dass sie inzwischen im Hotel wohnte. Weder sie noch ihre Großmutter hatten wissen wollen, wie es Mia ging, oder ihr gar einen Gruß ausrichten lassen. Dabei mussten sie davon ausgehen, dass die Schwestern zusammen waren.

In einem plötzlichen Impuls wählte sie Mias Nummer. Doch offenbar war sie schon schlafen gegangen, denn es sprang nur die Mailbox an. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, legte sie auf und ging danach ins Bett.

Kaum hatte sie das Licht ausgemacht, meldete das Handy eine Sprachnachricht von ­Sebastian.

»­Valerie, ich weiß, das ist jetzt absolut nicht der richtige Zeitpunkt, aber irgendwas passiert da gerade zwischen uns beiden, und ich … ich merke, dass du es auch spürst. Da du schon übermorgen abreisen wirst, bleibt uns leider kaum Zeit. Max ist morgen bei seiner Mutter und schläft auch dort … Sorry, ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich dich gerade frage, ob du die Nacht mit mir verbringen möchtest, wobei …«, er lachte kurz auf »… egal. Also, wenn du magst, könnten wir beide morgen Abend bei mir was trinken und reden … Das wäre echt schön! … Gute Nacht, ­Valerie.«

Dreimal hörte sie die Sprachnachricht an. Dann fasste sie einen Entschluss.