Mit der Ruhe und Stille rund um die Hütte war es vorbei. Überall lärmte es und wimmelte von Menschen, die nach den Verschollenen suchten und die Leiche ausgruben, über die Jóhanna und Þórir gestolpert waren.
Sie hatten sich auf der Ebene und an den umliegenden Hängen verteilt, wobei die Rettungswachtleute am auffälligsten waren. Sie trugen bunte Overalls und durchforsteten das Gebiet systematisch mit Sondierstangen, die sie in regelmäßigen Abständen in den Schnee stachen. Bislang war die Suche erfolglos geblieben, und man hatte nur diese eine Person aus der Gruppe gefunden.
Zusätzlich zur Rettungswacht waren zwei Polizisten von der Polizeiwache in Höfn vor Ort, zusammen mit einem Kollegen aus Selfoss und ein paar Leuten von der Spurensicherung aus Reykjavík. Sie hatten sich zuerst den Bereich rund um die Leiche angeschaut und sich dann der Hütte zugewandt. Außerdem waren noch ein Gerichtsmediziner und ein weiterer Mann vom staatlichen Identifizierungsteam dabei, dessen Aufgabe Jóhanna nicht ganz klar war. Er machte eigentlich nichts anderes, als im Weg rumzustehen.
Damit sie nicht auch noch störten, hatten Jóhanna und Þórir sich etwas abseits hingestellt, neben die Hütte, wo sie vor dem bitterkalten Wind geschützt waren und den Einsatz mitverfolgen konnten. Zuerst hatten sie die Fragen der Polizei, des Leiters der Rettungswacht und der Leute vom Identifizierungsteam beantworten müssen. Es waren immer dieselben, nur mit leicht abgewandeltem Wortlaut. Auch ihre Antworten waren fast immer wortwörtlich dieselben. Sie beschrieben haargenau alles, was sie von dem Zeitpunkt, als sie den Talkessel betreten hatten, in dem die Hütte stand, bis zu ihrer Rückkehr nach Höfn gemacht hatten. Die meisten Fragen drehten sich um den Leichenfund, warum sie zu dem Rentierkadaver hinaufgegangen seien und wie sie gemerkt hätten, dass unter dem Schnee eine Leiche lag. Jóhanna wurde immer wieder gefragt, warum sie der Toten den Schal aufs Gesicht gelegt hatte. Sie bereute es schon, weil alle das irgendwie seltsam fanden. Eine Zeitlang war sie wirklich verunsichert und hatte das Gefühl, man würde Þórir und sie verdächtigen, etwas verbrochen zu haben. Die Frau getötet, ihre Leiche im Schnee vergraben und den Fund nur vorgetäuscht zu haben. Aber das war natürlich Quatsch. Sie standen nicht unter Verdacht. In den Gesichtern und Stimmen der Fragenden spiegelte sich lediglich der Ernst der Lage.
Die Tatsache, dass einer der Polizisten Jóhannas Mann Geiri war, machte die Sache auch nicht besser. Er war der einzige Kripo-Beamte in Höfn, die anderen auf der Wache waren normale Streifenpolizisten. Deshalb konnte er sich, trotz Jóhannas Verwicklung in den Leichenfund, nicht einfach von dem Fall zurückziehen, wobei er das sicher trotzdem gemacht hätte, wenn Þórir und sie unter Verdacht stünden. Dennoch war Geiri zur Seite getreten, als sie zu den Geschehnissen befragt wurde. Während man sie in die Mangel nahm, musste sie sich zusammenreißen, Geiri keine hilfesuchenden Blicke zuzuwerfen. Nicht weil sie sich ein Signal von ihm erhoffte, wie sie sich bei der Befragung verhalten sollte, sondern weil sie sich in schwierigen Situationen immer an ihn wandte, genau wie umgekehrt. Ein Lächeln von ihm genügte, und selbst die schwierigsten Tage wurden erträglich.
Als die Fragerei endlich überstanden war, nickte Geiri ihr zu und folgte dann den anderen in eine Art Basislager, das man auf die Schnelle eingerichtet hatte. Es befand sich neben dem Hubschrauber, mit dem ein Teil der Leute und das Equipment hergebracht worden waren, und sah aus wie ein Partyzelt. In dem Zelt stand ein Tisch, an dem die weitere Strategie besprochen und die Suche organisiert wurde, außerdem diente es als provisorisches Lager für alles, was man bei der Suche fand.
Als sich niemand mehr für Jóhanna und Þórir interessierte, hatten sie sich bemüht, ein Gespräch in Gang zu halten, es aber schnell aufgegeben. Es war schwierig, ein neutrales Thema zu finden. Das Wetter und die weiteren Wetteraussichten hatten sie schnell abgehakt und danach mehr oder weniger geschwiegen.
Þórir fragte noch, ob sie sich gestern verletzt hätte, und Jóhanna erkundigte sich irritiert, was er meine. Er zeigte auf ihren Fuß und sagte, er habe gesehen, dass sie humpele. Das stimmte, sie humpelte immer leicht, wenn sie sich überanstrengt hatte, machte sich aber schon lange keine Gedanken mehr darüber. Weil es ihr unangenehm war, sagte sie Þórir nur, das sei eine Folge von einem früheren Unfall, nichts Ernsthaftes. Aber er löcherte sie weiter, bis sie ihm schließlich doch erzählte, was damals passiert war. Möglichst knapp und ziemlich schroff – so, dass es gerade noch vertretbar war, ohne unverschämt zu sein. Þórir kapierte es und hielt den Mund.
Seitdem schwiegen sie.
Jóhannas Blick wanderte immer wieder den Hang hinauf, wo man die Leiche aus dem Schnee ausgrub. Eigentlich wollte sie es gar nicht sehen, musste aber trotzdem automatisch hingucken.
Gestern hatten Þórir und sie im ersten Moment wie erstarrt dagestanden und das gefrorene Auge angeglotzt, ohne ein Wort rauszubringen. Die Situation war so irreal gewesen, dass sich nicht mit Worten beschreiben ließ, wie sie sich gefühlt hatten. Dann hatte Jóhanna sich einen Ruck gegeben und die Stille durchbrochen. Immerhin gehörte sie zur hiesigen Rettungswacht und musste reagieren. Sie konnte nicht einfach wie ein Ölgötze dastehen und einem Ortsfremden die Sache überlassen. Þórir war zwar etwas älter als sie und zweifellos erfahrener und besser ausgebildet, aber es kam nicht in Frage, dass er nach Reykjavík zurückfuhr und allen erzählte, die Rettungswacht Hornafjörður bestehe aus einem Haufen Schisser.
Also hatte Jóhanna vorgeschlagen, vorsichtig rückwärtszugehen, am besten in ihren eigenen Fußspuren, um keine Beweise zu zerstören. Der Gedanke, noch jemanden retten zu können, kam ihr nicht. Sie hatte schon öfter an Unfallorten Leichen gesehen und konnte einschätzen, ob es sich noch lohnte, sie auf etwaige Lebenszeichen zu untersuchen. Wobei ihre Erfahrung in diesem Fall unerheblich war, denn das wäre jedem klar gewesen.
Doch nachdem sie zurückgewichen war und sich wieder gefasst hatte, änderte Jóhanna ihre Meinung. Was sollte sie sagen, wenn man sie später fragte, ob sie sich davon überzeugt hätte, dass der Mensch tot war? Wäre sie sich dann immer noch so sicher? Nein. Wahrscheinlich nicht. Sie stellte sich die skeptischen Gesichter der Fragenden vor und beschloss, jeden Zweifel auszuräumen, auch wenn sie nicht gerade erpicht darauf war.
Þórir bot an, es zu übernehmen, aber Jóhanna lehnte dankend ab.
Es war anstrengend, noch einmal den Hang hinauf zu dem Schneeloch zu stapfen, sich runterzubeugen und das Gesicht vom Schnee zu befreien. Aber sie schaffte es. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, wischte den Schnee vom Hals, zog ihren Handschuh aus und überprüfte den Puls. Kein Lebenszeichen.
Die Kälte der gefrorenen Haut unter ihren Fingerspitzen würde sie nie vergessen. Als sie abends im Bett lag, waren ihre Finger immer noch kalt. Selbst als sie ins Warme kam, fröstelte sie noch, aber das war alles nur psychisch. Ihre Finger waren unter der Bettdecke noch genauso eiskalt wie während ihres zügigen Rückmarschs von der Hütte. Unter der heißen Dusche noch genauso kalt, wie als Þórir und sie still und traurig an der Schotterpiste gestanden und darauf gewartet hatten, dass sie abgeholt wurden. Auf der Rückbank im geheizten Auto auf der Fahrt nach Höfn noch genauso kalt, wie als sie sich aufgerichtet, ihren Schal abgewickelt und vorsichtig auf das steifgefrorene Gesicht gelegt hatte.
Þórir hatte gefragt, warum sie das mache, und sie hatte ehrlich geantwortet. Sie wollte verhindern, dass Tiere an die Leiche kamen. Auch wenn man im Winter im Hochland kaum welche sah, waren sie dort vereinzelt anzutreffen. Und alle, die es im Herbst nicht geschafft hatten, das Gebiet zu verlassen, waren hungrig. Ausgehungert.
Jóhanna war froh, dass er sie nicht weiter nach den Tieren fragte oder warum sie das Gesicht nicht einfach wieder mit Schnee zugeschaufelt hätte. Sie wollte ihm nicht anvertrauen, dass sie das nicht über sich gebracht hätte. Dabei war ihr vollkommen bewusst, wie absurd das war. Eine Leiche war nichts anderes als eine leere Hülle. Der Mensch selbst war längst fort. Eine Leiche hatte keine Gefühle, betrauerte nicht ihr Schicksal und scherte sich nicht darum, ob sie unter eiskaltem Schnee oder unter einem weichen Schal lag. Trotzdem schaffte Jóhanna es nicht, das gefrorene Gesicht mit Schnee zu bedecken.
Jetzt schloss sie die Augen und versuchte, den gestrigen Tag zu vergessen. Sich etwas vorzustellen, das mit dem Leben zu tun hatte – Blumen, Tiere, Sommer, Kinder –, aber es gelang ihr nicht. Selbst wenn sie an die altkluge Nachbarstochter dachte, die sie fast immer zum Lächeln brachte. Deshalb bemühte sie sich noch einmal um ein Gespräch. »Wir sollten uns vielleicht woanders hinstellen. Ich bin mir nicht sicher, ob es klug ist, zu sehen, wie sie die Leiche hochheben.«
Þórir starrte weiter zu den Leuten, die oben am Hang herumwuselten. »Meiner Erfahrung nach ist es leichter, es zu sehen, als sich im Nachhinein vorzustellen, wie es hätte aussehen können. Meistens ist die Realität nicht so schlimm wie die eigene Fantasie. Jedenfalls bei mir.«
Jóhanna verstand, worauf er hinauswollte. Womit nicht gesagt war, dass sie derselben Meinung war. Aber was sollte sie machen? Sie konnte den Mann ja nicht hinter die Hütte zerren.
Es war ein Fehler gewesen, sie noch einmal hier raufzubringen, wenn sie nicht mitsuchen durften. Jóhanna wusste, dass die Leitung der Rettungswacht das genauso sah. Das Suchgebiet war riesengroß, und es gab genug zu tun. Aber die Polizei hatte entschieden, dass sie zwar mitkommen, sich aber im Hintergrund halten sollten. Geiris Chef aus Selfoss wollte sie beide vor Ort haben, damit sie demonstrieren konnten, was sie gemacht hatten, nachdem sie auf die Leiche gestoßen waren. Das taten sie, nachdem alle eingetroffen waren, aber Jóhanna verstand nicht, was dieses Theater bringen sollte.
Þórir glotzte immer noch zum Hang. »Und du bist dir sicher, dass es eine Frau ist?«
Jóhanna nickte. »Ja, ganz sicher.«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte er sich eine andere Antwort erhofft. Für Jóhanna machte das keinen Unterschied. Die Sache war furchtbar, egal, wer die Person war.
Oben am Hang kam Bewegung in die Leute. Jemand winkte den Männern vom Identifizierungsteam, sie sollten raufkommen. Die beiden hatten neben den aufgereihten Motorschlitten gestanden und sich besprochen. Jetzt eilten sie den Hang hinauf, und auch die beiden Drohnen, die in der Luft kreisten, wurden zu der Stelle gelenkt. Es bestand kein Zweifel. Jetzt war es so weit.
Jóhanna atmete tief ein. Auf einmal wurde ihr eiskalt, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie warf Þórir einen kurzen Blick zu und schlug noch einmal vor, sich ein Stück zu entfernen, aber er schüttelte zähneknirschend den Kopf. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, war sie erleichtert. Seine Aussage, die Realität sei weniger schlimm als die Fantasie, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wahrscheinlich hatte er doch recht. Während sie die Aktion beobachtete, fielen ihr allerdings verschiedene Dinge ein, die sie im Lauf der Zeit gesehen hatte und auf die sie gut verzichten konnte. Ihre Fantasie hätte nichts derart Schreckliches produzieren können wie die Nachrichtenbilder von Kriegsopfern, Terroranschlägen und Hungersnöten.
Ein Hungeropfer hatten sie jetzt vor sich. Der Rentierkadaver war ausgegraben worden. Nachdem man gesehen hatte, wie abgemagert das Tier war, ging man davon aus, dass es verhungert war, und als sich herausgestellt hatte, dass es weder erschossen noch erstochen worden war, ließ man es liegen. Neben der Frauenleiche war ein aufgeklapptes Taschenmesser gefunden worden, von dem man zunächst annahm, es habe mit dem toten Tier zu tun, aber so war es nicht.
Oben am Hang beugten sich die Leute gleichzeitig runter. Jóhanna setzte ihre Schneebrille ab und kniff die Augen zusammen. Þórir machte dasselbe, und sie verfolgten gebannt, wie die Leiche aus dem Schnee gehoben wurde.
Wegen der zahlreichen Leute rings um das Schneeloch konnten sie nicht viel erkennen, was die Sache im Grunde nur schlimmer machte. Sie sahen etwas aufblitzen, das wie eine Statue anmutete. Jóhanna konnte erkennen, dass die Arme nicht runterhingen und die Beine nicht angewinkelt waren. Sie wusste, was Leichenstarre war, aber sie wusste auch, dass diese nur kurz andauerte. Angesichts der Tiefe des Schnees musste die Frau wenigstens ein paar Tage dort gelegen haben. Es gab also einen anderen Grund, und Jóhanna kannte ihn. Die Leiche war gefroren.
Etwas anderes war jedoch überraschender. Wenn Jóhanna nicht alles täuschte, war die Frau nackt. Oder so gut wie nackt. In der letzten Zeit hatte es ungewöhnlich hohe Minusgrade gegeben, deshalb war es unvorstellbar, dass die Frau auch nur einen einzigen Handschuh ausgezogen hatte. Geschweige denn ihre gesamten Klamotten, bis auf die Unterwäsche. Die Kleidungsstücke im Flur in der Hütte mussten ihr gehören.
»Ist sie nackt?« Þórir hatte es ebenfalls gesehen und wirkte genauso entsetzt wie Jóhanna.
»Scheint so.« Jóhanna verzog reflexartig das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Man legte die Leiche auf eine Trage, und die Leute am Hang wichen zur Seite. Jetzt hatten sie freie Sicht, und tatsächlich, die Tote trug nur Unterwäsche. Nun war auch deutlich zu sehen, dass die Leiche gefroren war, ein Arm befand sich in einer seltsamen Position, und die Beine waren in den Knien nur ganz leicht eingeknickt. Die Farbe der nackten Haut ähnelte erschreckend dem Weiß des Schnees, und Jóhanna senkte den Blick. Man konnte sich leicht vorstellen, dass dort eine Alabasterstatue transportiert würde. Wenn das Motiv ein anderes gewesen wäre. Kein Bildhauer bei klarem Verstand würde einen solchen Horror abbilden.
»Da haben wir die Erklärung für die Kleidungsstücke. Hast du nicht gesehen, dass sie fast nackt war, als du sie untersucht hast?« Þórir hatte auch weggeschaut, und Jóhanna meinte, einen leichten Vorwurf in seiner Stimme zu hören, so als hätte sie ihm etwas verheimlicht. Was natürlich absurd war.
»Nein. Ich hab so wenig Schnee wie möglich zur Seite geschoben und nur versucht, die Schlagader zu finden. Ich wollte es nicht unnötig in die Länge ziehen.«
Von einem der Suchtrupps drangen Rufe zu ihnen. Jóhanna fuhr herum und blickte in die Richtung. Der Rufer hatte seine Sondierstange abgelegt und wischte in dem Schnee vor seinen Füßen herum. Dann hob er den Kopf und rief wieder: »Blut! Hier ist eine Blutlache unterm Schnee!«