M ike Eldredge öffnete die Fahrertür des SUV seiner Mutter. Aus irgendeinem Grund nagte diese Unruhe an ihm. Was war bloß los? Es war mehr als nur sein übliches Unbehagen, das er in Gegenwart seiner Schwester empfand – die nach wie vor ausblendete, was sie als Kinder zusammen erlebt hatten und was sie beide bis auf den heutigen Tag prägte.
Positiv überrascht hatte er erfahren, dass Melissa auf Anraten ihrer Freundin Katie im letzten Jahr einen Therapeuten gesucht hatte, um mit ihrem Schmerz über den Tod ihres Vaters zurechtzukommen. Ein guter Therapeut hätte Melissa dazu gebracht, über ihre Kindheit zu sprechen. Und wie hätte sie über ihre Kindheit reden sollen, ohne sich endlich der Wahrheit über Carl Harmon zu stellen, einen Namen, den sie nach wie vor nicht in den Mund nehmen konnte und bei dem sie das Zimmer verließ, wenn Mike es wagte, ihn laut auszusprechen? Als er den Fehler begangen hatte, Melissa gegenüber die Therapie zu erwähnen, hatte sie erwidert: »Mir wäre es lieber, Mom hätte dir nichts gesagt.« Für Mike das Zeichen, dass sie sich nie richtig darauf eingelassen hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur ein paar Sitzungen nehmen wollen, bis sie sich einreden konnte, mit ihr wäre wieder alles in Ordnung, und Mike hätte nie vom Ende der Therapie erfahren sollen, in der sie nie zum Kern des Wesentlichen vorgestoßen war.
Drei Monate später hatte seine Mutter wieder Neuigkeiten für Mike: Melissa sei immer noch in Therapie, statt sich allerdings ihren wahren, unter einer zunehmend perfekten Oberfläche verborgenen Gefühlen zu stellen, hatte sie einen Freund gefunden. Er war Witwer und alleinerziehender Vater – anscheinend ein Geologe. Und sie sprachen bereits von Heirat.
Das nun erklärte dieses nagende Gefühl. Es war eine ungute Vorahnung. Du kannst dich fürs Glück entscheiden, sagte seine Schwester gern. Er hatte geargwöhnt, dass sie aus den falschen Gründen zur Therapie ging. Statt wirklich um ihren Vater zu trauern, behandelte sie ihren Schmerz nur als etwas, das sie ebenfalls kontrollieren konnte. Wenn sie nur das richtige Programm fand oder die notwendigen Einzelschritte vollzog, konnte sie wieder »glücklich« sein – sorglos, unbeschwert.
Für Mike hatte das nichts mit Glücklichsein zu tun. Glücklichsein, war er überzeugt, erforderte Ehrlichkeit. Glücklichsein konnte auch kompliziert und sogar schmerzhaft sein. Wenn man nie Schmerz erfuhr, wie sollte man dann dessen Abwesenheit wertzuschätzen wissen? Wenn man nie Angst hatte, wie sollte man dann wissen, was Trost war? Aber Melissa wollte weiter in ihrer vollkommen kontrollierten Melissa-Blase verharren und alle ungewollten Emotionen als »Drama« abtun. Heiratete sie deshalb einen Mann, den sie erst seit zehn Monaten kannte – als Bestätigung dafür, dass sie immer noch glücklich war?
»Erde an Michael.« Erschrocken blickte Mike auf. Seine Mutter war bereits ausgestiegen und wartete, dass er ihr folgte.
Als er ausstieg, sah er Melissa über den Rasen zu zwei Leuten gehen, die er als Neil Keeney und dessen Frau Amanda erkannte. Er hörte noch, wie sich Amanda begeistert über Melissas Kleid ausließ.
»Na, das sieht mir aber nach einer Mik-eil-Wiedervereinigung aus«, sagte seine Mutter. »Ich geh mal rein und sorge dafür, dass für die Zeremonie alles bereit ist. Begrüß du ruhig deine Freunde.«
Als Jugendlicher hatte Neil Keeney die junge Missy kaum beachtet, Mike aber war sein bester Freund gewesen. So unzertrennlich waren die beiden, dass Neils Mutter Ellen die ersten drei Buchstaben von Mikes Namen und die letzten drei von Neils Namen zu »Mik-eil« zusammengezogen hatte.
Als Melissa dann aber nach New York an die Columbia University ging, hatte Neil, der auf dem Albert Einstein College of Medicine Psychiatrie studierte, ganz in ihrer Nähe gewohnt. Zurück in die Gegenwart: Jetzt gehörten Neil und seine Frau zu Melissas engsten Freunden, hatten Mike aber bislang kein einziges Mal zu sich und in ihr paradiesisches Haus in der Karibik eingeladen.
Er hatte noch die Worte seiner Schwester im Ohr, nachdem er sie am Vortag gefragt hatte, ob sie sich wegen der Hochzeit wirklich sicher sei: Weißt du, manchmal glaube ich, du bist bloß neidisch, Mike. Konzentrier dich mehr auf dein Leben und lass mich in Ruhe. Vielleicht hatte sie damit nicht so unrecht.
Ein kurzes peinliches Schweigen legte sich über die Gruppe, als er sich zu seiner Schwester und Neil und Amanda gesellte – oder bildete er sich das nur ein?
»Hallo, schön, dich zu sehen, Mann. Todschick siehst du aus.« Neil hielt ihm zur Begrüßung die Faust entgegen, während ihm Amanda einen Kuss auf die Wange gab.
Bei ihrem Aussehen hätte Amanda locker auf die Titelseite eines Beauty-Magazins gepasst, in Wirklichkeit war sie jedoch Polizistin bei der New Yorker Polizei. »Immer so braun gebrannt«, sagte sie. »Ich bin richtig neidisch.«
In ihren Highheels überragte Amanda Neil um gut zehn Zentimeter. Mike erinnerte sich noch gut daran, wie Neil sich an die Klimmzugstangen im Park gehängt hatte, weil er hoffte, dadurch größer zu werden. Seine Mutter hatte ihn immer daran erinnert, dass sein Vater und seine Brüder und sein Onkel auch alle groß waren. Warte es nur ab.
»Ihr seid immer herzlich eingeladen, zu mir auf die Insel zu kommen«, sagte Mike. »Im Moment bin ich Skipper auf einem Vierzehn-Meter-Katamaran. Der schneidet durchs Wasser wie durch Butter.«
»Klingt himmlisch«, sagte Amanda. »Vielleicht diesen Winter? Ich hab viel Urlaub in meinem Dienst.«
Neil nickte und murmelte ein mal sehen, was sich eher anhörte wie klar, wir werden definitiv nicht kommen. Dann wechselte er das Thema. »Unsere kleine Missy heiratet. Ist das zu fassen?«
»Tja …« Mike suchte nach der passenden Erwiderung. Er wollte nicht lügen, er wollte aber auch nicht für eine Szene sorgen, wenn seine Schwester heiratete – was anscheinend außer ihm niemand für einen Fehler hielt. »Ja, meine kleine Schwester macht Nägel mit Köpfen. Und ohne dich, Neil, wäre sie jetzt vielleicht gar nicht hier. Hättest du ihn damals nicht erkannt, diesen Carl …«
Er spürte drei missbilligende Augenpaare auf sich, und Melissa stöhnte auf. »Muss das sein, Mike? Im Ernst?«
Aber es stimmt doch, wollte Mike antworten. Als Mike und Melissa noch vermisst wurden, hatte der damals siebenjährige Neil Carl Harmon von einem Foto in der Lokalzeitung erkannt. Obwohl Harmon zu diesem Zeitpunkt als verstorben galt, bestand Neil darauf, dass ihm dieser Mann einen Dollar gezahlt hatte, damit er ihm die Post vom Postamt holte. Diese Information hatte die Polizei zu dem Haus geführt, in dem Harmon die beiden Kinder nach der Entführung festhielt – das Haus, in dem Harmon Mike eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hatte und ihn auf dem Bett ersticken lassen wollte, während er sich mit Melissa auf den Dachboden flüchtete.
»Mann«, sagte Neil kopfschüttelnd. »Doch nicht ausgerechnet heute. Lass doch die Vergangenheit ruhen.«
Mike rang sich eine Entschuldigung ab. Anscheinend stand Neil – und das als Psychiater – auf Melissas Seite, wenn es darum ging, die Vergangenheit auszublenden.
Mike hatte vielleicht keine so hübschen Uni-Abschlüsse wie die, mit denen die beiden ihre Praxis oder Kanzlei dekorierten, aber er hatte genug erlebt, um zu wissen, dass es nicht in der Macht des Menschen lag, zu entscheiden, wo die Vergangenheit auftauchte. Die Vergangenheit hatte ihre eigenen Pläne. Und in den meisten Fällen fand sie einen Weg ins Hier und Jetzt.