M elissa wusch und spülte das Mittagsgeschirr, reinigte die Pfanne und wischte kurz über den Küchenboden. Sie war schon immer ordentlich gewesen und fand Trost in den Ritualen der Sauberkeit. Nach dem Essen räumte sie sofort auf, entlud jeden Morgen den Geschirrspüler und legte alles, was sie benutzt hatte, an seinen Platz zurück. Katie hatte sich gnadenlos über sie lustig gemacht, als sie erfuhr, dass Melissa zweimal im Monat das Medizinschränkchen ausräumte, um darin Staub zu wischen.
Ein amüsiertes Glucksen riss sie aus ihrem tranceartigen Zustand.
Das Glucksen kam von Grant »Mac« Macintosh. Er befand sich auf der anderen Seite ihrer Kücheninsel und hatte bereits das Headset auf. Mac war nicht nur ein Freund und ehemaliger Kollege, sondern mittlerweile auch der häufigste Gast-Co-Moderator ihres True-Crime-Podcast The Justice Club, den Melissa ein halbes Jahr zuvor gestartet hatte. Jede Episode von The Justice Club behandelte einen wahren Kriminalfall, über den diskutiert wurde, ob der Gerechtigkeit dabei wirklich Genüge getan wurde.
»So faszinierend es auch ist, dir beim Putzen zuzusehen, könnten wir nicht langsam mal anfangen?«, fragte Mac. »Ich hab nachher noch was vor.«
»Tut mir leid, aber wenn ich das ganze Chaos vor mir sehe, kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Ich kann mich nicht erinnern, hier jemals schmutziges Geschirr bemerkt zu haben.«
»Eine Wohnung sauber zu halten ist doch mit etwas mehr Aufwand verbunden, wenn ein dreijähriger Tasmanischer Teufel sein Unwesen treibt.«
»Apropos, wo ist der kleine Feger?«
»Charlie ist in einem Meeting mit einem Neukunden, deshalb hat seine Schwester Riley abgeholt, sie verbringen den Tag bei ihr in Brooklyn.«
»Schön, wenn man eine Tante in der Nähe hat, die das Babysitten übernimmt«, sagte er.
Melissa unterdrückte das unwillkürliche Augenrollen, mit dem sie sich beinahe verraten hätte. Rachel hatte nicht nur ihre Hochzeit boykottiert, sondern weigerte sich auch nach wie vor, ihre Nichte in Melissas Anwesenheit zu besuchen. Sie hatte sogar die Einladung zu der kleinen Party ausgeschlagen, die sie am Wochenende zu Rileys drittem Geburtstag veranstaltet hatten, und hatte sie dann am Folgetag allein aufgesucht. Nun schob Melissa den Gedanken beiseite, setzte sich ihr Headset auf und ließ sich neben Mac am Tisch nieder. »Also … sind wir so weit, Evan Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?«
Bei dem fraglichen Evan handelte es sich um Evan Moore, einem Jungen, der fast acht Jahre zuvor im Alter von sechs Jahren in einem Vorort von Seattle verschwunden war. Evans Vater war bis auf den heutigen Tag überzeugt, dass Judith, die Stiefmutter des Jungen, ihn ermordet und den Leichnam spurlos hatte verschwinden lassen – angeblich kam sie sich eingesperrt vor, weil sie den Jungen einer fremden Frau großziehen musste, nachdem der lange Sorgerechtsstreit schließlich zugunsten des Vaters entschieden worden war. Evans Verschwinden würde Thema der nächsten vier Folgen von The Justice Club sein. Sie und Mac hatten beschlossen, alle vier Folgen auf einmal aufzuzeichnen, damit sie in den nächsten Wochen genügend Zeit hatten, um für den nächsten Fall zu recherchieren.
Vier Stunden später nickte Melissa Mac zu und signalisierte mit ausgestreckten fünf Fingern, dass sie mit der Zusammenfassung der letzten Folge beginnen konnten.
»Okay, Melissa. Ich weiß, es ist wahrscheinlich aussichtslos, wenn ich das frage, trotzdem: Glaubst du, dass Judith Moore schuldig ist?«
»Du stellst die falsche Frage, Mac. Jeder ist unschuldig, solange ihm kein ordnungsgemäßer Prozess gemacht wird und er sich nicht schuldig bekennt oder zweifelsfrei für schuldig erklärt wird. Du als Strafverteidiger solltest das wissen.«
»Trotzdem erlaube ich mir das eine oder andere Gedankenspiel«, erwiderte Mac. »Oder siehst du hier einen Gerichtssaal? Versteckt sich unter diesem Tisch eine Geschworenenjury? Manchmal ist es mir ehrlich gesagt ziemlich schleierhaft, warum dein Podcast so erfolgreich ist.«
»Weil ich vielleicht klug genug bin, um interessante Freunde wie dich einzuladen?«
Melissa war schon immer fasziniert gewesen von wahren Verbrechensfällen, vor allem von ungelösten Rätseln. Sie hatte ein Gespür für eine packende Story, und durch die anspruchsvollen Fälle vor Gericht war sie mittlerweile sehr versiert darin, davon zu erzählen. Nach ihrer Arbeit bei der Bezirksstaatsanwaltschaft hatte Melissa eine eigene Kanzlei eröffnet und sich auf zivilrechtliche Fälle spezialisiert, wobei sie sich insbesondere für Opfer von Misshandlungen einsetzte. Sie nahm zwar auch einige wenige Strafrechtsfälle an, vertrat aber ausschließlich Angeklagte, von denen sie überzeugt war, dass sie zu unrecht beschuldigt oder anderweitig ungerecht behandelt worden waren. Dann, zwei Jahre zuvor, hatte sie den Revisionsprozess von Jennifer Duncan gewonnen, einer Frau, die in Notwehr ihren sie verprügelnden Ehemann getötet hatte. Die Frau wurde wegen Mordes rechtskräftig verurteilt, Melissa aber gelang es, ein Revisionsverfahren in die Wege zu leiten. Die Wiederaufnahme erregte in der Öffentlichkeit ebenso viel Aufsehen wie der ursprüngliche Mordprozess – sie war ein ehemaliges Model, ihr Mann ein reicher und bekannter Bauunternehmer. Ein weiterer Dreh bei diesem Fall war die Tatsache, dass Melissa während des Mordprozesses noch für die Staatsanwaltschaft tätig gewesen war und nun bei der Revision ihr Wissen über den Fall zugunsten von Jennifer Duncan verwenden konnte.
Durch den gewonnenen Prozess fand sie sich plötzlich in den Nachrichten der Kabelsender wieder, was schließlich zu einer zweiseitigen Reportage im New York Magazine führte, was wiederum ihr und Jennifer einen Auftritt in der Fernsehsendung The View eintrug. Melissa überraschte es nicht, dass Produzentinnen und Publizisten mehr von Jennifer Duncan hören wollten, zehn Minuten nach der Ausstrahlung ihres gemeinsamen Fernsehauftritts aber rief eine Agentin namens Annabel Marino bei Melissa an und fragte sie, wie sie ihre neue »Plattform« zu bespielen gedenke. Sie gedenke, hatte Melissa geantwortet, in ihre Anwaltskanzlei zurückzukehren und sich um ihre Arbeit zu kümmern.
Annabel wandte ein, dass so ein Moment, wie ihn Melissa gerade erlebte, nur einmal im Leben komme – oder gar nie. Sie aber könne die Filmrechte an dem Fall verkaufen oder, basierend auf ihrer Person, daraus eine Kriminalromanreihe entstehen lassen, vielleicht könne sie ihr sogar eine Co-Moderatorinnen-Stelle in einer Sendung wie The View beschaffen. Das alles klang für Melissa nach heißer Luft, aber Annabel überzeugte sie schließlich davon, dass sie als jemand, der sich öffentlich für Gerechtigkeit einsetzte, sehr viel größeren Einfluss auf die Gesellschaft ausüben könne als eine einfache Strafverteidigerin – und wenn etwas Prominenz ihrer Sache dienlich war, dann hatte Melissa nichts dagegen einzuwenden. Jetzt, zwei Jahre später, war sie eine Bestsellerautorin, beliebte Rednerin bei Veranstaltungen und der Star ihres eigenen Podcasts. Auch wenn die Freundschaft zu Jennifer Duncan ein unschönes Ende fand, hatte sie ihre gegenwärtige Karriere doch deren Fall zu verdanken.
Mac versuchte ein weiteres Mal, Melissa eine eigene Meinung zu entlocken.
»Warum verweigere ich mich zum Schluss einer persönlichen Einschätzung?«, erwiderte sie. »Manche Zuhörer wissen es vielleicht nicht, aber ich bin erst kürzlich selbst Stiefmutter geworden und so verliebt in die Kleine, dass ich euch den Inhalt sämtlicher Peppa-Wutz -Folgen erzählen könnte. Ich verstehe, warum bei Judiths Verhalten nach Evans Verschwinden sämtliche Alarmlichter aufleuchten. Sie konnte sich noch nicht mal daran erinnern, welche Kleidung ihr Stiefsohn anhatte, als sie ihn vor der Schule absetzte, oder worum es bei seinem Schulprojekt ging, obwohl es an diesem Tag hätte fertig sein müssen. Ich könnte euch jedes noch so kleine Detail meiner Stieftochter beschreiben. Und falls ihr irgendetwas zustoßen sollte, was Gott verhüten möge, wäre ich nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Jedenfalls würde ich bestimmt nicht ins Fitnessstudio gehen und Workout-Selfies posten.«
»Ah«, kam es von Mac, »dann meinst du also, dass sie es war?«
»Es gilt immer noch die Unschuldsvermutung, mein Freund.«
»Nun, ich bin nicht ihr Anwalt, und wir sind nicht in einem Gerichtssaal«, sagte Mac. »Meiner bescheidenen Meinung nach war Judith Moore die Täterin.«
Sie tauschten einen Blick aus, mit dem sie sich bestätigten, dass sie zum Ende kommen sollten. »Und das, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, war eine weitere Folge von The Justice Club .« Sie drückte auf die Stopp-Taste des Aufnahmegeräts und zog das Headset ab.
»Du bist ein Vollprofi«, sagte sie. »Alle Online-Kritiken sind sich darin einig, dass du der beste Co-Moderator bist.«
»Weil ich sie alle selbst verfasst habe«, witzelte er. »Meine Art des Bewerbungsgesprächs, um einen regelmäßigen Auftritt zu ergattern.«
»Das wäre ein Traum. Mit dir zusammen kommt es einem gar nicht wie Arbeit vor. Nur zwei Freunde, die über heikle Fälle plaudern.« Seine hochgezogene Augenbraue verriet ihr, dass ihn diese Antwort überraschte. »Moment. Das mit dem regelmäßigen Auftritt, das war kein Witz?«
»Ich meine … na ja, vielleicht. Aber ich würde es wirklich gern machen.«
»Hast du denn Zeit dafür?« Melissa hatte ihre anwaltliche Tätigkeit ziemlich zurückgefahren, Mac hingegen war als Strafverteidiger äußerst gefragt.
Er ließ sich die Antwort kurz durch den Kopf gehen. »Es wäre möglich, solange ich nicht mitten in einem langen Verfahren stecke. Wir könnten ja jederzeit einige Folgen voraufzeichnen, die dann hintereinander weggesendet werden. Und daneben kannst du dann immer noch andere Co-Moderatoren einladen, wenn du willst.«
Melissa war begeistert von der Aussicht, mit Mac erneut regelmäßig zusammenzuarbeiten. Dann bemerkte sie eine neue Nachricht auf dem Handy. Sie kam von Katie. Stehe in deiner Lobby. Bist du fertig? Ich wollte nicht, dass der Portier dich bei der Aufzeichnung stört.
Sie tippte eine Antwort und schickte sie ab. Perfektes Timing. Wir sind gerade fertig geworden. Komm hoch.
»Katie kommt auf ein Glas vorbei. Sie will alles über die Flitterwochen erfahren.«
Wieder die hochgezogene Braue.
»Lass das«, sagte sie. »So ist das nicht gemeint.«
»Aha.«
»Willst du hierbleiben? Die drei Musketiere, wieder vereint.«
»Und in einem sehr viel schöneren Ambiente als im Büro der Staatsanwaltschaft.«
»Die Getränke sind auch besser«, sagte sie, holte eine Flasche Billecart-Salmon aus dem Weinkühlfach in der Kücheninsel und hielt ihm den Champagner hin, um sich seiner Zustimmung zu versichern.
»Oh, là, là, Liebend gern, aber ich bin verabredet. Mit meiner Schwester …« Er sah auf seine Uhr. »Ups, in drei Minuten.«
Sie begleitete Mac nach draußen und hörte das Pling! des Aufzugs im Gang. Katie kam heraus, umarmte kurz Mac, der ihr im Vorbeilaufen erklärte, warum er es so eilig hatte. Und nachdem Melissa und Katie allein waren, fragte Katie, ob Mac noch immer was mit der »wie heißt sie noch?« hatte.
»Sarah. Ja, hat er.«
Katie schüttelte den Kopf. Ihre letzte ernsthafte Beziehung war fast sechs Jahre zuvor, als sie noch bei der Bezirksstaatsanwaltschaft gearbeitet hatte, in die Brüche gegangen. Mittlerweile sagte sie, sie würde wahrscheinlich einen Bestseller landen, wenn sie über ihre grauenhaften Online-Dating-Erfahrungen schreiben würde: »Voll die Horror-Storys.«
Mit Blick auf die Flasche auf dem Küchentresen sagte Katie: »Wow. Gibt’s was zu feiern? Ich weiß, du führst momentan das beste Leben überhaupt, aber wenn es noch besser wird, werde ich womöglich neidisch.«
»Nichts Konkretes«, antwortete Melissa. Ihre Freundin meinte es nicht ernst. Trotz der unterschiedlichen Wege, die die drei nach ihren Anfängen bei der Bezirksstaatsanwaltschaft eingeschlagen hatten, schien sich Katie immer über Melissas Erfolge zu freuen, als wären es ihre eigenen. »Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, und ich weiß doch, dass das deine Lieblingsmarke ist.« Sie schenkte zwei Gläser ein, die beiden Freundinnen stießen an und machten es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem. »Also … du wirst nie erraten, wer mich gestern angerufen hat.«
Katies Augen funkelten in Erwartung einer pikanten Klatschgeschichte. »Ähm … Brad Pitt, der dir gesagt hat, dass er mein neuer Lover sein möchte?«
»Nett, leider nicht. Patrick.«
Katie klappte vor Überraschung der Mund auf. »Patrick Higgins etwa, dein Patrick?«
»Ehemals meiner.« Melissa war gar nicht klar gewesen, dass sie seinen Spitznamen auf ihrem Handy – »Zukünftiger« – nie geändert hatte, bis sein Name wieder auf ihrem Display aufgeploppt war. Nachdem er ihre Verlobung von heute auf morgen aufgelöst hatte, hatte es keine unschöne Hin-und-her-Phase gegeben, sie hatten nichts mehr voneinander gehört oder sich geschrieben – bis gestern.
»Und?«
»Ich war so perplex, dass ich nicht abgehoben habe.«
»Okay, und warum hat er angerufen?«
»Keine Ahnung. Er hat keine Nachricht hinterlassen.«
»O mein Gott, warum bist du nicht rangegangen? Jetzt wirst du es nie erfahren.«
»Wahrscheinlich hat er bloß die falsche Taste erwischt«, sagte Melissa, obwohl sie Patrick vor sich sah, der, das Handy in der Hand, darauf wartete, dass sie sich meldete.
»Wirst du ihn zurückrufen?«
»Um was zu sagen? Du hast mich angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen? Und außerdem bin ich jetzt verheiratet?« Sie hielt die Hand mit dem Ring hoch. »Wer die Ex-Verlobte anruft, beschwört doch nur Ärger herauf.«
Nie war Melissa so glücklich gewesen wie jetzt. In ihrem Leben war kein Platz für einen Mann, der ihr so sehr das Herz gebrochen hatte, dass sie dachte, sie könne sich nie wieder jemandem öffnen.
Sie waren bei ihrem zweiten Champagnerglas angelangt, bis sie Katie endlich sämtliche Fotos der Flitterwochen gezeigt hatte – zwei Wochen in Italien, das sie kreuz und quer, von Mailand bis Genua, Florenz und Rom, bereist hatten. »Die hättest du auf Instagram posten sollen«, sagte Katie. »Meine Reisefotos steigern immer die Aktivitäten meiner Follower.«
Melissa schüttelte den Kopf. »Das ist zu persönlich.« Sie hatte sich immer noch nicht ganz an die Gepflogenheiten der sozialen Medien gewöhnt, die für sie nicht mehr als ein notwendiges Übel ihrer unerwarteten Karriere waren. »Die beiden Wochen haben nur uns gehört. Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber mit jedem Tag hab ich mich noch mehr in ihn verliebt. Ich liebe Riley, ja, aber Charlie und ich, wir beide allein, waren noch nie so lange zusammen.«
Ein kurzes Zucken lief über Katies Gesicht, und Melissa fragte sich, ob sie mit ihrem verliebten Geplappere unsensibel auf die Situation ihrer Freundin reagiert hatte. Aber Katie hielt sich nicht lange damit auf. »Apropos soziale Medien«, sagte sie. »Irgendwas Neues von deinem Stalker?«
»Das Übliche.« Der User, der sich TruthTeller nannte, schien alle Zeit der Welt zu haben, jeden Post von Melissa zu kommentieren – manchmal sogar mehrfach. »Das tut weh, aber Annabel besteht darauf, dass es gut für mein Profil ist. Je mehr er mich angeht, desto mehr engagieren sich meine Follower für mich.«
»Gut, Annabel ist deine Agentin, aber ich bin deine beste Freundin. Die Posts von diesem Typen sind doch irr, Melissa – er hat sich völlig auf dich eingeschossen.« Die Kommentare heute Morgen waren ganz besonders übel. Als Antwort auf einen Post, der Lust auf die anstehenden Podcast-Folgen machen sollte, hatte TruthTeller geschrieben: Der Evan-Moore-Fall ist wie geschaffen für dich. Spoiler-Warnung: Die Stiefmutter ist die Böse. Eine Stunde später: Ich kann immer noch nicht glauben, dass du den armen Kerl dazu gebracht hast, dich zu heiraten, aber für seine Tochter schwant mir noch Übleres. Wenn sie Glück hat, besitzt du so viel Anstand, sie bei den Kindermädchen abzuladen. Vierzig Minuten später: Vielleicht gibt er dir auch den Laufpass, wenn er erfährt, was ich über dich weiß. »Was sollen diese vagen Andeutungen, dass es irgendein dunkles Geheimnis gibt, das dir schaden könnte? Sorry, ich weiß, du sprichst nicht gern über die Vergangenheit, aber was meint TruthTeller damit?«
Nicht zum ersten Mal gingen Melissas Gedanken von TruthTeller zu Jennifer Duncan. Als Jennifers Verurteilung aufgehoben wurde, schien es ihnen beiden selbstverständlich, dass sie weiterhin Kontakt hielten. Sie hatten während des Revisionsverfahrens eine enge Beziehung aufgebaut und waren beide davon überzeugt, dass es auch anderen eine Hilfe sein könnte, wenn Jennifers Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würde.
Aber dann wollte Jennifer auch Melissas Hilfe im anschließenden Verfahren beim Nachlassgericht, in dem es um das Vermögen ihres Mannes ging. Jennifers Verurteilung hatte verhindert, dass sie das ihr laut Testament zustehende Erbe antreten konnte. Nach der Urteilsaufhebung aber machte Jennifer Ansprüche auf das gesamte Erbe geltend. Laut ihrer Aussage waren Dougs mittlerweile erwachsene Kinder im Grunde genommen Fremde – das Ergebnis »einer kurzen Ehe in jungen Jahren«, bevor er mit dem Trinken aufhörte, Wirtschaftswissenschaften studierte und sein Immobilienunternehmen gründete, mit dem er schließlich zum Multimillionär aufstieg. Melissa versuchte ihr klarzumachen, dass sie keine Anwältin für Erbrecht sei und sich lieber auf Strafrechtsfälle statt auf die Erbstreitigkeiten mit Dougs Kindern konzentrieren wolle, woraufhin Jennifer wütend auf sie losgegangen war.
Dennoch, TruthTeller konnte jede x-beliebige Person sein, weshalb Melissa ihre Vermutungen bislang immer für sich behalten hatte. »Wer weiß, was da wirklich gemeint war. Um ehrlich zu sein, der Kommentar über das Kindermädchen hat mich am meisten getroffen.«
Melissa und ihr Bruder waren nur selten in die Obhut eines Babysitters gegeben worden, aber Charlie machte beruflich wieder mehr, nachdem er sich nach Lindas Tod doch ziemlich eingeschränkt hatte, und er bestand darauf, dass Melissa auch weiterhin intensiv die eigene Karriere verfolgte. Momentan planten sie, zumindest in Teilzeit ein Kindermädchen anzustellen, wenn sich Riley erst einmal an die Veränderungen gewöhnt hatte, die ihrem noch jungen Leben aufgezwungen worden waren.
Katie wischte die Bedenken fort. »Das arme Mädchen hat doch schon einen Elternteil verloren. Je mehr Menschen sie in ihrem Leben hat, die ihr Zuneigung entgegenbringen, desto besser für sie. Manchmal muss man sich seine Familie selbst suchen.«
Melissa drückte Katie die Hand. Sie konnte immer auf deren Verständnis zählen. »Apropos Familie, Mike kommt zum großen Umzug.« Melissas Mutter hatte ein Kaufangebot für das Haus angenommen. »Mom wollte schon ein Umzugsunternehmen kontaktieren, aber Mike hält es für wichtig, dass wir alle zusammen die Sachen durchgehen. So können wir uns noch Erinnerungsstücke aus dem alten Haus aussuchen, und Mom kann alles einlagern, was in das neue Haus nicht mehr reinpasst. Ach ja, und stell dir vor: Mike und ich mieten einen U-Haul-Umzugswagen und fahren gemeinsam hin. Es ist außerhalb der Saison, deshalb hat er Zeit und kann kommen.«
»Und wessen brillante Idee war das?«
»Die von Mom, denke ich. Seit dem Tod von Dad wünscht sie sich wirklich, dass wir beide uns wieder näherkommen.«
Nachdenklich strich sich Katie übers Kinn. »Na ja, vielleicht würde es ja helfen, wenn er mal ein Date mit deiner besten Freundin hätte.«
»Mach darüber noch nicht mal Witze«, rüffelte Melissa sie.
»Und du brauchst wirklich niemanden, der dir beim Umzug hilft? In diesem Anzug hat er bei deiner Hochzeit ziemlich gut ausgesehen.«
»Das wäre ja so, als würde meine Schwester meinen Bruder daten oder so. Hör auf.«
»Gut, war ja nur Spaß. Fast. Und du brauchst wirklich keinen Puffer? Ich weiß doch, dass es dich in den Wahnsinn treibt, wenn er immer wieder über … na, du weißt schon, reden will.«
Melissa zuckte mit den Schultern. »Nein, ich muss das allein machen. Es ist Mom wichtig, und Dad würde das auch so wollen.«
Drei Wochen später würde sie es zutiefst bedauern, dass sie Katies Angebot, sie zu begleiten, abgelehnt hatte.