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E s war so kalt. Mommy, Mommy … Ich will nicht baden. Sie hatte Sand zwischen den Zähnen. Sand – warum? Hatte sie das wirklich gesagt oder es sich nur eingebildet?

Melissas Lider zuckten, als sich die Sonne über die weißen Wellenkämme erhob. Es war Sommer, dennoch hatte sie Gänsehaut vom kühlen Wind am Strand. Sie versuchte immer noch, das Gefühl des kalten Sands an ihren nackten Beinen einzuordnen, als sie eine Stimme hörte.

»Missa, vermisst du Mommy?«

Bei der Stimme ihrer Stieftochter drehte Melissa den Kopf und sah Riley über sich stehen. In der Ferne lag das Haus ihrer Kindheit. Der letzte Tag, an dem sie hier sein würde.

»Ich vermisse Mommy. Grand-Nan sucht dich.«

Melissa hatte keine Vorstellung, wie panisch ihre Mutter reagiert haben musste, als sie ihr Zimmer leer vorgefunden hatte. Sie drückte sich die Hände aufs Gesicht und versuchte, sich in die Realität zurückzuholen. In die Gegenwart. Sie hatte wieder einen Albtraum gehabt. Es wurde schlimmer. Charlie hatte sie bereits mehrmals laut im Schlaf schreien hören. Einmal war sie sogar geschlafwandelt, trotz der Schlaftabletten ihres Arztes, die sie genommen hatte, um auszuprobieren, ob sie wirkten. Charlie hatte sie, in ein Badetuch gehüllt, im Badezimmer gefunden, wo sie auf die Wanne starrte, während unerklärlicherweise das Wasser lief. Jetzt war sie anscheinend mitten in der Nacht an den Strand gegangen.

Sie umarmte Riley und sagte ihr, sie müsse sich keine Sorgen machen. »Ich war ganz aufgeregt und bin schon früher raus, um mir den Sonnenaufgang anzusehen. Und dann muss ich Schlafmütze wieder eingedöst sein und hab im Traum komische Sachen gesagt.« Riley fiel in das Kichern mit ein, mit dem Melissa ihre Erklärung abgeschlossen hatte. Melissa nahm Riley an der Hand, so gingen sie zum Haus zurück, wo ihr Bruder und ihre Mutter sie beobachteten. Die Erleichterung im Gesicht ihrer Mutter war nicht zu übersehen.

»Ist alles in Ordnung, Liebes? Wir dachten, du wärst in deinem Zimmer, bis Riley aufgefallen ist, dass die hintere Tür offen stand.«

Melissa zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. »Ich wollte nur von dieser ganz besonderen Aussicht Abschied nehmen.«

Mike gab ein frustriertes Seufzen von sich. »Vielen Dank auch, du hast uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

In den letzten zwei Tagen hatten sie ihrer Mutter beim Aussortieren geholfen: Was wollten sie spenden, was sollte eingelagert werden, was würde sie in ihr sehr viel kleineres Cottage auf Long Island mitnehmen? Melissa war dankbar dafür, dass Riley bei ihr war und sie die Kleine nicht bei ihrer Tante Rachel gelassen hatte, nachdem Charlie kurzfristig auf eine Geschäftsreise musste. Da Kleinkinder nicht im Umzugswagen mitfahren konnten, wollte Melissa Riley in ihren Wagen packen, während Mike den Umzugslaster steuerte. Ihre Mutter würde noch bis Montag auf Cape Cod bleiben, um den Verkauf abzuschließen, und später in Southampton zu ihnen stoßen. Melissa war entschlossen, den zeitlichen Vorsprung zu nutzen, um das Haus vor der Ankunft ihrer Mutter so einladend wie möglich herzurichten.

Später am Morgen war sie noch mit letzten Dingen beschäftigt. Sie ging die Post-its durch, mit denen sie die Dinge markiert hatten, die wohltätigen Einrichtungen vermacht oder eingelagert würden. Ein letzter Blick ins Gästehaus, um sich zu vergewissern, dass sie nichts zurückgelassen hatten. Noch einmal ein Gang durch ihr Kinderzimmer, wo sie über das oberste Regalbrett im begehbaren Schrank strich und tatsächlich noch einen kleinen pinken Plüschbären fand, der einen Regenbogen auf dem Bauch und ein Herzchen auf der Nase hatte. »Pookie«, flüsterte sie. Er roch nach den Holzwänden des Schranks.

Als sie nach unten kam, sprang Riley, die mit ihrer Gran-Nan auf dem Sofa saß, mit leuchtenden Augen auf. »Wer ist das?«

»Das Ding hast du immer noch?«, sagte Mike, der sich am Eingang seine Turnschuhe band.

»Wie kannst du es wagen?«, entgegnete sie übertrieben entrüstet. »Pookie ist kein Ding . Pookie gehört zur Familie. Riley, das ist Pookie. Er war das allererste Weihnachtsgeschenk, das ich von deinem Onkel Mike bekommen habe. Davor waren die Geschenke unter dem Baum immer nur von Grand-Nan oder unserem Daddy oder dem Weihnachtsmann gewesen. Aber dann hat Mike erklärt, er wäre alt genug, um mir auch was zu schenken.« Später hatte Melissa erfahren, dass ihr Bruder bei den Nachbarn Laub gerecht hatte, um sich das Geld für den Plüschbären zu verdienen. »Pookie ist ein Glücksbärchi. Als ich noch klein war, gab es über sie eine eigene Fernsehserie und Filme. Ich habe die Glücksbärchis geliebt, so wie du Peppa Wutz liebst.«

Riley gluckste und legte sich die Hände an die Wangen. »Also gaaanz viel.«

»Genau. Außerdem waren die Glücksbärchis so was wie Schutzengel, die einen vor dem Bösen Mann beschützen. Pookie ist ein Hurrabärchi, das glücklichste von allen, das immer alle aufmuntern will.« Sie hatte nicht mehr an Pookie gedacht, seitdem sie ihn irgendwann ins oberste Regal ihres Schranks gestopft hatte. Hatte der sechsjährige Mike seine kleine Schwester mit einem Plüschtier zu beschützen versucht? Oder ihr nur ein Lieblingsspielzeug gekauft?

»Das lässt du aber nicht hier, oder?«, fragte Riley besorgt.

»Auf keinen Fall. Pookie darf für immer bleiben«, sagte sie. Sie warf ihrem Bruder ein verhaltenes Lächeln zu, der ihr daraufhin zuzwinkerte.

»Ihr beide seid mittlerweile spät dran«, sagte ihre Mutter. »Habt ihr endgültig Abschied genommen von dem alten Mädchen?«

Sie nickten beide. Mike rief sogar zur Decke hinauf: »Auf Wiedersehen, Haus! Du wirst uns fehlen.«

»Und ihr habt auch wirklich die Schlüssel für das neue Cottage?«, fragte Nancy.

»Klar.« Melissa klimperte zur Bestätigung mit dem Schlüsselbund. Statt die Schlüssel fürs Cottage mit der Post nach Cape Cod zu schicken, hatte der Immobilienmakler ihrer Mutter sie im Büro in der Stadt gelassen, wo Melissa sie abholen konnte.

Ihre Mutter umarmte sie lange, nahm ihnen das Versprechen ab, vorsichtig zu fahren und anzurufen, sobald sie am neuen Ort eingetroffen waren.

Melissa gab auf ihrem Handy die neue Adresse ihrer Mutter ein und bat ihren Bruder, seinen Standort mit ihr zu teilen.

»Wir fahren doch zum selben Ort«, sagte er.

»Tu mir den Gefallen, okay? Ich will sicher sein, dass wir uns finden, falls wir getrennt werden.«

Er murmelte was von »Kontrollfreak«, kam ihrer Bitte aber nach.

Melissa schnallte Riley auf dem Rücksitz fest, Mike stand noch an der Fahrerseite des SUV . »Was war denn das da unten am Strand?«, fragte er leise.

»Hab ich dir doch gesagt. Ich konnte nicht schlafen.«

»Blödsinn. Du hast nach deiner Mommy gerufen, und du hast gesagt, dass du nicht baden willst.«

Sie machte Anstalten, etwas zu erwidern, brachte aber kein Wort heraus. Er sah zu Riley auf dem Rücksitz. Offensichtlich hatte sie ihrem Onkel Mike erzählt, was sie gehört hatte, als sie Melissa am Strand fand.

»Sie ist gerade mal drei. Und sie ist durcheinander.«

»Komm schon. Unterstell deiner Stieftochter nicht, dass sie sich Sachen einbildet. Sie hat mir erzählt, was du gesagt hast, und ich hab sofort gewusst, worauf es sich bezieht. Du erinnerst dich, was er mit uns gemacht hat, nicht wahr? Nachdem du immer gesagt hast, dass alles wie ausgelöscht wäre.«

»Es war bloß ein blöder Traum. Ich hab es dir schon tausendmal gesagt, ich war damals zu jung. Es tut mir leid, dass du dich an alles erinnerst, aber ich erinnere mich nun mal nicht. Und vor allem will ich es auch nicht.«

»Du warst vier Jahre alt, als ich dir Pookie geschenkt habe. Daran erinnerst du dich auch, völlig problemlos.«

»Das war etwa eineinhalb Jahre nach der Entführung.«

»Ich hab vieles darüber gelesen. Damals, als wir klein waren, dachten die Experten, Kinder wären geschützt, wenn sie keinen Zugang zu ihren schlimmsten Erinnerungen hätten. Mittlerweile weiß man, dass unterdrückte Erinnerungen bei Erwachsenen für alle möglichen Probleme sorgen können – Angstzustände, Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörung, Amnesie, …«

»Mike«, sagte sie ruhig. »Ich weiß, was ich vor drei Wochen zum Abendessen hatte. Ich leide nicht unter Amnesie.«

»Und du weißt auch, was er uns angetan hat. Ich weiß es.«

Er sah ihr in die Augen, bis sie sich abwandte und hinters Steuer setzte. »Fahren wir. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Sie schloss die Tür, bevor er noch etwas sagen konnte. Du kannst dich fürs Glück entscheiden, rief sie sich ins Gedächtnis. Pookie, das Hurrabärchi, würde dem definitiv zustimmen.