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M elissa hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Sie hörte die Angst in Mikes Stimme, während er sie an sich zog. »Melissa, was ist los? Melissa, wo ist Riley?«

Sie versuchte, die Hand zu heben, aber sie fiel schlaff nach unten. Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton über die Lippen. Die Welt um sie herum – es gab sie noch, aber sie hatte keinen Zugang mehr zu ihr.

»Reiß dich zusammen, Missy«, hörte sie ihren Bruder sagen. »Wir müssen Riley finden.«

Das Kind. Charlies Tochter. Jetzt auch ihre Tochter. Sie mussten sie finden. Melissa wollte Worte bilden, aber diese Worte kamen nicht. Sie war müde, so müde.

Sie hörte die Verzweiflung in der Stimme ihres Bruders. Sie wollte ihm sagen: »Mach dir um mich keine Sorgen. Finde Riley.« Aber sie schaffte es nicht. Sie spürte, wie er sie hochzog und auf die Beine stellte, aber sie sackte nur gegen ihn.

»Was ist los?«, fragte er. »Ich hab gewusst, dass mit dir was nicht stimmt – aber das ist zu viel. Riley ist fort. Kapierst du nicht?«

Endlich fand sie ihre Stimme. »Polizei«, sagte Melissa. »Du musst die Polizei rufen.«

Wie in weiter Ferne hörte sie ihren Bruder die neue Adresse ihrer Mutter und den Namen des vermissten Kindes angeben, das vergangenen Monat erst drei geworden war – Riley Miller.

Entfernt bemerkte sie, dass sie zitterte. Aber daran dachte sie nicht. Sie dachte an ihre abrupte Entscheidung am Morgen, TruthTeller zu löschen und zu blockieren. Sie sah die schreckliche Frau im Park vor sich. Weil Sie sich nie irren, was? Ich weiß alles über Sie. Sie sind eine Schwindlerin. Und eine Heuchlerin.

Und jetzt war Riley verschwunden. Bestand da ein Zusammenhang?

»Hast du die Polizei gerufen, Mike?« Sie wusste nicht, ob es eine Minute oder eine Stunde her war, dass sie darauf gedrängt hatte. Verzweifelt griff sie nach dem Handy neben sich auf dem Bett und sah auf die Uhr. Wie hatte sie mehrere Stunden dermaßen weggetreten sein können nach den vielen schlaflosen Nächten?

»Ja, hast du mich nicht gehört? Sie sind unterwegs«, versicherte er ihr.

Melissa spürte die Dunkelheit heraufziehen. Sie dämmerte weg … Nein … nein … nein … Sie zwang sich aufzustehen. Sie entdeckte Pookie. Jetzt lag er achtlos auf dem Boden und sah trauriger und fadenscheiniger aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie wankte die Treppe hinunter und suchte das Haus ab. Neben der Eingangstür entdeckte sie ein Stoffbündel auf dem Boden. Rosa und lila Herzchen. Rileys Decke, an die sie sich vorhin gekuschelt hatte. Melissa stockte der Atem. Sie wollte sie schon aufheben, unterließ es dann aber. Das Haus war jetzt vielleicht ein Tatort.

Sie taumelte zur Tür hinaus, ihr Bruder folgte und fragte, wohin sie wollte. Jetzt, hier auf dem Bürgersteig, barfuß auf dem Beton, während ihr der Abendwind über die nackten Arme strich, war sie hellwach. Was Mike durchgemacht hatte … was sie erlitten hatte, als sie entführt wurden – nein, nein, sie durfte nicht zulassen, dass Riley das ebenfalls widerfuhr.

Diese Erinnerungen an die Vergangenheit gaben ihr deutlich zu verstehen, dass sie so schnell nicht verschwinden würden. Klarer als in ihren Albträumen hörte sie, wenn sie die Augen zukniff, sich selbst schreien, als kleines Mädchen: »Mommy … Mommy.« Da hatte Carl Harmon den Reißverschluss ihrer Jacke aufgezogen. »Ja, ja«, hatte er sie besänftigt. »Alles ist gut.«

Er hatte sie in seine unheimliche Mietwohnung gebracht, ganz oben in einem düsteren, alten Herrenhaus, dem »Ausguck«, das direkt an der Küste gelegen war, hoch oben auf einer Klippe mit einem dreieinhalb Hektar großen Grundstück. Sie erinnerte sich, dass Mike den Mann fragte, wer er war und wo sie sich befanden. Harmon sagte ihnen, er sei ein Freund ihrer Mommy, und er habe sich zu ihrem Geburtstag für sie ein Spiel ausgedacht. Melissa spürte noch immer die Hände des Mannes auf sich, bis Mike versucht hatte, ihn von ihr wegzustoßen. Aber er konnte nicht viel ausrichten. Harmon hatte Melissa ihrem Bruder wieder entrissen und dann Mike gefragt: »Weißt du, wie es ist, wenn man tot ist?«

»Das bedeutet, dass man in den Himmel kommt«, hatte Mike geantwortet.

Daraufhin hatte Harmon ihnen gesagt, dass ihre Mommy am Morgen in den Himmel gekommen sei, und ihr Daddy habe ihn gebeten, für eine Weile auf sie aufzupassen. Mike hatte geweint und gesagt: »Wenn meine Mommy im Himmel ist, dann will ich auch dahin.«

Harmon hatte Mike durch die Haare gestrichen, während er Missy auf seinem Schoß geschaukelt und sie sich gegen die Brust gedrückt hatte. »Das kannst du auch«, hatte er gesagt. »Noch heute Abend, versprochen.«

Es ließ sich nicht länger leugnen. Sie erinnerte sich. Sie erinnerte sich an alles. Und was jetzt mit Riley geschah, glich den Geschehnissen damals. Es würde alles wie beim letzten Mal sein. Wie beim letzten Mal, aber würden sie auch Riley finden, so wie damals sie und Mike gefunden wurden, Riley, die von einem ebenso abscheulichen, seelenlosen Menschen missbraucht würde? Carl Harmon hatte Mike eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, um ihn sterben zu lassen, während er sich mit Melissa auf den Dachboden geflüchtet hatte, um sie vom Dach zu werfen oder im Meer zu ertränken.

Sie musste Charlie benachrichtigen. Mein Gott, wie sollte sie das Charlie sagen?

Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Hallo! Ich komme gut voran. In etwa einer Stunde sollte ich da sein.«

Sie würde sich später nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, den sie unter Tränen hervorbrachte, aber der Inhalt war klar: Riley wurde vermisst, und es war alles ihre, Melissas, Schuld.