C harlie umklammerte so fest das Lenkrad, dass seine Knöchel weiß anliefen. Selbst in der Dunkelheit war zu erkennen, wie fahl sein Gesicht war, Melissa sah den Schmerz in seinem Blick. Es fiel ihr schwer, positiv zu klingen. »Zumindest haben es die Detectives ernst gemeint, als sie sagten, sie würden nach Riley suchen.«
Schon beim Verlassen des Hauses hatten sie die Polizisten entdeckt, die die Straßen in der Umgebung des Cottage absuchten und mit Fotos von Riley an die Türen klopften. Im Moment kam es ihr so vor, als fuhren sie aufs Geratewohl durch irgendwelche Straßen – nebenbei rief sie in den Krankenhäusern der Umgebung an und erkundigte sich dort, ob Neuigkeiten über Riley vorlagen.
Jedes Mal, wenn eine neue Nachricht von Neil und Amanda oder von Katie eintraf, leuchtete ihr Handydisplay auf. Alle boten sie an, zu kommen und bei der Suche mitzuhelfen, aber Charlie meinte nur, sie würden bloß für noch mehr Chaos sorgen. Melissa wurde daran erinnert, dass er nach wie vor ihre Freunde nicht zum engsten Kreis zählte, obwohl sie, er und Riley jetzt doch eine Familie waren.
Der Bildschirm am Armaturenbrett zeigte einen Anruf seiner Schwester Rachel an. Er nahm sofort an. »Hallo. Melissa und ich sind gerade unterwegs. Wir … sehen uns um. Die Polizei sucht alles ab. Im Moment wissen wir nicht recht, was wir überhaupt machen sollen.«
»Es gibt heute keine Züge mehr, ich könnte mir höchstens noch einen Mietwagen nehmen. Oder einen Fahrdienst. Wie es dir am liebsten ist.« Rachel klang heiser, wahrscheinlich hatte sie geweint. »Ich hab ein schlechtes Gewissen. Ich hätte die Wochenendtermine absagen sollen. Dann wäre Riley bei mir gewesen, als du auf Geschäftsreise warst.«
Melissa, den Blick auf den Bürgersteig gerichtet, spürte die Schwere des Vorwurfs. Es war ihre Schuld. Hätte sie auf Mike gehört und mit jemandem über ihre Albträume gesprochen, wäre sie vielleicht nicht so tief eingeschlafen.
»Hier ist niemandem ein Vorwurf zu machen«, antwortete Charlie. Er drückte Melissa die Hand. »Du kennst Riley. Sie will immer alles erkunden. Wahrscheinlich hat sie es irgendwie nach draußen geschafft und sich verirrt. Sie weiß, dass sie mit Fremden nicht reden soll. Vielleicht ist sie irgendwo eingeschlafen.«
Auf dieses hoffnungsvolle Szenario kamen sie immer wieder zurück.
»Gut«, sagte Rachel, »aber ich werde morgen den ersten Zug nehmen und mir ganz fest sagen, dass mich am Bahnhof meine kleine Nichte begrüßt und wir alle zusammen frühstücken können. Und Melissa? Bist du da?«
»Ja, Rachel.«
»Ich weiß, ich war bislang nicht unbedingt die beste Schwägerin …«
»Ich verstehe das sehr gut, es war nicht leicht. Alles ging sehr schnell, klar. Aber darüber müssen wir jetzt nicht reden.«
»Okay, aber du solltest wissen, ich bin froh, dass Charlie dich jetzt hat. Und du tust Riley gut. Ich selbst werde mir von jetzt an mehr Mühe geben.«
Melissa schluckte den Kloß im Hals hinunter und wünschte sich inständig, es würde wirklich ein »von jetzt an« geben – ein glückliches Zusammensein mit Riley bei ihnen zu Hause. »Das gilt auch für mich. Wir sind schließlich eine Familie.«
Rachel verabschiedete sich, im gleichen Augenblick klingelte Melissas Handy. Es war Mike. Sie hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf. »Hast du sie gefunden?«, fragte sie und hielt den Atem an.
»Nein, tut mir leid. Aber die Polizei hat mich gefunden. Wir müssen reden.«
Sie kehrten ins Cottage zurück. Mike saß im Sessel in der Ecke des Wohnzimmers und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Als sie eintraten, schreckte er auf. Seine Müdigkeit, die Anspannung in seinem Gesicht ließen ihn älter erscheinen – vielleicht sah sie in ihm immer noch den Jungen, so wie er in ihr immer noch seine kleine Schwester Missy sah. Jetzt stellte sie erstaunt fest, wie sehr er ihrem Vater ähnelte.
»Kannst du uns kurz allein lassen, Charlie?«, fragte er.
Charlie presste die Lippen zusammen, dann schüttelte er den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. »Tut mir leid, Mann. Nein. Hier geht es um meine Tochter. Ich will jedes Wort hören.«
Mike nickte. »Ich bin zum Park gefahren, ich dachte mir, wer sich tagsüber im Park aufhält, macht dort vielleicht auch seinen Abendspaziergang. Mir ist nur ein Pärchen mit einem Hund begegnet, die Beschreibung der Frau, die dich belästigt hat, hat ihnen aber nichts gesagt. Ich wollte gerade wieder los, um noch etwas durch die Gegend zu fahren, da tauchen plötzlich die beiden Detectives auf und meinen, sie hätten noch ein paar Fragen. Als ich wissen wollte, ob sie mir gefolgt sind, sagen sie, sie wollten nur mal den Park überprüfen, was für mich nun überhaupt keinen Sinn ergab. Ich bin hier vor ihnen losgefahren. Sie hatten es ganz klar auf mich abgesehen, nicht auf den Park.«
Charlies Atem ging heftiger, er ballte die Fäuste. »Warum sollten sie das machen, Mike? Hast du meiner Tochter was angetan?« Mike zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag abbekommen. Melissa schrie entsetzt auf. Wütend wandte sich Charlie an sie. »Wie oft hast du mir erzählt, wie kaputt er ist nach dem, was ihr in eurer Kindheit erlebt habt? Ich hätte vorsichtiger sein müssen und ihn nicht in Rileys Nähe lassen dürfen.«
Zum ersten Mal seit der Beerdigung ihres Vaters sah sie, wie sich Tränen in Mikes Augen bildeten. »Na, großartig«, sagte er. »Von euch beiden.« Selbst sein Sarkasmus konnte seinen Schmerz nicht überdecken.
»Bitte, Mike«, flehte sie ihn an. »Wir können später darüber reden, über uns und über alles andere. Aber jetzt geht es um Riley. Was wollten die Polizisten von dir wissen?«
»Was anscheinend auch Charlie wissen will«, sagte Mike. »Wo ich den ganzen Tag gesteckt habe. Also werdet ihr froh sein zu hören, dass ich zum Anglerladen ins Dorf bin, während Melissa mit Riley beim Mittagessen war, weil ich mich umhören wollte, wie es hier so mit Booten aussieht. Ein Paar, das sich eine neue Angelrolle besorgen wollte, hat gehört, wie ich mich mit dem Ladenbesitzer unterhalten habe. Es stellte sich heraus, dass sie Angler sind und hier wohnen, aber jedes Jahr zum Inselhopping in die Karibik fliegen. Wir haben uns in einer Kneipe auf ein Bier zusammengesetzt, und dann haben sie mich bis nach Montauk gefahren und mich ein paar Charter-Unternehmen vorgestellt, die im Sommer vielleicht einen Skipper brauchen. Ich konnte es kaum erwarten, euch davon zu erzählen, aber als ich zurückkam, war hier alles wie ausgestorben. Sie heißen Christian und Lea, ihre Nachnamen kenne ich nicht, dafür habe ich Christians Handynummer. Die Einheimischen müssen sie jedenfalls kennen, der eine Detective hat sofort gewusst, wen ich meine, er hat angerufen und sich bestätigen lassen, dass wir den ganzen Tag zusammen waren und sie mich hier abgesetzt haben. Ihr könnt ihn anrufen, wenn ihr wollt.«
»Das ist natürlich nicht nötig«, sagte Melissa.
»O mein Gott«, sagte Charlie. »Tut mir leid, Mike. Ich kann überhaupt nicht mehr klar denken.«
Mike winkte nur ab. »Schon gut. Kein Problem, Mann.«
»Das war es also?«, fragte Melissa. »Sie haben dein Alibi überprüft, und du hast eines. Trotzdem hast du besorgt geklungen, als du angerufen hast.«
»Sie haben nicht nur nach mir gefragt.« Er senkte den Blick. »Sie haben mich gefragt, wie lange ihr euch schon kennt, wie gut ich Charlie kenne, wie gut du Charlie kennst. Ich hab sie daran erinnert, dass Charlie heute im Flieger gesessen hat, aber dann sind sie mit ihren Fragen konkreter geworden.«
Er schluckte und mied weiterhin den Blickkontakt mit Charlie. Was jetzt kommen würde, wusste Melissa, war der Grund, warum er mit ihr unter vier Augen sprechen wollte – seine Besorgnis hatte sich nie auf ihn selbst bezogen. Sondern auf Charlie. Sie musste es wissen. »Inwiefern konkreter?«
Jetzt sah er Charlie direkt in die Augen. »Über deine ehemaligen Schwiegereltern. In Oregon. Sie haben mich gefragt, ob ich deren Namen kenne oder wie man sich mit ihnen in Verbindung setzen könnte. Sie wollten wissen, ob du mit ihnen noch Kontakt hast und sie hin und wieder Riley sehen – solche Dinge.«
»Was soll das alles?«, fragte Melissa. »Würde Charlie nur für eine Sekunde glauben, dass sie irgendwas damit zu tun haben, hätte er das doch sofort der Polizei erzählt.«
»Das habe ich ihnen auch gesagt. Und dann haben sie mich gefragt, ob Charlie vielleicht den Eindruck vermittelt, dass es ihm ohne seine Tochter vielleicht besser gehen würde. Es wurde immer abstruser.«
Charlie wirkte verwirrt und verärgert. »Die denken also … ich hätte sie zu Lindas Eltern geschickt? Aber wenn, dann hätte ich ihnen das doch gesagt. Dann hätte ich doch keine Entführung inszenieren müssen.«
Mike erwiderte nichts, aber Melissa kannte ihren Bruder. Da war noch etwas. »Haben sie das andeuten wollen, Mike?«
Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Es war noch abstruser. Sie haben gemeint, deine ehemaligen Schwiegereltern könnten dich für jemanden halten, der Riley etwas hätte antun können. Damit du dich nicht mehr um sie kümmern musst.«