K evin Berry zuckte zusammen, als er den Kopf aufs Kissen legte. Seine Frau Cheryl sah weiter auf ihren Laptop und legte ihm mitfühlend die Hand auf die Brust.
»Der Sonnenbrand ist schlimm, was?«
»Meine Strafe, dass ich nicht die Creme nehme, die du mir kaufst.« Er war am Vormittag in Montauk mit Freunden zehn Kilometer gelaufen, ohne Sonnencreme. Jetzt bekam er die Rechnung dafür. »Stört es dich, wenn ich mir die Nachrichten ansehe? Oder soll ich nach unten gehen?«
Er wusste, wie viel Arbeit sie in den Vortrag gesteckt hatte, den sie nächsten Monat auf einer Konferenz der Global Health Initiative halten sollte. Der Artikel sollte den Organisatoren am morgigen Tag vorliegen, die Konferenz allerdings fand in Paris statt, wo es bereits morgen war.
Sie hob einen Finger, sah wieder auf den Bildschirm und drückte ganz theatralisch auf die Eingabe-Taste. »Und … gesendet.« Sie griff zur Fernbedienung auf dem Nachtkästchen und schaltete die Lokalnachrichten an, ihr übliches Ritual vor dem Schlafen.
Ein lächelndes Kindergesicht füllte den halben Fernsehbildschirm. Das Mädchen hatte Pausbäckchen und zwei hohe blonde Pferdeschwänze. Das Textband verkündete SUCHE NACH VERMISSTEM KLEINKIND IM SUFFOLK COUNTY . Neben dem Foto wurden weitere Infos eingeblendet:
Cheryl schlug die Hand vor den Mund. »Wie schrecklich. Die armen Eltern.«
»Kinder büxen häufiger aus. Vielleicht ist es falscher Alarm. Sie sagen, das gesamte East Ende wird abgesucht.«
»Aber sie ist erst drei. Und wird mittlerweile seit mehreren Stunden vermisst. Wie weit kommt sie denn allein? Das klingt nicht gut.«
Das waren Nachrichten, die keiner hören wollte, aber Cheryl sah sich nicht bloß die Nachrichten an. Sie fühlte aufrichtig mit. Das war eines der vielen Dinge, die Kevin so sehr an ihr schätzte. Sie war fraglos die mitfühlendste Person, die ihm jemals begegnet war. Im Lauf der Jahre hatte er begriffen, dass sie über eine außergewöhnliche Empathie verfügte und Gefühle und Erfahrungen von anderen wirklich nachempfinden und in sich aufnehmen konnte. Das machte sie zu einer wunderbaren Partnerin im Leben und zur besten Freundin, wie man sie sich nur wünschen konnte, bedeutete aber auch, dass sie ständig die Last fremder Probleme mit sich herumschleppte, als wären sie ihre eigenen.
»Du denkst daran, noch mal rauszugehen und dich den Suchteams anzuschließen?«, fragte er.
»Natürlich. Ein Einzelner kann vielleicht nicht viel ausrichten – aber wenn jeder seinen kleinen Teil dazu beiträgt? Wir sind alle miteinander verbunden.«
Das war ihre generelle Sicht auf die Welt. »Und angenommen, du schaffst es heute Abend noch nach Southampton, wie willst du dann wieder nach Hause kommen?«
Sie gehörten zu den etwa 3 200 Einwohnern auf Shelter Island, das zwischen der Süd- und der Nordspitze am östlichen Ende der Insel lag. Seiner Ansicht nach gab es keinen schöneren Fleck auf Erden, dazu blieben sie von den Menschenmassen und den Preisen der umliegenden Gemeinden verschont. Allerdings saßen sie auf einer vierzig Quadratkilometer großen Insel, die lediglich über eine Fähre zu erreichen war. Selbst wenn Cheryl noch die letzte Abendfähre zur Hauptinsel erwischte, würde sie nicht mehr nach Hause kommen.
»Wie gut, dass ich zufällig mit dem Fährkapitän verheiratet bin«, sagte sie und sah ihn erwartungsvoll an.
Kevin war schon sein halbes Leben lang Kapitän der South Ferry – und außerdem der Trainer des örtlichen Leichtathletikteams. »Ich hab dir schon oft genug gesagt, dass ich nicht dein persönlicher Fahrdienst bin. Wenn sich rumspricht, dass ich nur uns beide rübergeschippert habe, rufen mich als Nächstes irgendwelche Freunde mitten in der Nacht an, als wäre ich ihr Taxichauffeur.«
Er schaltete den Fernseher aus und zog sie näher zu sich heran. Schnell forderte der Schlafmangel nach der Arbeit am Konferenzbeitrag seinen Tribut, ihr Atem wurde tief und gleichmäßig. Er hatte die Augen geschlossen, vor sich aber sah er nach wie vor die vermisste Riley Miller in ihrem Schlafanzug, die nichts weiter bei sich hatte als ihr Lieblingsplüschtier.
Vielleicht war Cheryl nicht die Einzige im Haus, die empathisch veranlagt war.
Er beschloss, am nächsten Morgen seinen eigenen kleinen Beitrag zur Suche zu leisten, falls das Mädchen bis dahin nicht gefunden sein sollte.