A uf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Upper-East-Side-Wohnung tippte Neil Keeney eine Nachricht auf seinem Handy ein. Wollte noch mal nachfragen. Gibt’s irgendwas Neues? Sag Bescheid, wie wir helfen können. Amanda lässt auch grüßen.
Er drückte auf Senden . Er konnte sich nicht vorstellen, was Melissa und Charlie jetzt durchmachten.
»Ah, da ist Riley«, rief Amanda aus der Küche und setzte das Messer ab, mit dem sie eine Zwiebel schnitt. »Mach bitte die Lautstärke an.«
Er griff zur TV -Fernbedienung auf dem Beistelltisch und stellte die Stummschaltung aus. Sie hatten auf New York One nach aktuellen Meldungen Ausschau gehalten.
An der linken Bildschirmseite befand sich das mittlerweile vertraute Foto von Riley, die in die Kamera lächelte, während die Moderatorin ernst die Fakten aufzählte: ein Kleinkind, das seit mittlerweile mehr als vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen worden war. Auf dem Bildschirm erschienen Bilder von Gruppen, die das östliche Ende der südlichen Inselspitze absuchten. »An der Suche nach der kleinen Riley Miller beteiligen sich zahlreiche Einwohner im Suffolk County. Zu sehen sind hier sogar Bewohner von Shelter Island, die den Mashomack-Naturpark absuchen, angetrieben von der zunehmend verzweifelteren Hoffnung, diese Geschichte möge glücklich enden.«
Als die Nachrichten zu einer Reihe von Raubüberfällen in Brooklyn überleiteten, drückte Neil wieder die Stummtaste an der Fernbedienung. »Nancys Cottage liegt in Southampton. Ich kenne mich mit Long Island nicht so gut aus, aber ist Shelter Island nicht ein gutes Stück davon entfernt? Es ist doch eine eigene Insel, oder?«
»Wir waren mal da, weißt du nicht mehr? Das Abendessen, als dein Bruder mit … wie hieß sie noch? Die Publizistin. Als es so spät wurde und wir uns beeilen mussten, um noch die letzte Fähre zu erreichen. Müsste so eine Stunde von Nancys neuem Haus entfernt sein.«
Ihr Handy auf der Arbeitsfläche, gleich neben dem Schneidebrett, summte. Sie meldete sich sofort mit ihrer »Dienststimme«, wie Neil sie nannte. Wenn sie in ihrem Polizeimodus war, witzelte er immer, kam er sich vor wie ein kleiner Schuljunge, der darauf wartete, dem Direktor seine Missetaten zu beichten.
Er lauschte, während sie nickte und zwischendrin »okay« und »verstehe« sagte, bis er mit einem Mal seinen eigenen Namen hörte. »Ja, ist mir bewusst. Mein Mann Neil hat damals das Bild des Täters im Fernsehen erkannt. Das hat die Polizei zu dem Haus geführt, in dem sie festgehalten wurden. Das ist seine Beziehung zur Familie Eldredge.«
Sie hielt ihm das Telefon hin. »Detective Hall aus Long Island. Sie wollen wissen, was mit Mike und Melissa geschah, als sie noch Kinder waren.«
Er schaltete auf Lautsprecher, damit Amanda mithören konnte. Neben seiner persönlichen Beteiligung hatte er später an der Hochschule eine Arbeit über den Fall verfasst, sich darin aber hauptsächlich darauf konzentriert, wie Nancy Eldredges erster Ehemann langsam, aber gewissenhaft ihr Selbstbewusstsein so lange unterminiert hatte, bis sie von ihm völlig abhängig war. Bei seinen Recherchen hatte er Kontakt zu Lendon Miles aufgenommen, dem Psychiater, dessen unkonventionelle Behandlungsmethoden es Nancy überhaupt ermöglicht hatten, sich an Einzelheiten ihrer ersten Ehe zu erinnern – Einzelheiten, die sie aufgrund des in der Beziehung erlebten Traumas verdrängt hatte. Die beiden Männer waren seitdem als Kollegen und Freunde in Kontakt geblieben, bis Miles fünf Jahre zuvor im Alter von neunundachtzig Jahren gestorben war.
Neil war mit den Fakten im Fall von Carl Harmon so sehr vertraut, dass er sämtliche Fragen von Detective Hall fachlich kompetent beantworten konnte, bis ihr Interesse ins Persönliche wechselte. »Was würden Sie als erfahrener Psychiater sagen«, fragte sie, »wie Melissa und Mike mit ihrem Trauma zurechtkommen?«
Er wunderte sich, warum die alte Geschichte für Rileys Verschwinden relevant sein sollte. »Besser, als man unter den Umständen überhaupt erwarten konnte«, erwiderte er. Er meinte es ehrlich.
»Aber lässt sich sagen, dass Erlebnisse dieser Art verborgene Schäden an der Psyche hinterlassen können?«, fragte Detective Hall.
Er sah zu Amanda, erhoffte sich von ihr irgendwelche Aufschlüsse, aber sie schüttelte nur den Kopf. Auch sie hatte mit diesen Fragen ganz offensichtlich nicht gerechnet. »Weder Mike noch Melissa waren jemals meine Patienten, es wäre daher nicht angemessen, wenn ich mich zu irgendwelchen Spekulationen hinreißen lasse. Was ich aber sagen kann: Ich habe sie beide mit Riley beobachtet. Melissa gibt immer hundert Prozent, wenn ihr etwas wichtig ist, trotzdem habe ich sie noch nie so engagiert erlebt wie mit diesem kleinen Mädchen. Und Mike ist der perfekte Onkel. Wenn ich Ihnen bei besonderen Aspekten behilflich sein kann …«
»Wir wollten nur sichergehen, dass wir die Lage richtig einschätzen, Dr. Keeney. Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
Nach dem Gespräch gab er Amanda über die Kücheninsel das Handy zurück. »Warum fragen sie nach Carl Harmon?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Erst dachte ich, es sei ein Höflichkeitsanruf, nachdem ich mich an jeden Polizisten gewandt habe, den ich im Suffolk County kenne. Aber dann sagten sie mir, dass Melissa und Charlie einen Anwalt angeheuert haben, ihren Freund Grant Macintosh – der auch hin und wieder in ihrem Podcast auftritt. Ihnen ist, glaube ich, nicht bewusst, wie übel sich das aus Sicht der Polizei ausnimmt.«
»Aber jetzt verschwendet die Polizei wertvolle Zeit, wenn sie Fragen zu einem vierzig Jahre zurückliegenden Albtraum stellt. Gibt es irgendeine Erklärung, warum Melissa davon überzeugt ist, dass ein Anwalt der Polizei tatsächlich helfen kann, ihren Job besser zu machen? Genau das ist doch ein zentraler Teil in ihrem ganzen Berufsleben.«
Amanda kam um die Kücheninsel herum, drückte ihre Stirn gegen seine und gab ihm einen Kuss. »Ich liebe dich, wenn du so denkst.«
»Ich klinge naiv, was? Erläutere es mir aus deiner Perspektive.«
»Im Ernst? Wenn du mir die nackten Fakten auftischst und ich keine der beteiligten Parteien kenne, würde mir mein Bauchgefühl sagen, dass jemand in der Familie mehr weiß, als er zugibt.«
»Aber wir kennen die beteiligten Parteien«, sagte er. »Vielleicht nicht Charlie, aber es ist klar, dass er seine Tochter über alles liebt. Und du hast gestern gesagt, die Polizei hat bestätigt, dass er im Flugzeug saß, als Riley verschwunden ist.«
Sie machte sich wieder über die bereits perfekt klein gehackte Zwiebel her.
»Du kannst doch nicht Mike oder Melissa meinen. Ich kenne sie, solange ich mich erinnern kann.«
Sie legte das Messer weg. Er sah ihr an, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählte. »Seit Mike in die Karibik gegangen ist, hast du mit ihm kaum noch Kontakt gehabt. Du hast mir selbst gesagt, es kommt dir so vor, als hätte er sich wegen der Ereignisse in seiner Kindheit von anderen distanziert. Und wie oft hast du dir Sorgen um Melissa gemacht? Dass sie sich zu sehr unter Druck setzt, um allen zu beweisen, dass sie den wie auch immer gearteten Missbrauch unbeschadet überstanden hat?«
»Das macht die beiden nicht zu schlechten Menschen.«
»Neil, du bist Psychiater, und ich bin Polizistin. Wir wissen beide, dass Menschen, die Übles tun, oft selbst Übles erlebt haben. Es ist ein Teufelskreis.«
Hätte jemand anderes das gesagt, wäre er womöglich wütend geworden, aber es kam nun mal von Amanda. »Hat diese Detective dir irgendwas gesagt? Haben sie irgendwelche Indizien?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Bestimmtes. Aber ich kann dir sagen, dass Hall ihren Job versteht. Und sie weiß, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um dafür zu sorgen, dass nach Riley gesucht wird. Sie hat sich nur ganz vage geäußert: Ich soll nicht zulassen, dass mein Ruf als Polizistin durch die Probleme eines Freundes gefährdet würde. Und als sie erfuhr, dass du Psychiater bist und die beiden aus der Kindheit kennst, hat sie das Gleiche über dich gesagt.«
»Das ist doch verrückt. Es geht hier um unsere engsten Freunde.«
»Jeder, der heute Abend verhaftet wird, ist von irgend jemandem ein Kindheitsfreund. Das hat sie mir unmissverständlich klargemacht, Neil – diese Geschichte hat noch eine andere Seite.«