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N ach dem vierten Klingeln schaltete sich auf Charlies Handy erneut die Mailbox ein. Hallo, hier ist der Anschluss …

Melissa legte auf, sie wusste ja schon, dass die Mailbox voll war. Warum wurden die Nachrichten nicht abgehört?

Mike und sie hatten die Frau aus dem Park nicht finden können, aber sie hatte eine Theorie, um wen es sich dabei womöglich handelte. Allerdings verfügte nur Charlie über die notwendigen Informationen, damit sie wusste, ob sie auf der richtigen Fährte war.

Verzweifelt tippte sie mit zitternden Fingern eine weitere Textnachricht. Bitte ruf mich zurück. Ich hab Angst, dass dir und Rachel was zugestoßen ist. Was ist los?

Ihr Blick ging zum stummgeschalteten Fernseher auf dem Konsolentisch im Wohnzimmer. Die Lokalnachrichten hatten bislang von einer Drogenrazzia in Riverhead berichtet und zeigten jetzt Aufnahmen eines Brands in einem Apartmentkomplex in Islip. Laut dem Textband am unteren Bildschirmrand waren alle Anwohner evakuiert und zwei wegen Rauchvergiftung behandelt worden. War Riley bereits vergessen?

Sie wollte erneut Charlie und Mac anrufen, als das Klopfen an der Eingangstür sie so erschreckte, dass sie in der Stille des leeren Cottage einen Schrei ausstieß. Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, sagte sich, es müsse Mike sein, der mit ihrer Mutter vom JFK eintraf, bis ihr bewusst wurde, dass er frühestens in einer Stunde hier sein würde.

Charlie! Es musste Charlie sein, nach all ihren unbeantworteten Anrufen.

Sie rannte zur Tür und erwartete, ihn auf der Veranda stehen zu sehen. Vielleicht hatte er sein Handy verloren. Oder der Akku war leer. Es musste eine Erklärung geben. Natürlich. Etwas anderes war nicht vorstellbar. Als sie an der Tür war, tadelte sie sich bereits dafür, dass sie sich von ihrer Einbildungskraft so hatte davontragen lassen. Und als sie am Knauf zerrte, glaubte sie sogar, dass neben ihm, an seine Hand geklammert, Riley stehen würde. Die Polizei hatte sie gefunden. Das erklärte auch, warum keiner ans Telefon gegangen war. Sie würden beide lächeln und es kaum erwarten können, ihr alles zu erzählen.

Ihr Albtraum wäre endlich vorbei, und sie könnten alle zusammen in die Stadt zurück – sie alle drei, als eine Familie.

Als sie die Tür aufriss, glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen. Vor ihr standen die Detectives Hall und Marino.

Blinzelnd sah sie in den rosa-weißen Himmel, der in der Ferne dem Sonnenuntergang vorauseilte, und hoffte, die beiden Polizisten würden ihre Miene nicht als unfreundlich auffassen. »Haben Sie meine Nachrichten erhalten? Ich hab versucht, Sie zu erreichen.« Der Kaffeebecher. Er würde beweisen, dass ihr Drogen verabreicht wurden.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Hall. »Wir würden gern etwas mit Ihnen bereden.«

Natürlich. Von Anfang an hatten die Detectives immer nur reden wollen … obwohl sie und Charlie ihnen doch schon alles gesagt hatten, was sie wussten. »Ich hab den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Wissen Sie, wo Charlie und seine Schwester sind? Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Das letzte Mal haben wir sie im Beisein ihres Anwalts Grant Macintosh gesehen«, antwortete Marino.

»Ich weiß, wie das aussehen muss«, sagte sie, »aber wir hatten das Gefühl, dass wir Hilfe brauchen. Wir sind alle erschöpft, und Grant ist ein Freund von mir seit meiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft.« Sie wollte ihnen erklären, dass das alles nur wegen Charlies ehemaligen Schwiegereltern geschah, wusste aber nicht, wie viel Charlie oder Mac ihnen schon über die Situation erzählt hatten.

»Wir« , sagte Marino. »Sie sagten, wir brauchen Hilfe, aber soweit wir wissen, vertritt Grant Macintosh Ihren Mann, nicht Sie, Ms. Eldredge. Und wir sind hier, weil wir mit Ihnen reden wollen, nicht mit Mr. Miller.«

Ihr Leben lang war Melissa stolz darauf gewesen, stets die richtigen Worte zu finden. Jetzt aber hätte sie am liebsten einfach nur laut schreien wollen: Hören Sie auf, immer nur rumzureden, und finden Sie Riley! Stattdessen wandte sie den Blick von den Detectives ab und versuchte, die Fassung zu wahren. Als auf dem Fernsehbildschirm Rileys lächelndes Gesicht auftauchte, war das mit einem Mal das Einzige auf der Welt, was noch zählte. Sie eilte zur Fernbedienung und stellte den Ton an. Wie viel von der Berichterstattung hatte sie verpasst?

»… wo die Dreijährige das letzte Mal gesehen wurde. Mittlerweile hat News 12 allerdings in Erfahrung gebracht, dass der Vater des vermissten Mädchens erst im vergangenen Monat wieder geheiratet hat und die neue Ehefrau – die Stiefmutter des vermissten Mädchens – als Kleinkind ebenfalls entführt worden ist, was damals landesweit für Schlagzeilen sorgte.« Voller Panik nahm Melissa wahr, dass nun ein anderes Foto auf dem Bildschirm erschien. Sie erkannte das Gesicht sofort. Sie hatte das Bild schon mal gesehen. Es war dieser Mann – dieser kranke, abscheuliche Mann –, der siebenundvierzig Jahre zuvor einen kalifornischen Gerichtssaal verließ, in dem ihre Mutter wegen Mordes an ihren Kindern Peter und Lisa angeklagt wurde. Noch bevor Melissa überhaupt auf der Welt gewesen war. Bevor der Mann auf dem Foto auf dem Cape wieder aufgetaucht war, ein bisschen dicklicher, ein bisschen älter, glatzköpfiger und unter einem anderen Namen. Bevor er ihre Familie ausfindig gemacht hatte. Bevor …

Unten am Bildschirmrand war zu lesen: Stiefmutter Melissa Eldredge, die vor vierzig Jahren von Carl Harmon entführt wurde . Ihre Beine drohten nachzugeben, als sie ihren Namen sah, gleich neben dem, den sie sich weigerte, laut auszusprechen. Ihr wurde übel.

Als sie sich zu Detective Marino umdrehte, sah der ebenfalls zum Fernseher. »Genau darüber wollten wir mit Ihnen reden. Das ist nämlich genau das, was wir bei der Polizei einen Zufall zu viel nennen.«