M elissa wusste nicht, ob ihre Mutter sie fünf Sekunden oder fünf Minuten in den Armen hielt. In den zurückliegenden Jahren war Melissa aufgefallen, dass ihre Mutter mit dem Alter kleiner geworden war, in diesem Moment aber fühlte sich Nancy Eldredge so massiv an wie eine Eiche.
Erst gestern Morgen war sie noch so aufgeregt gewesen, ihre Mutter in deren neuem Haus willkommen heißen zu dürfen, war stolz gewesen, dass sie und Mike zusammen das Cottage so hergerichtet hatten, dass es sich wie ein Zuhause anfühlte. Jetzt ließ sie sich in die Umarmung ihrer Mutter fallen, genoss die Sicherheit und wusste, wenn sie losließ, würde sie sich wieder der schrecklichen Wahrheit stellen müssen.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Der Polizist, der ihr Blut abgenommen hatte, räusperte sich. Er hatte seine Sachen zusammengepackt und musste an ihnen vorbei, um das Cottage verlassen zu können.
Durch das Fenster sah sie, wie ihr SUV vom Abschleppwagen weggebracht wurde. Aus dem richterlichen Beschluss ging hervor, dass der Wagen auf der Polizeidienststelle kriminaltechnisch untersucht werden würde. Ihre Gedanken kehrten zu den im Schreiben aufgeführten Punkten zurück: Fingerabdrücke, Haar- und Blutproben, die auch im Kofferraum genommen würden. Allein der Gedanke war schrecklich.
»Wie um alles in der Welt können diese Leute annehmen, dass du Riley etwas antun kannst?« Die sonst so sanfte Stimme ihrer Mutter bebte vor Zorn.
Besorgt sah Mike zu ihrer Mutter.
»Tut mir leid, dass ich dich aufgeregt habe, Mom«, sagte Melissa. »Ich hätte mich nicht so theatralisch benehmen dürfen. Ich werde bestimmt nicht verdächtigt. Die Polizei ist nur gründlich und zieht sämtliche Möglichkeiten in Betracht.«
Mike war in der Küche, setzte den Wasserkocher auf den Herd und zog den Kräutertee aus dem Schrank, den sie achtundvierzig Stunden zuvor eingekauft hatten. »Melissa hat recht«, sagte er. »Die beiden Polizisten haben mich letzten Abend observiert, bis ich ihnen klarmachen konnte, dass ich mir den gesamten Nachmittag mit zwei Einheimischen Charter-Unternehmen angesehen habe.« Er versuchte mit einem unterdrückten Glucksen ihrer Mutter die Sorgen zu nehmen, was ihm allerdings völlig misslang.
»Ihr beide behandelt mich, als wäre ich alt und gebrechlich, was, offen gesagt, beleidigend ist. Ich verzeihe mir nie, dass ich euch an jenem Tag im Garten allein gelassen habe, und ich weiß nur allzu gut, wie viel Schreckliches ihr als Folge davon durchmachen musstet. Aber ich glaube, ihr vergesst, was ich durchgemacht habe. Wisst ihr, dass ich in den eiskalten See gesprungen bin und völlig verzweifelt im Wasser nach euch gesucht habe? Als ich euch nicht finden konnte, war ich überzeugt, dass ihr ertrunken seid. Euer Vater hat mich auf dem eisigen Sand gefunden, die nassen Sachen klebten mir am Körper, und ich hielt mir deinen kleinen roten Handschuh an die Wange, Melissa. Anfangs hat die Polizei mich unterstützt. Alle waren sehr mitfühlend. Aber nachdem sie von meiner wahren Identität erfuhren – dass ich die berüchtigte Nancy Harmon bin –, war alles anders. Sie waren überzeugt, ich hätte, als ich damit rechnen musste, dass mein Geheimnis enthüllt wird, einen psychotischen Schub erlitten und euch beiden das angetan, was ich angeblich schon Peter und Lisa angetan habe.«
Psychotischer Schub – der gleiche Ausdruck, den auch Marino benutzt hatte.
Nie hatte ihre Mutter so freimütig über ihre Erfahrungen während der Zeit ihrer Entführung gesprochen. »Es tut mir so leid«, sagte Melissa. »Uns ist klar, dass das für dich schrecklich traumatisch sein muss.«
»Hör auf damit!«, rief ihre Mutter. »Du bist eine intelligente Frau, Melissa. Aber du kapierst nicht, was ich sagen möchte. Wenn jemand verdammt genau gewusst hat, was sich hier abspielt, als wir ankamen, dann ich. Ich hab es sofort gespürt, so, wie die Detectives uns angesehen haben, als du die Tür geöffnet hast. Haben Sie sich vielleicht die Mühe gemacht, mich zu trösten, weil meine Enkelin vermisst wird? Nein. Sie konnten es doch kaum erwarten, von hier wegzukommen, wahrscheinlich, weil sie mich ebenfalls für eine gebrechliche alte Dame halten und nicht wollen, dass ich die Wahrheit erfahre. Also hört auf, eure Mutter zu schützen.«
»In Ordnung«, sagte Melissa.
Mike erschien mit einer Tasse samt Untertasse und noch eingetauchtem Teebeutel. »Darf ich dir einen Kräutertee geben, oder ist dir so was mittlerweile zu soft?«
Mit einem versöhnlichen Blick nahm ihre Mutter das Getränk entgegen. »So, jetzt setzt ihr euch bitte und erzählt mir alles.«
In der folgenden halben Stunde zwang sich Melissa dazu, sich völlig zurückzunehmen und die bloßen Tatsachen aufzuzählen, als würde sie als Anwältin einem Kollegen die Zusammenfassung eines Falls präsentieren. Erst als sie in ihren eigenen Worten hörte, welche Indizien vorlagen, wurde ihr bewusst, dass sie fast unvermeidlich als Tatverdächtige gelten musste.
Wie hatten die Detectives es genannt? Ein Zufall jagt den nächsten. Melissa war die Letzte, die Riley gesehen hatte, die Einzige, die an diesem Tag damit betraut war, sich um das Mädchen zu kümmern, dazu waren die Türen abgeschlossen gewesen, als Mike nach Hause kam und Riley verschwunden war. Sie war plötzlich von einem berufstätigen Single zu einer Frau geworden, die Karriere, Sozialleben, Ehemann und Kleinkind miteinander vereinbaren musste. Monatelang hatte sie in einem ungelösten Fall recherchiert, bei dem die Polizei eine unglückliche Frau verdächtigte, ihren Stiefsohn getötet zu haben, damit sie wieder frei sein konnte und sich nicht mehr um ihn kümmern musste. Sie hatte in ihrem Podcast sogar verlauten lassen, dass die Stiefmutter niemals verdächtigt worden wäre, wenn sie ihr Handy zu Hause gelassen hätte, als sie – wie von der Polizei vermutet – zu einer nahe gelegenen Insel fuhr, um den Leichnam loszuwerden.
Und dann der Hinweis, der wahrscheinlich den Durchsuchungsbeschluss für ihren Wagen und ihre vielen unbeantworteten Anrufe bei ihrem Mann erklärte – die Videoaufzeichnungen einer Frau, die in einem SUV wie ihrem mit einem Kind zu einer nahe gelegenen Insel fuhr und anschließend allein zur Südspitze zurückkehrte.
Irgendwann während ihres Monologs brach ihre emotionslose Anwaltsfassade in sich zusammen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und presste die Daumen gegen die Schläfen, als könne sie buchstäblich die Richtung bestimmen, die ihre Gedanken nahmen. Warum hatte sie das nicht früher gesehen? Von ihrer Arbeit wusste sie, dass Menschen, die nie auch nur einen Strafzettel bekommen hatten, unter großem psychischem Druck schreckliche Taten begehen konnten. Viele waren von ihrem eigenen Verhalten anschließend so geschockt, dass sie ihre Verbrechen völlig aus dem Bewusstsein verdrängten und behaupteten, entweder einen Blackout oder einen Gedächtnisverlust erlitten zu haben.
Wie oft hatte Mike sie gewarnt, dass sie nicht ignorieren dürfe, was ihr angetan worden war? Er hatte sie gewarnt, dass ihr Trauma Wege und Möglichkeiten finden würde, an die Oberfläche zu kommen. Mithilfe ihrer fürchterlichen Albträume hatte ihr Unbewusstes ihr mitgeteilt, dass die Illusion der Normalität, die sie sich im Lauf der Jahre so mühselig aufgebaut hatte, einzustürzen drohte. Sie erinnerte sich an den sorgenvollen Blick – nein, dachte sie in der Rückschau, den mitleidigen Blick – von Charlie, als er sie mitten in der Nacht im Badezimmer vorfand, wo sie, eingewickelt in ein Handtuch, auf das in die Wanne fließende Wasser gestarrt hatte. Und erst zwei Tage zuvor hatte sie in der Morgendämmerung am Strand gelegen und wie ein kleines Kind nach ihrer Mutter gerufen, ohne sich erinnern zu können, wie sie dorthin gekommen war.
Was hatte sie noch alles verdrängt?
Endlich erkannte sie, wohin diese Gedanken sie führten. »Was, wenn …« Sie nahm die Hände vom Gesicht, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ihre Mutter oder ihren Bruder anzusehen. Unwillkürlich begannen ihre Arme zu zittern, als wollte ihr Körper die Wahrheit über das erzählen, was sich am Tag zuvor in diesem Haus zugetragen hatte. »O mein Gott, was, wenn … sie recht haben? Das alles ist wegen mir geschehen. Ich war so besessen davon, die Vergangenheit auszublenden – als hätte es sie, puff, nie gegeben. Du kannst dich fürs Glück entscheiden? Wie arrogant und dumm ich war. Aber genau das hast du gesagt, Mike. Irgendwann wird das Trauma einen Weg finden, um sich bemerkbar zu machen. Was, wenn, was, wenn … die arme kleine Riley. O lieber Gott, nein. Bitte lass es nicht so sein.«
Ihre Mutter stellte entschieden ihre Tasse auf den Tisch und ergriff Melissas Hände. »Schau mich an, Melissa.«
Melissa hatte nach wie vor den Blick auf ihren Schoß gerichtet, schüttelte nur den Kopf. Mit so schwacher Stimme, dass sie sie kaum als ihre erkannte, sagte sie: »Wenn ich nach Shelter Island fahren würde, erinnere ich mich vielleicht wieder. Vielleicht sehe ich etwas, das mir bekannt vorkommt. Ich muss mich nur wieder erinnern. Wenn ich es war, dann muss ich es ihnen sagen …«
Die Stimme ihrer Mutter wurde noch ernster. »Bitte, meine schöne, einfühlsame, großzügige, brillante und sehr starrköpfige Tochter – schau mich an.«
Melissa kam der Aufforderung nach.
»Ich war genau an dem Punkt, an dem du jetzt auch bist. Du und dein Bruder, ihr wolltet nicht, dass ich die Wahrheit erfahre, weil damit der Schmerz wieder hochkommt, dem ich vierzig Jahre zuvor ausgesetzt gewesen bin – dem wir ausgesetzt waren. Gut, ihr habt damit recht, und genau deswegen hört ihr mir jetzt zu. Alles, was du gerade gesagt hast, kenne ich von mir selbst. Damals in Kalifornien – bevor ihr überhaupt auf der Welt wart, bevor ich euren Vater kennengelernt habe –, als ich wegen Mordes an Peter und Lisa vor Gericht stand, habe ich jeden Morgen und jeden Abend in meiner Gefängniszelle gebetet. Frieden … gib mir Frieden. Lehre mich, es zu akzeptieren . Ich habe gewusst, ich hätte meinen Kindern nie etwas angetan. Sie waren ein Teil von mir. Als sie starben, war mir, als wäre ich selbst gestorben. Und dennoch habe ich zu Gott gebetet, damit ich akzeptieren konnte, dass sie nicht mehr lebten – und damit ich meine Strafe akzeptieren konnte, weil ich mir selbst die Schuld gegeben habe. Habe ich euch jemals erzählt, dass ich mir die Tonbandaufnahmen mit Dr. Miles angehört habe?«
Dr. Lendon Miles war ein renommierter Psychiater, der in Nancys Mutter verliebt gewesen war, bevor sie bei einem tragischen Verkehrsunfall, wie die Polizei ursprünglich annahm, ums Leben gekommen war. Das war geschehen, kurz nachdem sie den neuen Verlobten ihrer Tochter kennengelernt hatte. Nach Mikes und Melissas Entführung war Dr. Miles entschlossen, der Familie der Frau zu helfen, die er nach wie vor liebte. Als ihre Mutter sagte, sie könne sich nicht erinnern, was der Entführung ihrer Kinder vorausging, befragte er sie unter Verabreichung von Natriumamytal, eines Barbiturats, das zu den sogenannten Wahrheitsseren zählt. Es sollte ihren aus psychologisch katastrophalen Erfahrungen resultierenden Gedächtnisverlust aufheben.
»Es war die reine Verzweiflung«, sagte ihre Mutter, »dass ich der Spritze zugestimmt habe. Ich hätte alles getan, damit ihr gefunden werdet. Mit dem Einsetzen des Wirkstoffs fiel ich in einen Zustand der Ruhe, zumindest verglichen mit dem Schockzustand, in dem ich mich bis dahin befunden hatte. Ist das nachvollziehbar? Mir kam es so vor, als wäre ich plötzlich aufgewacht.«
»Willst du mir sagen, dass ich mir einen Psychiater suchen soll, damit ich mich wieder erinnern kann, was gestern passiert ist?«
»Nein. Ich sage dir das, weil ich nicht glaube, dass du überhaupt etwas verdrängst. Als die Wirkung des von Lendon Miles injizierten Mittels nachließ, blieb bei mir jedoch ein neues Selbstbewusstsein zurück. Euer Vater sagte, er hätte mich nie so entschieden reden hören. Ich war absolut davon überzeugt, der Polizei helfen zu können, damit ihr wieder nach Hause kommt. Stundenlang hatte ich mich in meinem Schmerz vergraben, aber jetzt schaffte ich es vom Sofa hoch. Ich hätte nie die Kraft gehabt, dich von Carl loszureißen, als er sich mit dir vom Balkon stürzen wollte, wenn ich nicht völlig von mir selbst überzeugt gewesen wäre. Diese kleine Stimme des Zweifels, die dir ins Ohr flüstert? Was, wenn ich Schlimmes getan habe? Die hörst du nicht, Melissa, weil du etwas Falsches getan hast, sondern weil du das kleine Mädchen über alles liebst.«
Melissa hatte in den vergangenen zwei Tagen eine wahre Gefühlsachterbahn durchlaufen: erst Angst, dann Wut, dann Hilflosigkeit. Ein überwältigendes Gefühl aber war immer da gewesen: Schuld. In ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie verantwortlich war für Rileys Verschwinden und alles, was ihr zugestoßen sein mochte. »Ich bin wie gelähmt von diesem bedrängenden Schuldgefühl. Was, wenn mein Unbewusstes mir einflüstert, ich hätte etwas Schlimmes getan, während ich wie weggetreten war?«
»Mit dir würde wirklich etwas nicht stimmen, wenn du keine Schuldgefühle hättest«, sagte ihre Mutter. »Ich denke, du fühlst dich genauso wie ich damals, als ich Peter und Lisa im Wagen zurückgelassen habe und in den Laden gegangen bin und sie bei meiner Rückkehr verschwunden waren. Und dann habe ich mir geschworen, dass ich nie, nie mehr auch nur das geringste Risiko eingehe. Aber das ist nicht möglich, versteht ihr? An diesem schrecklichen Tag habe ich euch, als ihr im Garten gespielt habt, nur für einen klitzekleinen Moment aus den Augen gelassen. Zum Teil werde ich mir das nie verzeihen, aber ich habe auch zu verstehen gelernt, dass ich deswegen nicht ins Gefängnis gehöre. Dahin gehört Carl Harmon, und er hat letztlich seinen Preis gezahlt. So, ihr wisst, ihr könnt mir alles erzählen, und ich werde euch trotzdem lieben und bedingungslos unterstützen. Melissa, hältst du es wirklich für möglich, dass du Riley irgendetwas angetan hast?«
Melissa presste die Lippen zusammen und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Dankbar für das, was sie in diesem Augenblick als grundlegende, nicht hinterfragbare Wahrheit ansah, schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Das ist absolut unmöglich.«
»Gut. Betrachte das als etwas, das Dr. Miles’ Wahrheitsserum entspricht und dir Klarheit verleiht. So, jetzt müssen wir uns daran machen, Riley zu finden.«
Melissa rief erneut dreimal hintereinander Charlie an. Eine Stimme verkündete, dass die Mailbox voll sei.
Sie probierte es erneut bei Mac und war überrascht, dass er sich tatsächlich meldete. »Hallo.«
Das ist alles? , hätte sie am liebsten geschrien. Hallo?
Stattdessen bedankte sie sich bei ihm, dass er den Anruf entgegennahm. »Ich weiß nicht, was sie dir gesagt haben, aber ich muss mit Charlie reden. Wo steckt ihr alle?«
»Ich jedenfalls stehe im Moment in der Einfahrt deiner Mutter. Kann ich reinkommen?«