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M it jedem Schritt zur Cottage-Veranda wurde Grant Macintosh langsamer. Der Anruf gestern Abend hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Seine Freundin Sarah hatte den »perfekten Sonntag in der City« geplant, beginnend mit einem Brunch im Meat Packing District, bevor sie sich den neuen schwimmenden Park im Hudson River ansahen, gefolgt von einem Spaziergang auf der High Line, um auf der Driving Range auf den Chelsea Piers einige Golfbälle zu schlagen. Nachdem sie dann noch einen Abstecher ins Metropolitan Museum an der Upper East Side unternahmen, strahlte Sarah über die 20 000 Schritte auf ihrer Smartwatch, die sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben geschafft hatte. Als sie sich schließlich an ihrem Lieblingstisch im Neary’s zum Dinner niedergelassen hatten, wollte Mac nur noch ein saftiges Hüftsteak und ein Glas Rotwein und dann ausgiebig schlafen.

Aber dann hatte Melissa angerufen.

Hätte er Sarahs Rat befolgt und die Mailbox rangehen lassen, hätte er erst heute von Rileys Verschwinden erfahren. Die Neuigkeiten waren entsetzlich genug, dabei blieb es aber nicht. Nach Melissas Erläuterungen behandelte die Polizei Charlie und ihre Familie als Verdächtige. Polizisten waren ihrem Bruder zu einem Park gefolgt und hatten ihm Fragen zu Charlies erster Ehe gestellt. Als Melissa erklärte, dass Charlies ehemalige Schwiegereltern mutmaßten, beim Tod seiner ersten Frau sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, wusste er, worauf der Anruf eigentlich abzielte. Charlie brauchte einen Anwalt.

Ebenfalls wusste er, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er hatte Melissa noch nie so aufgelöst erlebt. Ihre Stieftochter wurde vermisst, und die Polizei verschwendete wertvolle Zeit, indem sie sich mit Dingen beschäftigte, die nichts mit Rileys Verschwinden zu tun hatten. Natürlich musste er helfen. Dafür waren Freunde schließlich da.

Jetzt, nur einen Tag später, wünschte er sich, er wäre im Besitz einer Zeitmaschine und könnte die Uhr zurückdrehen, um sich anders zu entscheiden. Er hätte Melissa sagen können, dass er zu beschäftigt sei oder Charlie einen Anwalt bräuchte, zu dem er keine persönliche Beziehung hatte. Aber das wäre ihm herzlos erschienen. Einen Tag zuvor hatte er aber auch noch nicht gewusst, was er jetzt wusste.

Was er Melissa nun antun würde, war viel, viel schlimmer.

Beklommen drückte er auf die Klingel.

Macs Bedauern nahm noch zu, als Melissa die Cottagetür aufriss und ihn begrüßte. Die sonst so rosigen Wangen seiner Freundin waren eingefallen, die Augen rot und geschwollen. Sie wollte ihn wie immer umarmen, aber es gelang ihm, ihr auszuweichen, bevor er hinter sich die Tür schloss und eintrat. Mit Erleichterung nahm er wahr, dass die Vorhänge zugezogen waren. Falls die Polizei oder die Medien das Haus beobachteten, konnte selbst das geringste Anzeichen einer Gefälligkeit als geheime Absprache mit Rileys Stiefmutter missinterpretiert werden.

Als sie ihn im Wohnzimmer kurz umarmte, brachte er es jedoch nicht über sich, sie zurückzuweisen. »Ich danke dir, dass du hier bist«, sagte sie. »Ich laufe schon den ganzen Tag die Wände hoch und weiß nicht, wo du und Charlie stecken und warum keiner auf meine Anrufe reagiert. Die Detectives Hall und Marino waren da und haben mich beschuldigt, Riley nach Shelter Island gebracht und getötet zu haben. Mac, ich kann dir nicht sagen, wie ich mich gefühlt habe – es war … unvorstellbar. Bitte sag mir, dass Charlie nicht glaubt, ich hätte unserer Tochter irgendwas angetan.«

Unserer Tochter . Ihre Worte klangen so aufrichtig. Einen Tag zuvor hätte er noch geschworen, dass sie auch wirklich aufrichtig waren. Aber konnte er ihr trauen? Als Gastmoderator in ihrem Podcast verließ er sich selbst bei den kleinsten Details eines Verbrechens meist auf seinen spontanen Eindruck, jetzt aber, da er als Anwalt involviert war und die Tatverdächtige noch dazu persönlich kannte, stellte er erst einmal alles infrage.

Er hatte erwartet, dass das morgendliche Treffen mit Charlie und den Detectives eine Pro-forma-Angelegenheit sein würde. Charlie hatte sich am Vortag auf einem Auslandsflug befunden – ein besseres Alibi war nicht zu haben. Er war allen Berichten zufolge ein liebender Vater, der seine Tochter auf Händen trug. Die Spannungen mit seinen ehemaligen Schwiegereltern waren problematisch, aber Mac war zuversichtlich, die Polizei davon überzeugen zu können, dass Eltern es natürlich übel nahmen, wenn sie ihre einzige Tochter bei einem tragischen Unfall verloren und der Schwiegersohn daraufhin beschloss, mit dem Enkelkind ans andere Ende des Landes zu ziehen.

Als sich Mac vor dem Besuch der Polizeidienststelle mit Charlie beredete, hielt dieser jedoch eisern daran fest, dass die Polizei die Kontaktdaten von Lindas Eltern schon selbst recherchieren müsste, falls sie mit ihnen reden wollte. Wenn Mac als Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft etwas gelernt hatte, dann, dass die Polizei immer daran interessiert war, so viele Informationen wie möglich zusammenzutragen. Stimmte ein Tatverdächtiger der Durchsuchung seines Autos mit Ausnahme des Handschuhfachs zu, konnte man darauf wetten, dass sich etwas in diesem Handschuhfach befand.

Mac war darauf vorbereitet, den Detectives Charlies Bedenken darzulegen, doch dann kamen deren Fragen. Stimmte es, dass er seine Frau nur zehn Monate gekannt hatte, bevor sie heirateten? Hatte sie Kinder gewollt, bevor sie ihn kennenlernte? Schien sie von dem Fall Judith Moore geradezu besessen, der Frau, die unter Verdacht stand, ihren Stiefsohn ermordet und dessen Leichnam auf einer nahe gelegenen Insel versteckt zu haben? Wie viel wusste er von ihrem Kindheitstrauma und welchen Einfluss das auf sie hatte?

Und dann zeigten sie ihm die Videos von der Fähre nach Shelter Island.

Am liebsten wäre Mac aufgesprungen und hätte mit der Faust auf den Tisch geschlagen, als würde er das unerbittlichste Schlussplädoyer seiner Laufbahn halten. Melissa Eldredge gehörte zu den wunderbarsten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte. Wie hirnrissig, wenn sie wirklich glaubten, sie wäre zu einem Verbrechen fähig, ganz zu schweigen von einem heimtückischen Mord an einem Kind. So aber würde Melissas Freund reden – dank Melissa war er jetzt allerdings der Anwalt ihres Mannes.

»Mac?« Melissa starrte ihn erwartungsvoll an. »Was geht hier vor sich?«

Genau deshalb hatte er nicht hierherkommen wollen. Aber es gehörte zu seiner anwaltlichen Pflicht, seinen Mandanten zu schützen, nicht Melissa, seine Freundin. Er wusste, wie es aussehen würde, falls sich Charlie mehr für seine neue Ehefrau einsetzte als für die Sicherheit seiner Tochter. Und angesichts der Worte seiner Schwester Rachel, mit denen sie nach dem Betrachten der Videos Melissa bedacht hatte, schien ihm jeder zukünftige Kontakt zwischen den beiden Frauen besser in einer schlechten Reality-Show aufgehoben als im wirklichen Leben.

»Du sagst, die Detectives waren hier«, sagte er schließlich. »Was haben sie dir erzählt?« Die Videos. Haben sie dir die Videos gezeigt? Bitte, Melissa, erklär mir die Videos.

»Sie hatten grobkörnige Videos von der Fähranlegestelle. Ich nehme an, sie haben sie auch Charlie gezeigt, deshalb ruft er wohl nicht zurück. Hast du sie gesehen? Die Frau am Lenkrad könnte jede x-beliebige Frau sein, Mac. Du musst ihm das erklären.«

Er neigte den Kopf und sah sie unumwunden an. Sie müsste es besser wissen.

Bei ihrer letzten Begegnung, der Podcast-Aufzeichnung, hatte sie ihn noch auf einen Drink einladen wollen. Er hatte sie angelogen und ein Treffen mit seiner Schwester vorgeschoben. In Wirklichkeit hatte er sich mit den alten Kollegen aus dem Büro der Bezirksstaatsanwaltschaft zur Happy Hour getroffen. Es gab einen Grund, warum er und Katie die einzigen ehemaligen Mitarbeiter waren, mit denen Melissa noch zu tun hatte. Denn die Menschen neigten nun mal zum Neid. Während sich die anderen mit Kleinkriminalität und Drogendelikten herumschlagen mussten, war Melissa in einem Mordprozess die besondere Rolle der »dritten Vorsitzenden«, wie dieser Posten bei ihnen intern genannt wurde, vorbehalten gewesen – und einem prominenten Prozess noch dazu: Jennifer Duncan, das ehemalige Model, das angeklagt war, ihren älteren, reichen Ehemann umgebracht zu haben. Während des gesamten Prozesses war sie von den üblichen Routinearbeiten entbunden gewesen und hatte als rechte Hand für die beiden leitenden Staatsanwälte fungiert.

Dieser Neid entsprang ganz normalem Konkurrenzdenken innerhalb des Büros. Jeder Jurist, der vorhatte, bei der Bezirksstaatsanwaltschaft zu bleiben, würde irgendwann an einem Mordfall arbeiten. Katie war im gleichen Fall in nachrangiger Funktion eingesetzt gewesen und hatte sich um Anfragen seitens der Öffentlichkeit oder der Freunde oder Familienangehörigen des Opfers gekümmert. Mac selbst war zwei Monate später »dritter Vorsitzender« beim nächsten großen Mordprozess der Bezirksstaatsanwaltschaft geworden.

Aber dann, zwei Jahre zuvor, hatte Melissa das große Los gezogen, als sie gegen das Urteil ihres ersten Mordprozesses erfolgreich Revision einlegte. Dicke Schlagzeilen, Auftritte in den Nachrichten der Kabelsender, nachmittägliche Talkshows. Jetzt war sie nicht mehr nur irgendeine Anwältin. Jetzt war sie eine bekannte Persönlichkeit. Mac und Katie witzelten, wenn schon jemand außer ihnen selbst einen solchen Aufstieg hinlegte, dann waren sie froh, dass es Melissa passiert war. Ihre anderen ehemaligen Kollegen nahmen es weniger gelassen.

Aber wenn sie Melissa jetzt sehen könnten, wären sie nicht mehr neidisch.

Er atmete tief aus und wappnete sich für das, was gesagt werden musste. »Du weißt, wie sehr ich dich mag, okay? Wir waren vom ersten Tag an im Büro der Staatsanwaltschaft füreinander da.«

»Klar. Du, Katie und ich. Die drei Musketiere. Wie eine Familie.«

Jeder von ihnen hatte einen guten Grund, der sie zur Staatsanwaltschaft geführt hatte. Ein Staatsanwalt, der an einem sozialen Patenschaftsprogramm teilnahm, war im Grunde Macs Ersatzvater in dessen Kindheit gewesen. Katie hatte eine Cousine, die von einem Verkehrsunfall eine lebenslange Behinderung davongetragen hatte – sie war von einem Auto erfasst worden, dessen Fahrer anschließend Fahrerflucht beging und nie ermittelt werden konnte. Und obwohl Melissa nie dezidiert darüber sprach, was ihr und ihrer Familie in ihrer Kindheit widerfahren war, hatte sie einmal zugegeben, dass sie wegen dieser Ereignisse Jura studiert hatte.

»Du bist die beste Anwältin, die ich kenne, Melissa. Du erklärst in deinem Buch, dass das System nur funktioniert, wenn wir nicht von den mit unseren Aufgaben einhergehenden ethischen Grundsätzen abweichen. Und meine Aufgabe ist es jetzt nun mal, Charlie zu vertreten, nicht dich. Du hast mich aus einem ganz bestimmten Grund angerufen, und jetzt mache ich die Arbeit, um die du mich gebeten hast.«

»Und das heißt, du kannst ihm nicht sagen, er möge bitte seine Frau anrufen, damit ich ihm erklären kann, dass ich es nicht war.«

»Ich weiß, es ist schrecklich für dich. Um es ganz unverhohlen zu sagen: Dass die Polizei dich als Tatverdächtige sieht und nicht Charlie, ist das Beste für meinen Mandanten. Wie würde es denn aussehen, wenn jetzt der Eindruck entstünde, dass er einen zu vertraulichen Umgang mit dir hat? Er hat ein felsenfestes Alibi. Im Gegensatz zu dir.«

Der Schmerz in ihrem Blick sagte ihm, dass sie sein Argument verstand. Charlie konnte Riley nicht selbst getötet haben. Aber es war durchaus möglich, dass er und seine neue Frau das Verbrechen gemeinsam geplant hatten, um sich eines Kindes zu entledigen, das keiner von ihnen wollte. Die einzige Möglichkeit, klarzustellen, dass er nicht ebenfalls tatverdächtig war, bestand für Charlie darin, sich von Melissa zu distanzieren.

»Aber er muss wissen, dass ich es nicht war, Mac. Du musst es wissen. Wir müssen die Polizei auf die richtige Spur bringen, damit sie Riley findet.«

»Sie suchen doch nach ihr, Melissa. Hörst du nicht die Hubschrauber? Ob jetzt du am Steuer dieses SUV gesessen hast oder jemand anderes …«

»Soll das dein Ernst sein?«

»Du weißt, was ich meine. Tatsache ist, sie suchen überall auf Long Island.« Macs Handy in der Tasche klingelte. Er bemerkte die Uhrzeit auf dem Display. Er war schon länger hier, als er sollte. »Hör zu, das ist Charlie.«

Melissas Blick erhellte sich. »Bitte lass mich mit ihm reden. Ich flehe dich an.«

Es schmerzte ihn, sie so verletzlich zu sehen. Üblicherweise war sie die Person, die immer die richtige Antwort auf Lager hatte, die Powerfrau, die jedes Problem in den Griff bekam. Jetzt hatte sie nichts mehr unter Kontrolle.

Er nahm den Anruf entgegen und bat Charlie, dranzubleiben.