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V on Anfang an, als Nancy das Cottage zum ersten Mal sah, hatte sie gewusst, dass es das richtige Haus für sie war. Sie hatte während ihrer Fahrt nach Southampton nur drei Häuser besichtigt. Der örtliche Immobilienmakler war ihr von Taylor Summers, dem Makler, dem Ray sechs Jahre zuvor sein Unternehmen übergeben hatte, wärmstens empfohlen worden. Ihr gefielen der offene Grundriss und die großen Fenster, die viel Sonnenlicht in die Räume ließen, und sie erinnerte sich an ihr Gefühl, als Ray ihr damals das Haus auf dem Cape gezeigt hatte, das sie erst für sich mietete, bevor es zum Heim ihrer Familie wurde. Sie hatte einfach gewusst, dass sie bleiben würde.

Die Entscheidung, ein Angebot für das Cottage abzugeben, wurde durch den Ausblick besiegelt, den sie jetzt oben am Geländer der hohen Treppe vor sich hatte. Vom großen Fenster am Treppenabsatz konnte man über die Bucht blicken, die hinter dem Ende der Straße lag. Sie würde jeden Tag mit dem Blick aufs Wasser beginnen. Im Moment aber lauschte sie eher dem, was aus dem Wohnzimmer zu ihr in den ersten Stock hinaufdrang, wo sie mit ihrem Sohn stand.

»Ist das zu fassen?«, flüsterte sie. »Er hält Melissa davon ab, mit ihrem eigenen Mann zu reden, wobei sie ihn noch dazu als Anwalt engagiert hat. Ich habe Mac immer gemocht, aber das ist doch lächerlich.« Melissa hatte darum gebeten, mit Mac unter vier Augen zu reden, aber es war Nancys Haus. Wenn er weiterhin so mit ihrer Tochter sprach, würde sie ihn bitten, zu gehen. Bevor er aufgetaucht war, hatte Melissa optimistisch und selbstbewusst geklungen. Nancy wollte ihre Tochter nicht wieder so verzweifelt und verletzlich sehen.

Statt ihr zu antworten, brachte ihr Sohn sie zum Verstummen. »Schhh, ich kann nichts verstehen.«

»Ich bin zweiundsiebzig, wie kann dein Gehör schlechter sein als meins?«

»Na, viele Jahre zu laut die teuflische Rock-’n’-Roll-Musik gehört. Trotzdem, Mom, schhhh.« Seinen trockenen Humor hatte er nie verloren.

Sie hörte Handyklingeln aus dem Wohnzimmer. Charlie, dachte sie. Vielleicht rief Charlie Melissa an, trotz des herzlosen Ratschlags seines Anwalts. Oder vielleicht die Polizei, die mitteilte, dass sie Riley gefunden hatte. Nancy erinnerte sich an jedes Klingeln des Telefons, an jedes Anklopfen an der Tür, als damals ihre Kinder vermisst wurden, und jedes Mal hatte es sich angefühlt, als würde der Albtraum ein Ende finden – oder als würden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Das Klingeln verstummte, gleich darauf war wieder Mac zu hören. Hör zu, es ist Charlie.

Sie und Mike lauschten gespannt, als Mac erklärte, warum Charlie ihn und nicht Melissa direkt anrief. Mike neben ihr zuckte mit den Schultern. Die Erklärung ergab aus anwaltlicher Sicht Sinn.

Aber dann hörte sie die Verzweiflung in der Stimme ihrer Tochter, als Melissa mit ihrem Mann sprach. Charlie, Gott sei Dank. Hör mich an: Ich bin das nicht auf den Videos … Was meinst du damit? Was durchstehen …

Nancy wusste, wie es sich anfühlte, einer solchen Tat verdächtigt zu werden. Oh, wie gut sie das kannte. Noch immer spürte sie die offene Feindseligkeit des Polizeichefs von Adamas Port, Jed Coffin, als er in ihr Haus gekommen war. Es war genau wie beim ersten Mal, nach dem Verschwinden von Peter und Lisa. Nachdem er ihre Geschichte erfahren hatte, glaubte er, den ganzen Fall schon gelöst zu haben, noch bevor er auch nur eine einzige Frage gestellt hatte. Sie hatte den Zeitungsartikel gesehen, der enthüllte, dass die hier ansässige Ehefrau und Mutter Nancy Eldredge in Wirklichkeit die berüchtigte Nancy Harmon war, der vorgeworfen wurde, in Kalifornien ihre Kinder ertränkt zu haben, und die straflos davongekommen war. Überzeugt, dass das neue Leben, das sie sich auf dem Cape aufgebaut hatte, durch diese Enthüllung zerstört werden würde, musste sie, so Coffins Worte, »Amok gelaufen« sein und Michael und Missy das Gleiche angetan haben, was sie schon ihren beiden ersten Kindern angetan hatte.

Trotz des Schocks hatte sie intuitiv gespürt, dass Ray zu ihr stand. Der Polizeichef hatte um ein persönliches Gespräch mit ihm gebeten, als würde sie überhaupt nicht zählen. Aber Ray hatte Coffin warten lassen, hatte erst ihr die Hände auf die Schultern gelegt, bis sie sich beruhigt hatte und nicht mehr zitterte. Er hatte sie umarmt, ihre Wange an seine gedrückt und ihr wieder ein wenig Zuversicht gegeben, bevor er den Polizeichef ins Zimmer nebenan führte. Allein durch seine Haltung – aufrecht, unnachgiebig, selbstbewusst – hatte er klargemacht, dass Coffin trotz seiner Autorität ihrer Familie ein Mindestmaß an Respekt schuldete. Selbst als Coffin Nancy über ihre Rechte aufklärte und die Wagen der Bostoner TV -Sender vor dem Haus parkten und Reporter, die eindeutig von Nancys Schuld ausgingen, ihnen Fragen zubrüllten, war Ray nie ins Wanken geraten.

Melissas Worten und ihrem Ton war zu entnehmen, dass Charlie in diesem Moment, in dem seine Frau ihn gebraucht hätte, nicht wie Ray war. Charlie, warte. Was meinst du? Das klingt so …

Melissa brach mitten im Satz ab. So … was? , fragte sich Nancy. Kalt? Gleichgültig? Egoistisch?

Es folgten lange Sekunden der Stille, bis Melissa wieder zu hören war. Er sagt, du hast etwas in die Wege geleitet? Der Ton ihrer Tochter hatte sich verändert. Wieder sprach sie Mac an. Um mir noch ein letztes Telefonat zu ermöglichen, bevor ich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werde?

Mike hatte den Kiefer angespannt und die Hände zu Fäusten geballt, wie Nancy bemerkte. Schon immer hatte er seine kleine Schwester beschützen wollen.

Charlie braucht seinen Koffer, sagte Mac. Er wird nicht zurückgekommen, bis Riley gefunden ist. Tut mir leid. Wirklich.

Sie hörten Schritte in ihre Richtung kommen. Mike richtete sich auf, bereit, Mac gewaltsam den Zutritt zu verwehren.

»Nein, nicht«, sagte sie entschieden. »Wenn Charlie seine Sachen mitnehmen will, dann sind wir ihn los.« Bis Mac die Treppe erreichte, war sie schon im Gästezimmer. Ein Rollkoffer mit Männerkleidung, noch unausgepackt, lag offen auf der Kommode. Sie zog den Reißverschluss zu und stellte ihn in den Gang.

Mac war es sichtlich peinlich, als er vor sie trat. »Es tut mir leid. Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, Nancy.«

»Dann ist es ja gut. Dann muss ich mir keine Sorgen machen, dass ich deinen Erwartungen nicht entspreche.«

Mike tauchte aus dem Badezimmer auf und drückte Mac einen Rasierbeutel aus Leder gegen die Brust, sehr viel fester, als es eigentlich nötig gewesen wäre. »Kumpel, du solltest jetzt verschwinden.«

Sofort, nachdem die Eingangstür zufiel, wurde die Lautstärke des Fernsehers unten aufgedreht. Eine Frauenstimme war zu hören, der professionelle Tonfall einer erfahrenen Reporterin. »Wir warten hier in Southampton, Long Island, auf den Vater des vermissten Mädchens Riley Miller, der hoffentlich bald Neues zu berichten weiß.«