M elissa saß allein im Gästezimmer und stieß eine weitere Suche auf ihrem Laptop an. Linda Mutter Oregon Wasserfall Norwegen. Die Begriffe waren eine Variation ihrer früheren Versuche.
Erneut nichts Brauchbares.
Ihr wurde bewusst, wie wenig sie eigentlich über Charlies erste Frau wusste. Zumindest hieß sie nicht Miller, da war sie sich sicher, denn als sie sich mit Charlie darüber unterhalten hatte, dass sie ihren Namen behalten wollte, hatte er sich sofort einverstanden erklärt und erwähnt, dass Linda dies ebenfalls so gehandhabt hatte. Charlie musste ihr irgendwann Lindas Nachnamen genannt haben, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern.
Sie wusste noch, dass sich Charlie und Linda in ihrem ersten Studienjahr an der University of Washington kennengelernt hatten. Sie suchte nach Charlie Miller Hochzeit Linda Washington. Wieder nichts.
Sie rief die Website der Uni auf und suchte nach der Rubrik für die Ehemaligen. An der Westküste war es noch nicht so spät. Beim dritten Klingeln meldete sich eine junge, freundliche Frau. »Ehemaligenvereinigung. Sie sprechen mit Kelsey.«
Melissa wollte sich bereits für die Fragen, die sie zu stellen hatte, eine komplizierte Geschichte zurechtlegen, beschloss dann aber, dass nichts überzeugender klang als die Wahrheit. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie von der jungen Frau unterbrochen wurde. »Moment, Sie sind die Melissa Eldredge vom Justice Club? «
»Ach, Sie kennen den Podcast?«
»Ähm … ja. Meine Zimmergenossin und mich lässt der Fall von dem verschwundenen Jungen, Evan Moore, nicht los. Wir waren in der Mittelstufe, als es passiert ist. Erst gestern Abend haben wir diese Folge gehört. Dann arbeiten Sie an einem neuen Fall, in dem es um ein verschwundenes Kind geht? Wie lange wird das Mädchen schon vermisst? Sie sagen, es heißt Riley Miller?«
Melissa hatte noch nicht erklärt, dass das vermisste Kind ihre eigene Stieftochter war und der ehemalige Student, dessentwegen sie anrief, ihr Mann, aber sie spürte, dass Kelsey bereit war, ihr zu helfen. Sie erläuterte, dass die Entführung erst am Vortag stattgefunden habe und sie nun Informationen über die leibliche Mutter des Mädchens zusammenzutragen versuche. »Ich weiß nur, dass sie mit Vornamen Linda hieß und einen Mitstudenten namens Charles Miller geheiratet hat. Oh, und sie stammt ursprünglich aus Portland, Oregon.« Dazu gab sie noch das Jahr ihres Uni-Abschlusses an.
»Oh, ich hab keine Ahnung, wie ich Ihnen da helfen kann. Ich bin bloß eine studentische Aushilfe. Vielleicht sollten Sie im Unisekretariat anrufen.«
»Haben Sie ein Archiv mit öffentlichen Verlautbarungen seitens der Studierenden?«, fragte sie. Melissas College verschickte vierteljährlich einen Bericht, in dem sie jedes Mal nach ihr bekannten Namen aus ihrem Jahrgang Ausschau hielt. »Vielleicht haben die beiden ja ihre Hochzeit bekannt gegeben.«
»Oh, klar, das kann ich machen.« Melissa hörte das Klappern der Tastatur am anderen Ende der Leitung. »Hm, bislang finde ich nichts.«
»Was ist mit Spenden?«, schlug Melissa vor. »Ihr Büro muss doch Aufzeichnungen darüber haben.«
»Oh, klar, die haben wir«, sagte Kelsey mit einem Glucksen. »Das macht richtig Spaß. Als würde ich Ihnen beim Schnüffeln helfen. Okay, dann suche ich also nach … Charles … Miller. Hey, das hat funktioniert, ich hab ihn! Seine erste Spende kam schon ein Jahr nach seinem Abschluss. Nur fünfzig Dollar, aber die meisten geben da noch gar nichts. Und es scheint, als hätte er regelmäßig, Jahr für Jahr, etwas gespendet und dabei jedes Mal die Summe erhöht …«
»Er und Linda haben drei Jahre nach ihrem Abschluss geheiratet. Sie sollte ebenfalls aufgeführt sein.«
»Nein, ich sehe keine Linda. Es gibt immer nur einen Charles Miller. Aber, oh, das ist komisch.«
»Was?«
»Naja, er hat jährlich zweihundert Dollar gespendet, aber vor zwölf Jahren blieben die Spenden mit einem Mal aus. Seitdem kam nichts mehr.«
Charlie hatte ihr gegenüber keinen Grund erwähnt, warum er seine Universität finanziell nicht mehr unterstützen sollte. Es war denkbar, dass an seiner Stelle Linda die Spenden eingezahlt hatte, aber ohne ihren Nachnamen war das schwer herauszufinden. Außerdem wurden nach Melissas Erfahrung Spenden von verheirateten Absolventen immer unter beider Namen aufgeführt. So oder so, sie war in einer Sackgasse gelandet.
»Kelsey, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Wenn es Ihnen irgendwie möglich wäre, diese Recherchen auf dem Campus fortzusetzen, wäre das sehr hilfreich, um das kleine Mädchen zu retten. Vielleicht erinnern sich ja noch ältere Dozenten oder Angestellte an ihn. Charlie Miller hat seinen Abschluss in Umweltwissenschaften gemacht, falls das weiterhilft.«
»Ich werde mich mal umhören«, sagte Kelsey, nachdem sie ihre Handynummern ausgetauscht hatten. »Versprochen.«
Da Melissa sonst nichts anderes übrig blieb, fuhr sie mit ihrer Internetsuche fort.
Charlie Miller Linda Norwegen tödlicher Sturz
Amerikanerin Charlie Linda Wasserfall tödlich verunglückt
Charlie Linda Amerikanerin Mutter Selfie Tod
Frau aus Oregon stirbt Wasserfall Europa Linda
Immer noch nichts.
Als Melissa den Blick ihrer Mutter spürte, die im Flur vor der Tür stand, sah sie vom Computer auf.
»Ich will dich nicht stören«, sagte ihre Mutter. »Als ich dich hier sah, musste ich daran denken, wie du bei den Hausaufgaben immer genau so im Schneidersitz auf dem Bett gesessen hast und in deiner ganz eigenen Welt versunken warst.«
Melissa lächelte verhalten. »Dad hat mir immer gesagt, ich würde mir noch den Rücken ruinieren. Und Jahre später hab ich euch dann dazu gedrängt, euch bei Pilates anzumelden.« Und nun war ein Jahr seit seinem Tod vergangen, und sie kämpfte immer noch mit ihrer Trauer.
»Darf ich fragen, was du hier oben vor deinem Computer machst?« Ihre Mutter wirkte besorgt. »Du kannst doch jetzt nicht versuchen zu arbeiten.«
»Ich komme mir so hilflos vor«, sagte sie. »Ich werde dieses Gefühl nicht los, dass mit Lindas Sturz in Norwegen was nicht stimmt. Ich suche nach Infos zu dem Unfall, damit ich sicher sein kann, dass sie wirklich ums Leben gekommen ist. Bislang finde ich aber überhaupt nichts darüber.«
Während der Trauertherapie war aus Charlie, dem Typen, der neben der Kaffeemaschine sitzt, für Melissa schnell ein Vertrauter geworden. Obwohl er seine Ehefrau verloren hatte und sie mit dem Tod eines Elternteils zurechtkommen musste, entwickelte sich zwischen ihnen über ihre Trauerarbeit bald ein tiefes gegenseitiges Verständnis.
»Es ist so frustrierend. Ich kenne noch nicht mal den genauen Ort in Norwegen, wo Linda ums Leben gekommen ist.«
Das Handy neben ihr auf der Decke summte. Eine neue Textnachricht von Mac. Ich hab Charlie auf Linda ange sprochen.
Sie sah aufs Display, auf dem die Punkte anzeigten, dass er noch am Tippen war. Dann verschwanden die Punkte. Sie wartete.
Mac … komm schon, schrieb sie. Was hat er gesagt?
Weitere Punkte. Linda wurde in Norwegen eingeäschert.
Sofort verfasste sie eine Antwort. Hatte Charlie den Leichnam gesehen? War es irgendwie möglich, dass Linda Hilfe von Beamten vor Ort hatte, damit sie den eigenen Tod vortäuschen konnte?
Eine weitere Nachricht von Mac erschien. Bevor du mich mit weiteren Fragen löcherst: Charlie musste den Leichnam identifizieren, nachdem sie aus dem Wasser gezogen wurde. Er hat zusammen mit Lindas Eltern die Asche im Pazifik auf der Höhe des Cannon Beach verstreut – danach ist es mit den Schwiegerleuten zum Zerwürfnis gekommen. Also, wer immer Riley hat, es ist definitiv nicht Linda.
Entmutigt ließ sie die Schultern hängen. Sie war so überzeugt gewesen, auf der richtigen Spur zu sein.
Hält er die Pressekonferenz ab? , fragte sie.
Ich hab dir mitgeteilt, was du wissen wolltest. Ich muss jetzt los.
»Gibt es was Neues?«, fragte ihre Mutter hoffnungsvoll, als Melissa das Handy weglegte.
Sie klappte den Laptop zu und schob ihn weg. »Naja, ich kann mir meine endlose Google-Suche sparen. Das war Mac. Charlie hat Lindas Leichnam nach dem Unfall identifizieren müssen. So viel also zu meiner Theorie.« Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie verzweifelt sie gehofft hatte, dass sie richtiglag. Denn dann wäre es die eigene Mutter gewesen, die Riley entführt hätte, und die hätte es nur getan, um wieder mit ihrer Tochter zusammen sein zu können – und Riley wäre zumindest in Sicherheit gewesen.
»Komm mit nach unten. Dein Bruder köchelt irgendein Abendessen zusammen. Du musst wenigstens einen Happen essen.«
»Hast du was gegessen, als Mike und ich vermisst wurden?«
Ihre Mutter spitzte die Lippen. »Da hast du auch wieder recht.«
»Kannst du mir bitte Bescheid geben, wenn die Pressekonferenz beginnt? Charlies Schwester macht sich Sorgen, dass er dem Druck nicht gewachsen ist.«
Ihre Mutter schüttelte bekümmert den Kopf, sagte aber nur: »Natürlich.«
Als Melissa wieder allein war, klappte sie erneut den Laptop auf und gab eine neue Suchanfrage ein. Melissa Eldredge Stieftochter vermisst. Sie drückte die Eingabetaste, obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war. Der erste Treffer verwies auf NetSleuth, ein True-Crime-Forum, das sie regelmäßig nach potenziellen ungelösten und zu den Akten gelegten Fällen für ihren Podcast durchsuchte. Es überraschte sie nicht, dass viele der NetSleuth-User sie und den Justice Club kannten. In den meisten Kommentaren wurde Mitgefühl für Melissa und der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Riley bald gefunden würde, eine Minderheit aber hielt Melissa für die oberste Tatverdächtige.
Sie war auf der dritten Kommentarseite, als ihr Handy mit einer neuen Textnachricht summte. Jennifer Duncan.
Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der der Name mehrmals am Tag auf ihrem Handy aufgeploppt war. Allerdings war es mehr als ein Jahr her, dass sie sich das letzte Mal unterhalten hatten.
Melissa, es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung von deiner Verbindung zu dem armen vermissten Mädchen, bis mich eben eine Freundin angerufen hat. Ich wusste nicht, dass du geheiratet und jetzt eine Stieftochter hast. Sonst hätte ich mich schon früher bei dir gemeldet. Du weißt, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe. Ich kann noch nicht mal erahnen, was du und dein Mann jetzt durchmacht. Ich weiß, wir sind nicht unbedingt im Frieden auseinandergegangen, aber ich bin dir trotzdem dankbar für alles, was du für mich getan hast. Bitte sag mir, ob ich irgendwas für dich tun kann, und sei es nur, dass ich dir zuhöre. Ich bin den Großteil des Sommers in Sag Harbor. Alles Gute, Jen.
Melissa rief auf ihrem Laptop Instagram auf und suchte Jennifer Duncans Account. Der neueste Eintrag stammte vom frühen Nachmittag und zeigte sie lächelnd mit einer Fliegersonnenbrille auf einem Boot, ihre langen, honigblonden Haare flatterten im Wind. Selbst Montag kann ein Sonnentag sein. #SagHarbor #Boatlife #Beachlife #Bestlife #benutzsonnencreme.
Jennifer war im nahe gelegenen Sag Harbor?
Sie las die Nachricht noch dreimal, und mit jedem Durchgang erschienen ihr die Worte doppeldeutiger. Auf den ersten Blick war es eine einfühlsame, unterstützende Nachricht von einer ehemaligen Freundin und Mandantin. Wenn Jennifer allerdings immer noch einen Zorn auf Melissa hatte – und das so sehr, dass sie hinter den Posts von TruthTeller steckte –, dann konnten die Zeilen auch als subtiler Versuch gelesen werden, Salz in die Wunde zu streuen. Ich wusste nicht war dann die passiv-aggressive Erinnerung daran, dass sie jegliche Kommunikation eingestellt hatten. Und alles Gute: War das aufrichtig gemeint oder nur der twitterhafte, sarkastische Kommentar zu Personen, die man missbilligt und von denen man weiß, dass sie eine unerfreuliche Erfahrung durchmachen?
Und dann, am unheilvollsten: Du weißt, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe.
Bevor Melissa es sich anders überlegen konnte, verfasste sie die Antwort. Ich könnte jetzt wirklich eine Freundin gebrauchen. Ich muss hier raus, aber ich will auch nicht von den Leuten angestarrt werden. Sie sprang vom Bett, schlüpfte in die Sandalen und ging die Treppe hinunter, noch bevor die Antwort eintraf. Sie wollte sich schon ihren Autoschlüssel von der Kücheninsel nehmen, bis ihr einfiel, dass ja die Polizei den Wagen hatte.
Auf dem Display erschien eine neue Nachricht. Versteh ich total. Komm doch einfach zu mir.
Melissa klickte auf die Adresse, die folgte. »Mike, ich brauch die Schlüssel für den U-Haul.« Sie hätten den Wagen längst abgeben sollen, was sie aber auch in nächster Zeit nicht tun würden.
»Klar, die sind, glaube ich, in meinem Zimmer.« Er drehte die Herdplatte runter, auf der er was auch immer zubereitete, und ging die Treppe hinauf.
Ihre Mutter erhob sich aus dem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers. »Fährst du zur Polizei? Dann will ich mitkommen. Vielleicht hört Charlie ja auf mich. Ich kann ihm erzählen, wie es sich anfühlt, in einer so schrecklichen Sache von allen beschuldigt zu werden.«
Melissa schüttelte den Kopf. »Nein, Mac hat schon recht. Wenn ich dort auftauche, gibt das einen Riesenwirbel. Ich will nur frische Luft schnappen.«
»Die bekommst du nicht in einem Umzugstransporter«, erwiderte ihre Mutter. »Gehen wir doch alle zusammen spazieren – nur eine Runde um den Block.«
»Nach den Nachrichten will ich nicht, dass die Leute mich sehen.«
»Dann setzen wir uns auf die Terrasse vor meinem Schlafzimmer. Da sieht dich niemand, und es sollte eine nette Brise von der Bucht hereinwehen.«
Mike räusperte sich, als er wieder ins Wohnzimmer kam. »Ich weiß, wie es ist, wenn man allein sein will«, sagte er. »Ist schon gut, Mom.«
Nichts würde Melissa davon abbringen können, herauszufinden, wo sich Jennifer das Wochenende über aufgehalten hatte.