L aut Navi auf ihrem Handy waren es mit dem Auto neunzehn Minuten zu Jennifers Haus.
Melissa log nicht gern – schon gar nicht gegenüber ihrer Familie –, aber hätten Mike und ihre Mutter gewusst, wohin sie wollte und, wichtiger noch, warum sie dorthin wollte, hätten sie versucht, sie aufzuhalten.
Melissa hielt Jennifer für diejenige hinter den Posts von TruthTeller, bislang hatte sie aber nicht geglaubt, dass sie irgendetwas mit Rileys Verschwinden zu tun hatte. Das alles hatte sich mit einem Satz in Jennifers Nachricht geändert: Du weißt, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe.
Als Jennifer nach der erfolgreichen Revision des Urteils unnachgiebig darauf bestanden hatte, das gesamte Vermögen zu erben, hatte Melissa deren Motive für das Erschießen ihres Mannes im Nachhinein angezweifelt. Geld war jedoch nur eines der von der Staatsanwaltschaft während des ursprünglichen Mordprozesses untersuchten Motive. Recherchen zum Eheleben des Paars hatten ergeben, dass Jennifer jahrelang versucht hatte, ein Kind zu bekommen. Dann wurde bei der Autopsie von Doug Hanovers Leichnam festgestellt, dass er sich einer Vasektomie unterzogen hatte – laut den vorliegenden medizinischen Aufzeichnungen war der Eingriff bereits kurz nach seinem Uni-Abschluss erfolgt, zwei Jahrzehnte, bevor er Jennifer kennengelernt hatte.
Alles in allem deutete das darauf hin, dass Hanover, was seine Fähigkeit und Bereitschaft anbelangte, weitere Kinder zu bekommen, seine Frau nicht nur nur belogen, sondern sie auch starken emotionalen Belastungen ausgesetzt hatte, die unweigerlich in Enttäuschung enden mussten. Allerdings konnte die Staatsanwaltschaft nicht beweisen, dass Jennifer nicht erst durch die Autopsie von der Vasektomie ihres Mannes erfahren hatte. Sämtliche Indizien deuteten daneben darauf hin, dass Hanover ein grausamer und egoistischer Mensch gewesen war. Melissa überraschte es nicht, dass die beiden Staatsanwälte, denen der Fall übertragen war, entschieden, diese Indizien vor Gericht nicht zu verwenden – das war das letzte Mal gewesen, dass sie sich über das Thema Gedanken gemacht hatte. Bis jetzt.
Sie war von der Water Mill auf die Scuttle Hole Road abgebogen, von jetzt an kamen keine weiteren Abzweigungen mehr, bis sie den Golfklub und das Weingut an der Straße passiert hatte. Mit einer Hand am Steuer rief sie Katies Nummer auf ihrem Handy auf.
Katie meldete sich sofort. »Oh, Gott sei Dank, dass du anrufst. Ich wollte dich nicht stören, du musst dich bestimmt auf die Pressekonferenz vorbereiten, aber was ist denn los? Erst klang es so, als würde es jeden Moment losgehen, jetzt bringen die Sender nur wieder andere Dinge.«
»Es liegt an Charlie. Er hatte eine Panikattacke. Seine Schwester meint, es sei alles zu viel für ihn, nachdem zu Lindas Tod jetzt auch noch dieses Trauma dazugekommen ist.«
»Was soll das heißen, Panikattacke? Er muss vor die Presse. Könntest du nicht Neil anrufen, vielleicht kann er was für ihn tun? Ihm irgendwas verschreiben, damit er sich beruhigt. Oder Rachel und du bestreitet zusammen die Pressekonferenz, und er steht nur dabei? Was meint Mac dazu?«
Katies Fragen machten Melissa bewusst, wie dringend sie bei Charlie sein wollte, damit sie mit eigenen Augen sehen konnte, was wirklich los war. Sie war überzeugt, dass sie ihm helfen könnte – so wie ihre Mutter sie dazu gebracht hatte, sich von ihren Schuldgefühlen zu lösen, damit sie sich wieder ganz auf die Suche nach Riley konzentrieren konnte.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihr Gesicht glühte vor Scham, als sie Katie erklärte, dass die Polizei ihr nicht glaubte und Charlie sich auf Macs Anraten von ihr distanziert hatte.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Melissa, es tut mir so leid. Immerhin hab ich dir ja dazu geraten, ihm einen Anwalt zu besorgen.«
»Hör auf, es ist nicht deine Schuld. Außerdem rufe ich aus einem anderen Grund an.« Sie erzählte ihr von Jennifer Duncans Nachricht und was sie möglicherweise zu bedeuten hatte.
»Moment. Jennifer ist auf Long Island? Hast du das der Polizei gesagt?«
»Nein, es würde doch bloß wie der verzweifelte Versuch aussehen, von mir abzulenken. Ich hab doch mitbekommen, wie sie mich ansehen. Sie glauben allen Ernstes, ich wäre es gewesen. Und ich hab noch nicht mal mehr mein Auto, deswegen bin ich jetzt in diesem dämlichen U-Haul-Wagen unterwegs. Ich bin gerade auf dem Weg zu Jennifer.«
»Allein?«
»Anders funktioniert es nicht. Ich hab ihr gesagt, ich brauche eine Freundin, mit der ich reden kann.«
»Ich bin die Freundin, mit der du reden kannst, jederzeit, wenn es nötig ist«, erwiderte Katie. »Aber doch nicht eine Frau, die vielleicht eine Mörderin und Kidnapperin ist.«
»Ich sehe, du hast deinen Sinn für Humor nicht verloren.«
»Im Ernst, es klingt gefährlich, Melissa. Immerhin wissen wir, dass sie unter den richtigen Umständen eine Waffe abfeuern kann.«
»Wenn sie mich umbringen wollte, hätte sie es längst tun können. Wenn sie sich wirklich Riley geschnappt hat, dann, weil sie das Mädchen als ihres aufziehen möchte. Sie wollte unbedingt Kinder haben, aber das hat Doug ihr verweigert. Sie könnte sich irgendeine Adoptionsgeschichte ausdenken und Anwälte anheuern, die alles wasserdicht machen. Sie könnte sogar ins Ausland gehen und abtauchen. Möglicherweise hat sie sich bei mir gemeldet, weil sie jeden Verdacht von sich ablenken möchte – ähnlich wie Mörder, die auf die Beerdigung ihrer Opfer gehen. Vielleicht hasst sie mich aber auch nur so sehr, dass sie mich leiden sehen will. So oder so, solange ich ihr nicht zu verstehen gebe, dass ich sie verdächtige, hat sie keinen Grund, mir was anzutun.«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet ihr, dass Katie ihre Aktion dennoch missbilligte. »Und trotzdem rufst du mich an und sagst mir, dass du diese Frau besuchen willst. Dir ist schon klar, was das bedeutet? Du weißt selbst, dass es gefährlich ist.«
»Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass etwas schiefgeht: Wenn du in einer Stunde nichts von mir gehört hast, rufst du die Polizei.«
»Mir gefällt das nicht.«
»Dir bleibt nichts anderes übrig.« Sie gab ihr die Adresse durch. Sie war fast da.