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J ayden Kennedy schreckte in der Metro-North aus dem Halbschlaf hoch, als der Zug langsamer wurde. Seine Haltestelle näherte sich. Ein Blick aufs Handy sagte ihm, dass der Zug trotz des heftigen Regens, den der aufziehende Sturm mit sich brachte, es geschafft hatte, zwei Minuten früher anzukommen. Aber selbst bei einer kurzen Wartezeit im Freien wäre er bis auf die Knochen durchnässt. Als er sich am Ausgang hinter einem jungen, mit Einkaufstüten aus New York beladenen Paar in die Schlange stellte, spähte er zwischen ihnen hindurch und ließ den Blick über den kleinen Parkplatz hinter dem Bahnsteig schweifen.

Er entdeckte ihren Mini, der auf dem nächstgelegenen Platz am Straßenrand parkte. Hinter der Windschutzscheibe war schwach der Schimmer eines elektronischen Geräts auszumachen. Natürlich war Julie schon da. Solange er sie kannte, hatte sie ihn nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Und würde es auch nie tun, wie er vermutete. Sein Handy in der Innentasche summte – der Tasche im Jackett seines neuen Anzugs, den er heute Morgen tatsächlich noch gekauft und hatte umändern lassen. Es war Julie. Du bist da! Ich steh gleich drüben. Willkommen zu Hause! Da haben wir ja was zu feiern.

Das Feiern musste warten, bis er sich umgezogen hatte, nachdem seine Hosenbeine patschnass geworden waren. Er legte die Hose über den Duschvorhang in Julies Badezimmer. Auch wenn der Anzug völlig ruiniert sein sollte, hatte sich der Ausflug in die Stadt gelohnt. Der potenzielle neue Kunde hatte ihm an Ort und Stelle, noch bevor die Rechnung kam, einen Consultingvertrag angeboten. Dabei handelte es sich nicht, wie sonst immer, nur um eine einmalige Personalschulung, sondern um eine auf ein Jahr befristete Beratungstätigkeit über globale Strategien. Auftraggeber war ein mehrere Milliarden schwerer Fonds, der sich auf ethisch nachhaltige Geldanlagen konzentrierte. Das würde Jayden mehr einbringen, als er an der Wall Street je verdient hatte – und war den Preis eines neuen Anzugs allemal wert.

Er fand Julie in der Küche, die mehr eine Kitchenette war. Sie schüttete Eiswasser aus einem Martini-Glas, schenkte anschließend aus einem gefrosteten Shaker ein und gab eine der vorbereiteten Oliven dazu, in denen jeweils ein Zahnstocher steckte. Ein perfekter Gin Martini, der sich zu dem gesellte, den sie bereits für sich selbst gemixt hatte. Sie hob ihr Glas.

»Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie. »Du glaubst an deine Überzeugungen – und an dich. Und es zahlt sich aus. Herzlichen Glückwunsch.«

Er nahm einen Schluck, der sofort das klamme Gefühl vertrieb, das ihm noch in den Knochen steckte. »Es riecht hier so gut.«

»Coq au vin«, verkündete sie. »Mache ich normalerweise nur im Winter, aber der heutige Abend verlangt nach Seelenfutter. Es muss aber noch etwas vor sich hin köcheln.«

»Ich kann ewig warten – mit dir und dem Cocktail.«

Er war gerade dabei, ausführlich über das Treffen zu berichten, als sein Handy laut lospiepte. Er erkannte die Tonfolge als Alarm des Smart-Home-Systems seines Hauses. »Oh, das sieht nicht gut aus.«

»Was ist? Doch nicht dein neuer Kunde, oder?«

»Nein, vom Haus. Eine Warnung, dass im Keller zu viel Feuchtigkeit ist. Es muss irgendwo Wasser eindringen, das hat den Alarm ausgelöst. Und dieser Regen wird so schnell nicht nachlassen.«

Er zog sich die Schuhe an.

»Wo willst du hin?«, fragte Julie.

»Im Haus nachsehen.« Er wollte keine gravierenden Schäden am Haus riskieren, nur um den Vorschriften eines Start-ups für Ferienimmobilien nachzukommen. »Die Mieterin wird überhaupt nicht gestört werden. Ich kann über das Ausstiegsfenster in den Keller. Sie wird mich gar nicht hören. Aber ich schreib ihr trotzdem für alle Fälle über die Domiluxe-App, damit sie weiß, dass ich unterwegs bin.«

»Ich begleite dich«, sagte sie und schaltete den Herd ab.

»Aber damit ist das wunderbare Abendessen ruiniert.«

»Kein Problem, außerdem hast du doch gesagt, dass du ewig warten kannst. Wenn du zufällig deine Mieterin störst – und sie tatsächlich eine Frau ist, die ganz allein dort lebt –, dann ist es besser, wenn ich dabei bin.«

Die Mieterin hatte sich noch immer nicht auf seine Nachricht über die Domiluxe-App gemeldet, als sie am Haus eintrafen. Er hatte gehofft, das Haus verlassen vorzufinden, aber der weiße Wagen stand in der Einfahrt, und im Erdgeschoss brannte Licht. Als er im Wohnzimmerfenster die Silhouette einer sich bewegenden Gestalt erkannte, wusste er, dass sie zu Hause war.

»Wenigstens sind die Vorhänge vorn zu«, sagte Julie. »Wo ist dieses Ausstiegsfenster?«

»Hinten. Ich kann links herum gehen, solange sie im Wohnzimmer ist.« Er zog die Kapuze seiner Regenjacke hoch und schlüpfte hinaus in den strömenden Regen. Erst als er bereits am Fenster war und es aufschob, merkte er, dass Julie direkt hinter ihm stand. Wasser tropfte von ihr auf seine Schulter, während sie sich vorbeugte. Missbilligend schüttelte er den Kopf, bevor er in den Keller stieg und ihr Platz machte, damit sie nachfolgen konnte. Er hielt sein Handy hoch, um die Umgebung zu beleuchten.

»Was, wenn sie uns hört?«, fragte Julie.

»Der gesamte Keller ist aus Beton«, flüsterte er. »Und wir werden nicht lange brauchen.«

Im Handy-Lichtschein fand er schnell den Grund für das eingedrungene Wasser, ein kleines Kellerfenster, das der Wind aufgedrückt hatte. Er schloss das Fenster und wischte mit einem Mopp und Putzlappen, die er unterhalb der Kellertreppe verstaut hatte, den größten Teil des eingedrungenen Wassers auf. Das musste vorerst reichen.

Sie wollten schon wieder hinaus, als sie über sich Schritte hörten. Die Mieterin bewegte sich vom Wohnzimmer in die Küche. Auf die Schritte folgten Geräusche von fließendem Wasser und klirrendem Geschirr. Leise schlüpften sie durch das Fenster nach draußen, und er gab ihr wortlos zu verstehen, dass sie auf der anderen Seite um das Haus herumgehen würden.

Als sie an den Fenstern an der Rückseite des Hauses vorbeikamen, bemerkte er, dass die Vorhänge offen waren – und der Fernseher lief. Nie mehr werde ich mein Haus vermieten, dachte er, während er durch den Wolkenbruch rannte und sich nach trockener Kleidung und vielleicht einem weiteren Martini sehnte.

Auf dem Rückweg zu Julies Haus, in der Sicherheit des Mini, sagte er mit einem Lächeln: »Spionagemission erfolgreich durchgeführt.«

»Das war ein großer Spaß – ist es verrückt, wenn ich so was denke? Und ist dir aufgefallen, was im Fernsehen lief?«

»Nein. Ich wollte bloß weg.«

»Ein Zeichentrickfilm«, sagte sie immer noch ganz aufgeregt.

»Dann hat Helen vielleicht doch ihre Kinder mitgebracht.«

Sie riss die Augen auf. Die Antwort lag ihr bereits auf der Zunge. »Nur dass ›Helen‹ « – sie malte die Anführungszeichen in die Luft – »doch geschrieben hat, sie hätte zwei Teenager.«

Ja, das hatte sie. Es war ihm glatt entfallen. »Vielleicht sieht sie zur Entspannung gern Zeichentrickfilme«, schlug Jayden vor.

»Wer Ferienimmobilien mit Apps mietet, die nicht nachverfolgbar sind, und in Kryptowährung bezahlt, sieht sich doch keine Kinderserien an.« Es war ihr anzumerken, was in ihr vorging. »Ich wette, sie führt ein Doppelleben. Ich hab mal von einem Typen gehört, der nicht eine, nicht zwei, sondern drei Frauen hatte. Er war Pilot und hatte an drei verschiedenen Orten unterschiedliche Familien. Deine Mieterin ist bestimmt ein Mann mit mehreren Familien, und sein Kind hat sich vor dem Zubettgehen noch Peppa Wutz angesehen.«

»Peppa Wutz« , wiederholte er. Aus irgendeinem Grund klingelte es bei ihm, als er den Namen der Zeichentrickserie hörte, aber er kam nicht drauf. »Mir ist völlig schleierhaft, wie sich jemand ein Leben voller Lügen einrichten kann.« Ebenso schleierhaft war es ihm, wie man sein Leben mit mehr als einem Partner verbringen wollte. In dem kleinen Zeitfenster zwischen seinem Geschäftstreffen und dem Zug nach Hause hatte er noch bei Tiffany vorbeigeschaut und einen Verlobungsring ausgewählt.

Wenn diese grässliche Vermietungssache endlich ausgestanden war, würde er den perfekten Zeitpunkt finden, um sie zu fragen.

Sein Handy meldete das Eintreffen einer neuen Nachricht. Sie kam über die Domiluxe-App von Helen.

KOMMEN SIE AUF KEINEN FALL HIERHER !!!

»Ich hab’s dir doch gesagt, eine heimliche Familie.« In ihrem Blick lag ein wissendes Glitzern.

Gleich darauf folgte eine zweite Nachricht. Ich hab im Keller nachgesehen und keine undichte Stelle gefunden. Muss falscher Alarm gewesen sein. Bitte halten Sie sich an die Vereinbarungen des Mietvertrags.

Am Morgen wollte er seinen College-Freund, der Domiluxe gegründet hatte, davon überzeugen, dass sein Geschäftsmodell ziemlicher Mist war.