A uf dem Laptop-Bildschirm hielt der siebenjährige Ricky Kinney bei einem FaceTime-Anruf eine Kreuz-Zehn in die Kamera. »Onkel Neil, Tante Amanda, ist das die Karte, die ich euch vorher gezeigt habe?«, fragte er mit einem breiten Grinsen.
Neil und Amanda Kinney in ihrem New Yorker Wohnzimmer applaudierten begeistert und gaben sich beeindruckt. »Wie um alles in der Welt hast du das gemacht?«, fragte Amanda. Natürlich taten sie so, als hätten sie es nicht bemerkt, dass sich Rickys Hände kurz außerhalb des Blickfelds der Laptop-Kamera seiner Mutter zu schaffen gemacht hatten.
»Ein Zauberer verrät nie seine Geheimnisse«, erklärte Ricky stolz.
Von den vier Kinney-Geschwistern war nur Neils Schwester Kit in Hyannis Port geblieben, wo sie aufgewachsen waren. Dierdre war Professorin an der Brown University in Providence, und Jimmy – der mittlerweile James hieß – war nun Lehrer in Boston. Ricky war Dierdres Sohn. Sie war mit ihrer Familie übers Wochenende aufs Cape gekommen, damit Ricky seine Großeltern und Cousins und Cousinen besuchen konnte.
Ricky wollte gleich noch einen Zaubertrick vorführen, aber Neils Mutter bat ihn, ihn doch seinem Grandpa im Wohnzimmer zu zeigen, weil sie sich noch mit Onkel Neil und Tante Amanda unterhalten wolle. Er raste schon davon. Ricky, nach Neils Vater Patrick benannt, war absolut vernarrt in seinen Großvater und Namensvetter.
Obwohl Neils Mutter jetzt allein am Küchentisch saß, erhob sie die Stimme kaum mehr als zu einem Flüstern. »Ich habe gerade mit Nancy Eldredge telefoniert. Ist dir klar, was da unten los ist? Bis jetzt hatte ich ja keine Ahnung. Gestern waren wir noch zusammen mit deinen Schwestern und den Kindern in der Austernbar. Es ist mir schleierhaft, wie Nancy das alles durchsteht. Manchmal denke ich mir, auf der armen Frau lastet ein Fluch.«
Amanda sah zu Neil, der antwortete. »Melissa hat uns gleich angerufen, nachdem es passiert ist. Die Polizei war sofort vor Ort. Auf Long Island sind umfangreiche Suchmaßnahmen eingeleitet worden.«
»Im Fernsehen heißt es immer, bei Ermittlungen sind die ersten achtundvierzig Stunden die entscheidenden«, sagte sie ängstlich. »Stimmt das, Amanda?«
»Das trifft nicht immer zu, aber ja, Zeit spielt eine wesentliche Rolle.«
»Und Riley ist doch gerade erst drei geworden. Sie kann doch nicht die ganze Zeit allein sein. Nancy hat mir erzählt, dass Charlie Missy im Stich gelassen hat und ihr nicht erzählt, was die Polizei vorhat. Kannst du nicht irgendwas tun, um ihr zu helfen?« Selbst auf dem Laptop-Bildschirm war klar zu sehen, dass sie es hier mit ihrer Schwiegertochter, der Polizistin, zu tun hatte.
Das Unbehagen, das sich den ganzen Tag über zwischen ihm und Amanda aufgebaut hatte, war buchstäblich mit Händen zu greifen. Aus Respekt vor den Wünschen seiner Frau hatte er davon abgesehen, sich allzu sehr in die Ereignisse in Southampton einbeziehen zu lassen. Wenn die Polizei glaubte, er und seine Frau von der New Yorker Polizei würden sich in ihre Ermittlungen einmischen, würde er Amanda nur in eine unangenehme Situation bringen. Das hatte er sich eingeredet, denn schließlich konnten sie ja nicht viel tun, um zu helfen – außerdem war Melissas Familie vor Ort, deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützten.
»Was meinst du damit, Charlie hätte sie im Stich gelassen?«, fragte er.
»Ich denke mir, Missy hat einen ihrer tollen Anwaltskollegen engagiert, der jetzt aber nur Charlie vertritt, und Charlie hat den Anwalt zu Nancy geschickt, damit er dort dessen Sachen abholt. Nancy macht sich große Sorgen um Missys psychische Verfassung. Und das Ganze, vermute ich, weckt einige sehr schwerwiegende Erinnerungen bei Nancy. Wie sagt man dazu heutzutage – triggern? Nancys alte Traumata werden getriggert. Und vielleicht auch die von Missy. Was für eine arme Familie.«
»Das von Charlie wusste ich nicht. Ich werde Melissa anrufen, mal sehen, was wir für sie tun können«, sagte Neil.
»Und ich gehe in die Kirche.« Neils Mutter besuchte täglich die Kirche St. Francis Xavier, die nur eine Straße weiter vom Haus der Familie entfernt lag. Als Gläubige war sie fest davon überzeugt, dass Missys und Mikes Rettung vierzig Jahre zuvor nur durch ihre Gebete möglich gemacht wurde. Sie sagte ihnen noch, wie sehr sie sie beide liebe, dann beendete sie das Gespräch.
Er wollte schon Melissas Nummer aufrufen, als ihr Name auf dem Display aufblinkte. Vielleicht hatte der Glaube seiner Mutter ja bereits etwas bewirkt.
»Melissa, ich wollte dich gerade anrufen.« Amanda neben ihm nickte zustimmend. Von ihrer Zurückhaltung war nichts mehr zu spüren. Er tippte aufs Display und stellte auf Lautsprecher.
»Ihr müsst mir einen Gefallen tun«, sagte Melissa. »Könntet ihr zu meiner Wohnung fahren?«