M elissas Bruder lief mit geballten Fäusten hinter dem Wohnzimmersofa auf und ab. »Mir war immer klar, ich hätte mehr tun sollen, um dich zur Vernunft zu bringen«, sagte er. »Aber ich wusste, du würdest mir nicht zuhören und wegen der Hochzeit nur noch bockiger werden. Wenn ich ihn in die Finger bekomme, werde ich ein paar Antworten aus ihm herauskitzeln, egal wie.«
Mike hatte schon immer ein hitziges Temperament, das sich nur schwer zügeln ließ. Allerdings hatte sie ihn nicht mehr so wütend erlebt, seitdem sie ihm von ihrem Homecoming-Date in der zehnten Klasse erzählt hatte, bei dem der Typ auf dem Nachhauseweg so getan hatte, als hätte der Motor seines Wagens den Geist aufgegeben. Als sie am folgenden Morgen ihrem Date begegnete, hatte der ein Veilchen und entschuldigte sich bei ihr überschwänglich.
»Ziehen wir keine voreiligen Schlüsse«, sagte ihre Mutter. »Ein leerer Schreibtisch kurz nach dem Einzug ist noch keine Sünde. Du hast gesagt, Charlie arbeitet hauptsächlich von seinem Büro aus, und die meisten seiner persönlichen Sachen sind noch eingelagert.«
»Aber er hat ganz offensichtlich die Tatsache verschwiegen, dass seine Schwester so viel Zeit in der Wohnung verbringt – Melissas Wohnung«, sagte Mike. »Was hat der Typ noch zu verbergen?«
»Rachel hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihr alles zu schnell ging. Die Frau war ja noch nicht mal auf der Hochzeit. Aber sie ist immer noch Charlies Schwester. Man wendet der Familie nicht den Rücken zu, nur weil man in manchen Dingen anderer Meinung ist.« Damit spielte ihre Mutter nicht nur auf Charlie und seine Schwester an, sondern auch auf Mike und Melissa. »Rachel war die Einzige, die Charlie geholfen hat, nachdem Riley ihre Mutter verlor – bis Melissa aufgetaucht ist. Damit will ich ihn keineswegs verteidigen. Nachdem ich mich in euren Vater verliebt habe, hatte ich nie ein Geheimnis vor ihm. Aber vielleicht hat er versucht, Rachel zu einem festen Bestandteil in Rileys Leben zu machen, ohne es zur Konfrontation zwischen seiner Frau und seiner Schwester kommen zu lassen. Natürlich hätte er dir das sagen sollen, aber ehrlich, ich verstehe nicht, warum ihr euch so aufregt, nur weil seine einzige andere Familienangehörige in die Wohnung kommt, wenn sie ihm nur mit ihrer Nichte helfen will.«
Während ihre Mutter und ihr Bruder weiter über die Schwere von Charlies Verrat diskutierten, ging Melissa in Gedanken alles durch, was sie über ihren Mann wusste. Die Distanz, die er zwischen ihnen geschaffen hatte. Sein eisiger Ton bei ihrem letzten Gespräch am Telefon. Das erste Mal, als er ihr die Hand auf den Rücken gelegt hatte, während er sie nach der Therapiestunde zu ihrem Wagen begleitete. Wie er sich zu ihr gebeugt und ihr zugeflüstert hatte »du siehst fantastisch aus«, bevor sie bei der Trauung ihre Gelübde sprachen.
Verzweifelt versuchte sie eine rationale Erklärung für alles zu finden, was sie über ihn wusste – jeden Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten –, aber sie kam immer wieder zu der einen grundlegenden, schrecklichen Frage zurück: Wenn er sie liebte, wie um alles in der Welt konnte er sie dann mit ihrem Kummer und ihrer Verwirrung alleinlassen? Sie spürte regelrecht, wie ihr Verstand einander entgegenstehende Informationen zu verbinden suchte, aber irgendetwas blockierte sie mental.
Beim Klingeln an der Tür zuckte sie zusammen. Vielleicht war es Charlie, der nach Hause kam und ihr alle Antworten geben würde, die er ihr schuldete.
Kurz stockte ihr der Atem, als sie das Gesicht vor der Tür erkannte. Selbst durch den kleinen Türspion traf sein Blick aus haselnussbraunen Augen den ihren. Sein Gesicht war schmaler und sonnengebräunter, als sie es in Erinnerung hatte – damals, als er ihre Verlobung aufgelöst hatte –, aber er war es, eindeutig.
Sie öffnete die Tür einen schmalen Spalt breit. »Du kannst dich hier nicht blicken lassen, Patrick. Bitte, ich hab dir geschrieben, keinen Kontakt. Erst lässt du mich fallen, und jetzt, wenn ein Kind vermisst wird, tauchst du einfach so wieder auf?«
Ein weißer Tesla stand in der Einfahrt. Er hatte davon geträumt, sich einen anzuschaffen, bevor er ihre Beziehung beendet hatte. Vielleicht hatte der Wagen ihn glücklicher gemacht, als sie es jemals vermocht hätte. »Woher weißt du eigentlich, wo ich zu finden bin?«
Kurz warf er einen Blick ins Haus, bevor er einen Arm an die Tür lehnte. Ein Blick zu ihrer Mutter bestätigte Melissas Vermutungen.
»Ich werde nicht gehen«, sagte er. »Ich bin absolut überzeugt davon, dass das wichtig ist.«
»Das? Das hier hat nichts mit dir zu tun.«
»Ich muss mit dir über deinen Mann reden.«