W ie oft hatte sie sich vorgestellt, was sie ihm sagen würde, wenn sie sich zufällig auf einer Party oder in einem ihrer Lieblingsrestaurants begegnen sollten? In letzter Zeit mal wieder ein Herz gebrochen? Vielleicht würde sie ihn auch fragen, mit wie vielen Frauen er sich in letzter Zeit verlobt hatte. Oder, am besten, sie würde sich in seiner Gegenwart liebenswürdig und glücklich geben, damit er erkennen würde, welchen Fehler er begangen hatte, als er das Leben, das er mit ihr hätte haben können, kurzerhand drangegeben hatte.
Aber jetzt war Patrick hier, im Wohnzimmer ihrer Mutter, und das alles zählte nicht mehr. Er saß im Sessel neben ihrer Mutter und hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
»Okay, das alles ist mir ziemlich peinlich, es klingt auch ziemlich schrecklich, aber ich will nicht lange drum herumreden. Ich konnte dich nach unserer Trennung nicht loslassen. Bei jedem Aufwachen hab ich mich gefragt, wo du gerade bist und was du machst und ob es dir gutgeht.«
Mike, dessen höhnisches Auflachen sehr gut ihre eigenen Gefühle zum Ausdruck brachte, war kurz davor, vom Sofa aufzuspringen.
»Warte«, sagte Patrick. »Ich verspreche, ich bin nicht wegen irgendeiner großartigen Versöhnung hier. Ich will nur klarstellen, dass ich versucht habe, dich nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn wir nicht mehr zusammen waren. Ich habe jede Folge deines Justice Club gehört und, naja, täglich deine sozialen Medien gecheckt.«
»Stalker«, murmelte Mike vor sich hin.
»Genau.« Patrick zuckte nur mit den Schultern. »Gut, mir ist dein Posting mit den Lockenwicklern in den Haaren untergekommen. Du hast übrigens fantastisch ausgesehen. Glücklich. Und in der Bildunterschrift stand was von den Sprung wagen . Da dachte ich mir, wenn es darum ging, was ich mir zusammenreimte, dann würde bestimmt auch Katie mit dabei sein, und dann sah ich, dass sie ein Foto von einer Hochzeitstorte gepostet hat, in einem Weingut an der Straße zu eurem Haus auf dem Cape. Ich zählte also zwei und zwei zusammen, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Also rief ich bei der Stadtverwaltung an, wo man mir alles bestätigte. Und dann wurde ich neugierig auf deinen Mann, nur stellte sich heraus, dass es im Internet eine ganze Menge Charles Millers gibt. Oje, ist mir das peinlich. Letztlich hab ich nämlich im Weingut angerufen, wo du geheiratet hast, und ich hab die Hochzeitsplanerin dazu überredet, mit den Informationen auf der Visitenkarte herauszurücken, die Charlie ihr gegeben hatte.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Sie war fassungslos.
»Wie gesagt, es ist mir furchtbar peinlich, da siehst du, wie wichtig es mir ist, dass du alles erfährst.«
»Und, was hast du herausgefunden?«, fragte Mike.
»Dass es nichts herauszufinden gibt«, antwortete Patrick. »Die Website für sein Unternehmen? Die Domain wurde erst ein Jahr zuvor gekauft, sein Online-Geschäftsprofil behauptet aber, dass es die Firma schon seit sechs Jahren gibt. Und der Mietvertrag für sein Büro wurde eine Woche später unterzeichnet.«
Patrick war ein erfahrener Programmierer, der vor allem für Privatunternehmen Web-Applikationen erstellte. Es überraschte Melissa nicht, dass er die Entstehung von Charlies Website nachverfolgen konnte. »Du hast den Mietvertrag für sein Büro eingesehen?«
»Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich hab mal was für die entsprechende Immobilienverwaltung gemacht. Ich hab nur nachgefragt, weil die Infos der Website nicht zusammenpassten. Sein Büro ist ein winziges Loch in einem heruntergekommenen Gebäude ohne Fahrstuhl in Hell’s Kitchen. Warst du jemals dort, Melissa?«
Das einzige Mal, als sie in der Gegend war und ihn zum Mittagessen im Chez Napoléon abholen wollte, hatte er bereits an der Straßenecke auf sie gewartet, obwohl sie sich eigentlich sein Büro hatte ansehen wollen. Er hatte erklärt, er sei am Verhungern und brauche unbedingt sofort was zu essen. Und danach bestand er darauf, allein ins Büro zurückzukehren, weil unmittelbar danach eine Konferenzschaltung anstand und er sich über dem flambierten Crêpe, das sie sich zum Dessert geteilt hatten, sowieso schon verspätet habe.
Da sie die Blicke ihrer Familie auf sich spürte, bat sie darum, mit Patrick allein zu reden. Sie gingen ins Esszimmer, wo sie sich noch nicht einmal die Mühe machte, sich zu setzen.
»Du hattest kein Recht, so in meinem Leben herumzuschnüffeln, schon gar nicht, nachdem du alles kaputtgemacht hast. Wolltest du, dass ich für immer allein bleibe und dir hinterhertrauere? Ich war am Boden zerstört, Patrick. Völlig am Ende. Und als mein Vater gestorben ist, ist dir nicht mehr eingefallen, als mir Blumen zu schicken. Du konntest noch nicht mal anrufen. Ich war völlig fix und fertig. Dann hab ich Charlie kennengelernt. Und ich habe mich fürs Glück entschieden.«
»Deshalb habe ich meine Befürchtungen auch für mich behalten. Wie oft hab ich zum Telefon gegriffen, um dich anzurufen, nur um es mir in letzter Sekunde anders zu überlegen. Ich habe mir eingeredet, dass es eine Erklärung geben muss und ich nur einen Vorwand suche, um mich wieder in dein Leben einzumischen.«
»Bei allen Schnüffeleien hattest du doch überhaupt keine Ahnung, worum es geht. Charlie ist verwitwet. Er musste nach dem Tod seiner Frau von der Westküste nach New York umziehen und sich noch dazu um ein kleines Kind kümmern. Er hat in dieser Phase den Großteil seiner Arbeit auf Eis gelegt. Dass der Mietvertrag zu diesem Zeitpunkt unterschrieben wurde und er mit bescheidenen Räumlichkeiten anfängt, überrascht daher überhaupt nicht.«
»Okay, aber du musst mir vertrauen, Melissa. Den Domain-Namen hätte er unter keinen Umständen aufgegeben. Das Unternehmen, das er angeblich betreibt? Ich verwette meinen rechten Arm darauf, dass es das Geschäft vor dem letzten Jahr nicht gegeben hat – wenn es denn überhaupt jemals existiert hat.«
Sie fragte, wann die Website online gestellt worden war. Das geschah zwei Wochen, bevor sie Charlie in der Therapiegruppe kennengelernt hatte.
»Und jetzt wird dieses Kind vermisst«, sagte Patrick. »Deine Mutter wollte mir nicht alles erzählen, aber es klingt nicht so, als würde sich dieser Charlie angemessen verhalten.«
Melissa rieb sich die Augen. Sie war fest entschlossen, in seiner Gegenwart nicht in Tränen auszubrechen. »Du hast mir jetzt deine Erkenntnisse mitgeteilt«, sagte sie kühl. »Hast du sonst noch was herausgefunden?«
»Nein, aber ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Was sollen wir damit machen?«
»Es gibt kein wir, Patrick. Du wolltest nicht mehr der Mensch sein, an den ich mich mit wichtigen Dingen wenden würde.« Sie sah den Schmerz in seinem Blick und milderte ihren Ton. »Ich weiß es zu schätzen, dass du hierhergekommen bist, um mir das alles zu sagen, aber du musst jetzt gehen.«
»Missy …«
Sie schüttelte den Kopf. Er konnte sie so nicht mehr nennen. »Ich meine es ernst. Du musst gehen.« Sie wollte ihn schon zur Tür begleiten, aber er weigerte sich. »Du kannst wirklich nicht mehr bleiben. Es geht ja nicht nur um die vermisste Riley. Die Polizei geht offensichtlich davon aus, dass sie tot ist. Und ich soll sie ermordet haben.«
In seiner Miene spiegelte sich Verwirrung. »Lass mich dir helfen. Bitte.« Er wollte ihre Hand fassen, aber sie wich einen Schritt zurück.
»Patrick«, sagte sie scharf, »hast du irgendeine Vorstellung, wie es aussieht, falls die Polizei herausfindet, dass mein Ex-Verlobter hier ist? Du hast mir gesagt, ich soll dir zuhören, als es um die Website ging. Jetzt musst du mir zuhören. Du musst gehen. Sofort. «
Er sah ihr in die Augen, nickte und murmelte noch eine Entschuldigung, als er ging.
Melissas Mutter kam aus dem anderen Zimmer herein. »Oh, Melissa, es tut mir so leid. Es war meine Schuld, ich hab ihm gesagt, er soll kommen. Ich wollte doch bloß helfen.«
»Mom, schon gut.«
»Aber du hast recht, wenn du ihn wegschickst«, sagte ihre Mutter. »Was, wenn die Polizei das Haus observiert und seinen Besuch gegen dich verwendet?«
»Dann werde ich mich darum kümmern, wenn es so weit ist.«
»Können wir uns wieder mit dem beschäftigen, was jetzt am wichtigsten ist?«, fragte Mike, der ebenfalls ins Esszimmer gekommen war. »Es ist nicht schön, dass Patrick dich mehr oder minder gestalkt hat, aber das, was er über die Website und den Mietvertrag herausgefunden hat, ist seltsam. Meiner Meinung nach geht es hier nicht mit rechten Dingen zu.«
»Ich weiß«, sagte sie, während sie versuchte, sich endlich auf die Wahrheit einzulassen. Es war durchaus möglich, dass Charlie ihr von Anfang an nichts als Lügen erzählt hatte. Sie musste alles infrage stellen. Was wusste sie wirklich, und was hatte sie nur glauben wollen?
Riley. Beim Gedanken an sie wurde ihr schwer ums Herz. Riley gab es wirklich. Das zumindest war klar.
Linda. Als sie nach Beweisen gesucht hatte, dass Linda tatsächlich tot war, hatte sie nichts gefunden – nichts über eine Amerikanerin, die in Norwegen an einem Wasserfall in den Tod gestürzt war. Sie hatte noch nicht einmal ein Foto von Charlies erster Frau gesehen. Immer hatte er sie vertröstet, dass er erst seine eingelagerten Sachen durchgehen müsse. Aber würde nicht ein Vater wenigstens ein Bild von der Mutter seiner Tochter bei sich haben, damit Riley sie in Erinnerung behielt?
»Vielleicht kannst du versuchen, seine Schwester zu erreichen«, sagte ihre Mutter. »Als du Rachel das letzte Mal angerufen hast, ist sie doch drangegangen.«
Der Vorschlag ihrer Mutter – genau zu diesem Zeitpunkt – ließ sie mit einem Mal erkennen, was sie bislang so hartnäckig ausgeblendet hatte. Sie hatte Louie wieder im Ohr, als er sagte, Rachel halte sich ständig in ihrer Wohnung auf – der Portier hatte dabei geklungen, als hätte er Mitleid mit ihr.
Sie hörte Rileys süße Kleinkinderstimme am Morgen ihrer Hochzeit, als sie fragte, ob sie zu ihrem Daddy raus dürfe, und sich wünschte, ihre Mommy wäre hier. Und die vielen Male, als Neil ihr versicherte, es sei völlig normal, dass Riley die ganze Zeit mit ihrer Mommy rede.
Jetzt war alles so klar. »Was, wenn Rachel gar nicht seine Schwester ist?«