D ie Polizeidienststelle in Southampton war in einem gedrungenen Flachbau untergebracht, der hinter einer dichten, sich an der Straße entlangziehenden Hecke stand. Als Melissa auf den Parkplatz einbog, rechnete sie damit, Übertragungswagen und Journalisten vorzufinden, die auf die Pressekonferenz zu Rileys Verschwinden warteten. Stattdessen sah sie eine einzelne Frau mit einem Presseausweis um den Hals, die zu ihrem Wagen ging.
Melissa durchwühlte ihre Handtasche nach ihrem eigenen Presseausweis, den sie von der Mediengesellschaft erhalten hatte, die ihren Podcast sponserte. Mit dem Daumen auf ihrem Namen hielt sie ihn der Fremden hin. »Bin gerade angekommen. Was ist denn nun mit der Pressekonferenz?«
»Abgesagt«, antwortete die Frau. »Laut Polizeichef gibt es nichts zu berichten, was nicht sowieso bereits bekannt gegeben wurde. Alle haben zusammengepackt, ich bin bloß noch hier, weil ich herausfinden wollte, was wirklich vor sich geht.«
»Und?«, fragte Melissa.
»Das würde ich, ehrlich gesagt, bestimmt keiner Reporterin erzählen, aber nein, es gibt nichts. Außer mein Bauchgefühl – das sagt mir, die abgeblasene Pressekonferenz könnte bedeuten, dass der Fall eine Wendung zum Schlechteren genommen hat. Ich habe zu Hause selbst eine Tochter, die nicht viel älter ist als die kleine Riley. Ich habe auf gute Neuigkeiten gehofft, bevor ich mich auf den Heimweg mache. Solche Geschichten gehen ja nicht spurlos an einem vorüber.«
Melissa unterdrückte ein Schluchzen. »Entschuldigen Sie. Ja, geht mir genauso.«
In der Dienststelle herrschte eine Betriebsamkeit, die eher an ein Großstadtrevier denken ließ, aber nicht an die Polizei in einer kleinen Küstengemeinde. Sie entdeckte Rileys Gesicht auf einem Flyer-Stapel, den ein uniformierter Polizist einem anderen in die Hand drückte. Schließlich hielt sie einen Mann mit Sportjackett und Krawatte auf, der sich an ihr vorbeischieben wollte. »Entschuldigen Sie, sind Sie Detective hier?«
»Ja, was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche die Detectives Hall und Marino. Es geht um Riley Miller.«
»Dafür haben wir eine Hotline eingerichtet, Sie können sich aber auch an den diensthabenden Sergeant wenden«, sagte er und deutete zum Empfang.
»Aber Hall und Marino leiten die Ermittlungen zu diesem Fall«, sagte sie. »Sie haben bereits mehrmals mit mir gesprochen. Ich gehöre zu den Letzten, die Riley vor ihrem Verschwinden gesehen haben.«
»Ah, verstehe. Soweit ich weiß, hat sich Hall vom Dienst abgemeldet, und Marino ist unterwegs nach Shelter Island. Ich muss selbst los, mal sehen, wen ich für Sie finden kann …«
»Ich muss so schnell wie möglich mit Hall oder Marino sprechen. Ich bin Rileys Stiefmutter.«
Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit, er versteifte sich sichtlich. Scheinbar hatte es sich in der Dienststelle bereits herumgesprochen, dass sie als die Täterin galt. »Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Mal sehen, wen ich für Sie auftreiben kann. Kann ich Sie so lange im Wartezimmer Platz nehmen lassen?«
Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass sich das »Wartezimmer« als eine Haftzelle herausstellte. »Nein, ich warte lieber in meinem Wagen. Ich werde versuchen, Sie anzurufen. Aber, bitte, Sie müssen einen Blick auf das Vorleben meines Mannes werfen. Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein.« Sie zog die Blätter aus ihrer Handtasche, die sie zu Hause noch ausgedruckt hatte – das Jahrbuch-Foto des achtzehnjährigen Charlie Miller und den Artikel in der College-Zeitung über dessen Fahrradunfall. »Das ist der Mann, von dem ich dachte, ich hätte ihn geheiratet. Es stellte sich heraus, dass er seit über zehn Jahren an der Westküste im Wachkoma liegt. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: Wenn Sie sich den Führerschein meines Mannes ansehen, werden Sie feststellen, dass er die Identität dieses Mannes gestohlen hat. Ein gegenwärtiges Foto von ihm stimmt natürlich nicht exakt mit dem hier überein, aber zwischen den beiden besteht eine genügend große Ähnlichkeit, damit man den Führerschein mit einem neueren Bild verlängern und sich dann, nach dem Umzug nach New York, einen neuen ausstellen lassen kann.«
Widerstrebend nahm der Detective die Blätter entgegen, während sein Blick vom Ausgang, zu dem er unterwegs gewesen war, zu einer Tür wanderte, hinter der vermutlich die Abteilung der Detectives lag. »Okay, ich suche Ihnen dann mal jemanden. Wollen Sie nicht doch im Wartezimmer Platz nehmen? Sie können jederzeit gehen, falls Sie sich Sorgen machen.«
»Ich warte lieber draußen«, sagte sie entschieden. »Ich bin leicht zu finden. Ich sitze in einem U-Haul-Wagen.«
Als sie wieder im Umzugswagen saß, nahm sie sich Detective Halls Visitenkarte und rief die auf die Rückseite gekritzelte Handynummer an. Es schaltete sich nur die Mailbox ein. Bis sie alles erklärt hatte, was sie über Charlies Lügen und die Identität des wahren Charlie Miller erfahren hatte, verkündete das Gerät, dass das Ende der Sprechzeit erreicht sei. Sie verschickte die Nachricht und war gerade dabei, Detective Marinos Nummer zu wählen, als ihr Handy einen neuen Anruf anzeigte.
Es war Charlie. Sie meldete sich sofort.
»Endlich«, sagte sie und zwang sich, erleichtert und dankbar zu klingen, so, als würde sie ihn noch lieben, wie sie es getan hatte, als er an diesem Morgen das Cottage verlassen hatte.
»Ich hab deine Nachrichten bekommen«, sagte er. »Alle. Und endlich Zeit gefunden, sie mir anzuhören.«
»Dann hast du mich also gar nicht geblockt?«, fragte sie. Sie klang zutiefst bekümmert, genau so, wie sie sich wahrscheinlich seiner Ansicht nach fühlen sollte.
»Natürlich nicht. Das würde ich doch nie tun. Ich habe mich nur an Macs Rat gehalten, aber es erscheint mir nicht richtig, dich so auszuschließen«, sagte er. »Du musst dich völlig verlassen gefühlt haben, aber, ehrlich, ohne dich stehe ich das alles nicht durch. Du bist immer noch meine Frau.«
War sie das? Auf ihrer Heiratsurkunde war ein Charlie Miller eingetragen, aber er war nicht Charlie. Mit wem war sie wirklich verheiratet?
»Ich weiß, dass du mich angelogen hast«, sagte sie. Stille legte sich zwischen sie.
Sie erwartete, dass er sie erneut belog – und erneut mit den immer gleichen verworrenen Geschichten aufwartete. Als er endlich das Wort ergriff, klang er allerdings nur maßlos erschöpft. »Ich verspreche dir, es gibt eine Erklärung.«
»Wirst du mir wenigstens deinen wahren Namen sagen? Ich weiß, dass du nicht Charlie Miller bist.«
»Ich habe versucht, dich zu schützen.«
Sie war entsetzt, wie mühelos er eingestehen konnte, in einer so gravierenden Sache gelogen zu haben. »Dann gibst du also zu, gelogen zu haben.«
»Bei manchen Dingen, ja. Nicht bei allen. Es geht um Lindas Eltern.«
»Hör auf. Es gibt keine Linda. Charlie Miller liegt irgendwo seit Jahren in einem Krankenhaus im Wachkoma und war nie verheiratet.«
»Nein, war er nicht, aber ich war es. Und dann ist meine Frau gestorben, und ich musste mit einem neuen Namen ganz von vorn anfangen. Bitte, ich kann alles erklären. Ich schwöre es. Gib mir eine Chance. Ich flehe dich an. Ich liebe dich. Und ich habe höllische Angst um meine Tochter und weiß nicht, wie ich ohne dich weiterleben soll.«
Man kann sich fürs Glück entscheiden. Es wäre so einfach, nachzugeben und ihm zu glauben. Aber sie tat es nicht. Es gab kein Glück ohne die Wahrheit. »Ich will nicht denken müssen, dass unsere gesamte Beziehung eine einzige Lüge war.«
»Das ist sie nicht. Bitte, lass uns miteinander reden, unter vier Augen, okay? Ich verspreche dir, es wird sich alles fügen. Zum Teufel, ich übertrage dir sogar die Rechte an meiner Geschichte, dann kannst du sie für deinen nächsten Podcast verwenden, wenn alles vorbei ist.«
Fast sah sie sein Lächeln vor sich, das ebenfalls nur Teil seines betrügerischen Spiels war. »Wo wollen wir uns treffen?«
Sie konnte ebenfalls lügen.