M elissa hielt sich das Handy vom Ohr weg, als Katie plötzlich lauter wurde. »Erst Jennifer, jetzt Charlie? Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme? Vielleicht können wir uns eine Grabstelle teilen, du legst es ja geradezu drauf an zu sterben.«
»Ich muss es tun«, sagte Melissa. »Ich hab schon dran gedacht, die Polizei zu informieren und ihr die Adresse zu geben, aber Charlie hat bereits einen Anwalt – dank meiner Fürsorge –, und Mac wird ihn sicherlich zum Schweigen verdonnern.« Jedes Mal, wenn sie seinen Namen aussprach, versetzte es ihr einen Stich. »Die Polizei könnte ihn wegen seiner falschen Identität anklagen, nur beantwortet das nicht, wer er wirklich ist oder warum er und Rachel es auf mich abgesehen haben. Außerdem geht es immer noch darum, Riley zu finden.«
Immerhin gab es die vage Hoffnung, dass Riley gar nicht entführt worden war. Gleichgültig, welches Spiel Charlie und Rachel mit ihr trieben, Riley sollte in Sicherheit sein – das glaubte Melissa mittlerweile.
»Hast du Mike und deiner Mom davon erzählt, wo du hinwillst?«, fragte Katie. »Vermutlich nicht, sonst hätten sie dich an einen Stuhl gebunden, damit du nicht wegkannst.«
»Nein, sie hätten es nie erlaubt. Aber sie vergessen immer, dass ich bei der Staatsanwaltschaft die Polizei bei Einsätzen begleitet habe. Ich habe einen Plan. Er glaubt, wir würden uns im Motel treffen, aber ich werde auf keinen Fall allein zu ihm ins Zimmer gehen. Ich habe die Adresse nachgeschlagen. Hier am Ort ist alles ausgebucht, daher übernachtet er eine gute halbe Stunde entfernt in der Nähe von Riverhead. Im Riverhead Sunshine Motel. Auf der anderen Straßenseite gibt es ein Diner. Von dort werde ich ihn anrufen, wir treffen uns also an einem öffentlichen Ort. Und dort werde ich alles mit meinem Handy aufzeichnen und so tun, als würde ich ihm jedes Wort glauben, damit gehe ich dann zur Polizei. Er wird mir nicht die ganze Wahrheit erzählen, aber so kann ich zumindest beweisen, dass er lügt. Und hoffentlich erhalten wir von ihm einen Hinweis darauf, wo Riley ist.«
»Besteht irgendwie die Chance, dich davon abzubringen?«
»Nein. Ich werde mir das Handy unter dem Tisch auf den Schoß legen. In etwa einer Viertelstunde sollte ich da sein, ich schick dir dann eine Nachricht. Solltest du danach irgendeine komische Meldung bekommen, rufst du die Polizei und sagst, dass ich im Golden Spoon Diner in Riverhead bin. Und du rufst sie ebenfalls an, wenn du nach zwanzig Minuten nichts von mir gehört hast. Ich werde mit dir meinen Standort teilen, so kannst du mich übers Handy finden, für alle Fälle.«
»Jetzt jagst du mir richtig Angst ein«, entgegnete Katie.
»Vertrau mir. Ich werde ihm weismachen, dass ich auf seiner Seite stehe und er sich noch etwas Zeit erkaufen kann. Schließlich bin ich doch die, die sich fürs Glück entschieden hat, schon vergessen? Das werde ich zu meinem Vorteil nutzen.«
Während sie auf der Flanders Road, der zweispurigen Landstraße, die den Montauk Highway mit dem Long Island Expressway verband, nach Norden fuhr, stellte sie sich eine alternative Realität vor – eine Realität, in der sie die idyllische Landschaft genießen konnte, die immer noch relativ unberührt war, trotz der Veränderungen, die die Hamptons in den letzten Jahren durchlaufen hatten. Dann aber nutzte sie die Zeit, um noch einmal Schritt für Schritt ihren Plan durchzugehen. Als sie auf den Parkplatz des Golden Spoon Diner einbog, fühlte sie sich auf ihre Rolle vorbereitet. Sie würde sich vertrauensselig geben. Loyal. Als könnte sie es kaum erwarten, eine Geschichte zu hören, die ihr erlaubte, weiterhin glücklich und verliebt zu sein. Sie würde sich als die Frau ausgeben, die sie nur wenige Stunden zuvor noch gewesen war.
Direkt vor dem Diner waren noch einige Parkplätze frei, allerdings waren sie alle zu schmal für den Umzugswagen. Seitlich allerdings gab es im hinteren Bereich noch mehr als genug freie Plätze. Sie wählte einen direkt unter einem Lichtmast. Sollte sie nach dem Treffen mit Charlie zu nervös sein, konnte sie einen der Diner-Angestellten bitten, sie als Vorsichtsmaßnahme zum Wagen zu begleiten.
Sie stellte den Motor aus, zog das Handy aus der Getränkeablage und schrieb eine Textnachricht an Katie.
Bin gerade …
Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Sie konnte gerade noch auf Senden drücken, als er auch schon in der Fahrerkabine war.
»Warum fährst du einen U-Haul?« Es war der Mann, den sie als Charlie Miller kannte. Er hatte eine Waffe in der Hand.