M ike sah die Sorge im Blick seiner Mutter, als er den Anruf beendete. »Sie geht nicht ran«, sagte er.
»Es ist fast zwei Stunden her, dass sie zur Polizei aufgebrochen ist. Wir hätten mitfahren sollen, ich hab es gewusst.«
Melissa war überzeugt gewesen, dass die Polizei die von ihr über Charlie zusammengetragenen Indizien ernster nehmen würde, wenn sie sie persönlich vorbrachte. »Sie ist Anwältin, Mom. Und eine gute noch dazu. Sie erscheint glaubwürdiger, wenn sie nicht ihre Mom und ihren Bruder im Schlepp hat.«
»Nur dass sie jetzt verschwunden ist, ohne uns irgendwas mitzuteilen. Könnte doch sein, dass sie verhaftet wurde.« Hektisch wischte sie über ihr Handy. »Wir müssen zur Polizei und nachfragen, was los ist. Ich finde es nach wie vor ungeheuerlich, dass sie ihren Wagen mitgenommen haben.«
»Mom, was hast du mit deinem Handy vor?«
»Einen dieser Uber-Wagen bestellen. Oder ein richtiges Taxi rufen. Die muss es hier doch auch noch geben, oder? Nicht jedes Problem lässt sich mit einem iPhone lösen.«
An jedem anderen Tag hätte er seine Mutter deswegen aufgezogen, und sie wäre darauf eingegangen, hätte sich empört gegeben und dennoch über seine Witzeleien geschmunzelt. Aber was sie über das Handy sagte, erinnerte ihn an sein Gespräch mit Melissa, vor ihrem Aufbruch auf dem Cape.
Er tippte auf das Display seines Handys.
»Rufst du einen Wagen?«, fragte seine Mutter.
»Ich sehe was anderes nach. Auf der Herfahrt hat Melissa ihren Standort mit mir geteilt, es könnte aber sein, dass sie das mittlerweile geändert hat.« Ein Kreis mit dem Foto seiner Schwester ploppte auf der Karte auf. »Nein, es funktioniert. Ich kann sie sehen, genau hier. Sie befindet sich zwischen uns und der Polizeidienststelle. Sie muss auf dem Heimweg sein.«
»Oh, was für eine Erleichterung. Allein der Gedanke, sie wäre verhaftet worden – das würde ich nicht ertragen. Kannst du mir zeigen, wie so was funktioniert? Ich will selbst sehen, wo sie ist.«
Er erklärte ihr, dass Melissa darauf bestanden hatte, ihren Standort zu teilen, für den Fall, dass sie während der Fahrt zum Cottage getrennt würden. »Und nach allem, was seitdem geschehen ist, haben wir beide nicht daran gedacht, es wieder auszuschalten.«
»Gott sei Dank«, sagte sie und blinzelte aufs Display. »Gut, ich sehe sie. Und wo sind wir?«
Er vergrößerte die Karte, damit der Standort des Cottage ins Blickfeld kam. »Ah, ja, sie ist ziemlich nah, oder?«
Zusammen sahen sie aufs Display und verfolgten gebannt den kleinen Kreis mit Melissas Foto, der sich in Echtzeit bewegte. Mit ihrer Ruhe und Gelassenheit war es allerdings vorbei, als der Punkt nicht wie erwartet zum Cottage abbog, sondern sich weiter in Richtung Süden bewegte.
»Funktioniert das wirklich?«, fragte seine Mutter. »Sie fährt doch viel zu weit. Wo will sie denn hin?«
Er nahm den Blick von der Karte und rief Melissa an. Sie ging nicht dran. Als er erneut die Karte aufrief, war Melissa bereits unten an der Küste und hatte den Weg nach Westen eingeschlagen. Laut Karte folgte sie der einsamen Straße auf dem schmalen Landstreifen zwischen den Stränden im Süden und der Shinnecock Bay im Norden. Die Straße endete an einem Park am Eingang zur Bucht. Es war ihm schleierhaft, was seine Schwester dort wollte.
»Ich muss zu ihr«, sagte er. Sie war viel zu weit entfernt, um sie zu Fuß zu erreichen. Seine Mutter telefonierte. »Aber mit dem Taxi braucht man im Sommer eine Ewigkeit, um dorthin zu kommen.«
Seine Mutter hielt abwartend den Finger hoch. »Patrick, hier ist Nancy Eldredge. Wo bist du?«