E ineinhalb Stunden später saß Melissa zusammen mit den Detectives Hall und Marino in einem zivilen Kastenwagen der Polizei. Sie standen gegenüber dem Riverhead Sunshine Motel. Melissa hatte die Polizisten schließlich davon überzeugt, dass sie am Tatort möglicherweise gebraucht werden könnte. Immerhin hatte sie das alles mittels Textnachrichten, die über Brian Blooms Handy verschickt worden waren, in die Wege geleitet. Lief alles nach Plan, würden sämtliche Erwachsene in Rileys Leben – mit Ausnahme von ihr, Melissa – die Nacht in einer Gefängniszelle verbringen.
Sie war über die nassen Felsen am Strand geklettert, hatte sich Blooms Waffe geschnappt und sie – wie sie es vor Jahren bei einer Kurzausbildung auf einem Schießstand des NYPD gelernt hatte – aus sicherer Entfernung auf Charlie gerichtet. Mike hatte unterdessen die Polizei verständigt. Die Detectives Hall und Marino trafen nur wenige Minuten nach dem Streifenwagen ein. Die beiden waren mittlerweile auch im Besitz der Informationen über Charlie Miller, die Melissa auf der Polizeidienststelle hinterlassen hatte. Außerdem hatte sich die Frau im Park bei ihnen gemeldet und ihnen alles gebeichtet, nachdem sie Riley in den Fernsehnachrichten erkannt hatte. Und die Connecticut State Police meldete, dass Riley vermutlich in einem gemieteten Haus in West Cornwall festgehalten worden war, es aber so aussah, als hätte die vermeintliche Mieterin mit ihr das Anwesen verlassen. Nach Auskunft des Hausbesitzers könnte die Mieterin einen kleinen weißen PKW fahren.
War das Verlassen des Hauses von vornherein geplant gewesen, fragte sich Melissa, oder war es eine Art Panikreaktion auf die wachsenden Zweifel, die sie an ihrem Ehemann hatte? Jedenfalls erfüllte es sie mit Genugtuung, wenn sie sich vorstellte, wie alle drei versuchten, ihre Haut zu retten, während sie ihnen Schritt für Schritt auf die Schliche kam.
Sie hatte Zimmer 106 im Blick, nur hin und wieder sah sie zur Hauptstraße und hielt nach Autos Ausschau, die den Motel-Parkplatz ansteuerten. Die Polizei hatte sich bereits von der Rezeption bestätigen lassen, dass ein Charlie Miller mithilfe seines Führerscheins und seiner Kreditkarte zwei Zimmer für die Nacht gebucht hatte. Der andere Name auf der Buchung lautete Rachel Miller, für die sich der Motel-Angestellte allerdings keine Ausweispapiere hatte vorlegen lassen.
Auf Blooms Handy hatte sie dessen Nachrichten-Thread weitergeführt. Als seine Schwester nachfragte, ob alles vorbei sei, hatte sie zurückgeschrieben: Ja, alles erledigt. Sie hatte beiden Komplizinnen weisgemacht, dass eine Gruppe Highschool-Kids am Strand aufgetaucht war, weshalb ein Gespräch am Handy zu riskant gewesen wäre. Er würde dann am Ufer zu Fuß zur Stadt zurückkehren. Zwischenzeitlich hatte jene Frau geschrieben, die sich vor Melissas geplanter Ermordung bei Bloom gemeldet hatte, und mitgeteilt, dass sie gleich am Motel sei und dort Riley abliefern wolle, bevor sie sich mit ihm am verabredeten Ort treffen würde. Die Nachricht endete mit einem Ich liebe dich und einem Herzchen-Emoji.
»Aufgepasst«, sagte Detective Hall, als ein Scheinwerferpaar von der Straße auf den Parkplatz bog. Es war ein unscheinbarer weißer PKW , wie Melissa erkannte, als er an ihrem Kastenwagen vorbeifuhr. Und als sie auf dem Rücksitz eine kleine Gestalt ausmachen konnte, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Das musste Riley sein. Sie waren hier. Ihre Hoffnung stieg, als der Wagen einen der Parkplätze vor den Motelzimmern ansteuerte.
Es war so weit. Sie sah zu den Detectives. Beide nickten.
Sie tippte auf ihr Handy und startete einen Anruf. Das Gerät war auf Lautsprecher gestellt. Im Mietwagen glaubte sie etwas schwach aufleuchten zu sehen, bevor sich jemand meldete. »Oh, Gott sei Dank, Melissa, endlich rufst du an. Wo bist du? Ist alles okay?«
»Hast du meine Textnachricht erhalten?«, fragte Melissa hektisch. »Hast du die Polizei gerufen?«
Es folgte eine lange Pause, dann die schwache Erklärung, dass der Empfang sehr schlecht sei und sie Melissa kaum verstehen könne. Melissa schloss die Augen. Insgeheim hatte sie bislang gehofft, dass es eine andere Erklärung gäbe, jetzt aber hatte sie keine Zweifel mehr.
»Ich habe dich gefragt, ob du die Polizei verständigt hast, wie wir es besprochen hatten.«
»Ich hab sofort bei der Polizei angerufen, als ich deine komische Nachricht bekommen habe. Aber als sie beim Diner eintrafen, waren weder du noch Charlie zu finden.«
»Charlie ist mit einer Waffe zu mir in den Wagen gestiegen und hat mich gezwungen, zum Strand zu fahren. Er hat mich am felsigen Abschnitt, ganz am Ende, in die Brandung geworfen. Offensichtlich sollte ich dort sterben, aber ich hab mich an einem Stück Treibholz festgehalten und es wieder an den Strand geschafft.«
»Melissa, bist du noch da? Ich verstehe dich nicht mehr.« Die Detectives Hall und Marino sahen sich an und rollten mit den Augen. Die Lügen kamen ihr so leicht über die Lippen. »Ich leg jetzt auf und versuch dich gleich wieder zu erreichen. Bleib, wo du bist, rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme und hole dich.«
Sofort, nachdem sie aufgelegt hatte, klingelte Brian Blooms Handy. Schweigend warteten sie. Das Klingeln hörte auf und begann von Neuem. Dann ein dritter Anrufversuch.
»Das war’s dann«, flüsterte Melissa und wünschte sich, ihre Freundin könnte sie hören. »Ihr Plan ist gescheitert, was?«
Auf Blooms Handy erschien eine neue Nachricht. Ruf mich zurück. ASAP . Nichts ist erledigt.
Sie tippte als Antwort drei Fragezeichen in Brian Blooms Handy und drückte auf Senden .
Die nächste Nachricht lautete: Sie hat mich eben angerufen. Sie ist noch am Leben. Melissa hielt den Detectives das Handy hin. »Reicht das?«
Hall reckte den Daumen hoch, Marino gab bereits über Funk Befehle. »So lange warten, bis sie aus dem Wagen ist«, befahl er. »Und nicht vergessen, auf dem Rücksitz befindet sich ein Kleinkind. Vorsichtig vorgehen!«
Melissa fühlte sich abgrundtief verraten, als die Fahrertür des weißen PKW aufging und Katie ausstieg.
Dann ging alles ganz schnell. Hall und Marino sprangen aus der Hecktür des Kastenwagens, gleichzeitig bogen zwei Streifenwagen um die Ecken des Gebäudes und umstellten Katie, die um ihren Wagen herum zur Beifahrerseite wollte. Sie hob sofort beide Hände. Melissa hörte nicht, was die Polizisten riefen, sie sah nur, wie Katie auf die Knie ging und sich mit den Händen auf dem Rücken flach auf den Betonboden legte. Als die Handschellen zuschnappten, musste sie schlucken.
Die Tür zu Zimmer 106 ging auf und schloss sich sofort wieder. Hall kam dort gerade noch rechtzeitig an, um sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen und zu verhindern, dass sie ganz zufiel. Kurz darauf zerrte sie die Mieterin des Zimmers nach draußen.
Die Detectives hatten einige Mühe, der sich sträubenden Rebecca Bloom Handschellen anzulegen. Selbst aus der Ferne war ihr Schmerz zu erkennen, als sie sich Richtung Parkplatz drehte. »Riley!« Sie rief nach ihrer Tochter.
Melissa fasste zum Türgriff. Der Polizist vorn befahl ihr, an Ort und Stelle zu bleiben, aber sie sprang aus dem Wagen und rannte über die Straße in Richtung Motel. Sie erreichte den weißen Mietwagen, bevor einer der Polizisten ihr in den Weg trat. Über seine Schulter hinweg sah sie Katie, die ihr einen hasserfüllten Blick zuwarf.
»Wie konntest du das nur tun?«, rief Melissa ihr zu.
Obwohl ein Polizist auf ihr kniete, schaffte Katie es, das Gesicht abzuwenden.
Rebecca Bloom vor dem Eingang zum Motelzimmer setzte sich nun nicht mehr gegen Hall und Marino zur Wehr. Sie sagte etwas zu den Detectives, worauf diese mit ihr ins Zimmer 106 gingen und die Tür hinter sich schlossen. Das an der Schulter angebrachte Funkgerät des Polizisten neben ihr piepte, dann hörte sie Detective Marinos Stimme. »Die Mutter will nicht, dass ihre Tochter sie in Handschellen sieht. Das am Wagen dort ist die Stiefmutter des Kindes. Lassen Sie sie das Kind zu unserem Kastenwagen bringen.«
Mit zitternden Händen griff Melissa zur hinteren Beifahrertür. Riley sah mit schläfrigem Blick zu ihr auf. »Missa! Wo ist Katie?«
Wahrscheinlich hatte sie noch mitbekommen, wie Katie die Hände erhoben hatte, sicherlich aber hatte sie sie nicht mehr auf dem Boden liegen sehen.
»Sie hilft den Polizisten bei einer ganz wichtigen Sache, mein Liebes.« Sie löste Riley aus dem Sitz, atmete tief durch, als das kleine Mädchen ihr die Arme um den Hals schlang und sich von ihr hochheben ließ. Ihre Haare waren warm und feucht von der Wärme im Wagen und rochen nach Babyshampoo. Mit einer Hand schirmte sie Rileys Augen ab, während sie sie von dem Tumult um sie herum wegtrug. »Willst du mal einen Geheimwagen der Polizei sehen? Von außen sieht er ganz normal aus, aber innen sind ganz tolle Sachen.«
Rileys Blick erhellte sich, ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie war ein von Natur aus neugieriges Kind.
»Und rate mal, wen wir danach besuchen werden? Grand-Nan!«
»In ihrem neuen Haus?«, fragte Riley.
»Genau. Aber ich hab dich zwei Tage lang nicht gesehen. Wo hast du denn gesteckt?«
»Ich war bei Mommy. Wir sind mit dem Auto auf ein Schiff gefahren, und ich hab Schildkröte gespielt. Und es gibt ein Haus ganz tief im Wald. Und dann ist Katie zum Babysitten gekommen.«
»An die kannst du dich erinnern, ja?«, fragte Melissa. »Meine Freundin Katie? Du hast sie ein paarmal gesehen, und sie war auch auf der Hochzeit.«
Kurz sah Riley verwirrt drein. »Ja. Sie hat mir einen besonderen Cupcake gemacht. Ich hab nicht gewusst, dass Katie Mommy kennt. Ich hab gedacht, Katie ist deine Freundin.«
Melissa biss sich auf die Lippen. »Das habe ich auch gedacht. So, bist du bereit für das Geheimauto?«
»Du hast mir gefehlt, Missa.« Riley legte ihre pummelige Hand an den Mund und blies ihr einen Kuss zu.
»Du hast mir auch gefehlt, Riley.«