D ie Flammen züngelten an den dicken Scheiten. Der Geruch des warmen Kamins zog durch Melissas Wohnung und mischte sich mit dem Duft des heißen Apfelweins. Was sie als ein schlichtes Heiligabendessen angekündigt hatte, bestehend aus Weihnachtsschinken, warmen Hefebrötchen und grünem Salat, war durch die zusätzlichen Speisen, die ihre Mutter aufgetischt hatte, zu einem wahren Festmahl geworden.
Nach Melissas Zählung machte sich Riley zum sechsten Mal an der Schale mit dem köstlichen Krabben-Dip zu schaffen. Melissas Mutter meinte nur, das Kind werde noch ein echtes Cape-Cod-Mädchen.
Sie sah, wie Mac die Teetasse ihrer Mutter nachfüllte. Unmittelbar nach den Verhaftungen hatte er sein Mandat für Brian Bloom niedergelegt, mit der Begründung, dass sein Mandant sich ihm unter einer falschen Identität vorgestellt hatte. Er war mittlerweile regelmäßig Co-Moderator des Justice Club, der seine Zuhörerzahl seit dem Sommer vervierfacht hatte. Melissa war überzeugt, dass alle in der Familie Eldredge ihm längst verziehen hatten, aber sie konnte gut verstehen, wie sehr es ihn mitgenommen hatte, das zu tun, was ein Anwalt für seinen Mandanten nun mal zu tun hatte.
Als Mac ihren Blick auffing, winkte er sie zu sich in eine ruhige Ecke des Wohnzimmers. »Hast du letzte Woche von der Bezirksstaatsanwaltschaft gehört?«
»Man hofft, mit Rebecca eine Absprache vereinbaren zu können.«
Bislang war Rebecca Bloom die Einzige der drei, die zu einer offiziellen Aussage bereit war. Melissa dachte an sie nicht mehr als die Geschwister Charlie und Rachel Miller. Die beiden hatte es nie gegeben. Schwerer fiel ihr allerdings, die Wahrheit über Katie zu akzeptieren.
Laut Rebecca hatte ihr Bruder Katie während Jennifer Duncans Mordprozess kennengelernt, als sie zu ihrer Kontaktperson zur Bezirksstaatsanwaltschaft ernannt wurde. Da die Anklage die Geschwister nicht als Zeugen vorlud, hatte Melissa die beiden nie kennengelernt. Katie andererseits hatte sich, so Rebecca, »augenblicklich zu ihrem Bruder hingezogen« gefühlt. Selbst als sich ihre Beziehung intensivierte, hielten sie sie wegen Katies beruflicher Stellung geheim.
Nachdem Katie ihre Arbeit als Anwältin aufgegeben hatte, hatten die beiden einen anderen Grund, über ihre Beziehung Stillschweigen zu wahren: die Auseinandersetzung um Doug Hanovers Nachlass. Laut Rebecca waren sowohl ihr Bruder als auch Katie zunehmend besessen davon, umso mehr, als Jennifer Duncan nicht nur die Revision des ursprünglichen Urteils erreicht hatte, sondern die Geschichte auch publizistisch ausschlachtete und durch sie bekannt und reich wurde. Brians Hass galt dabei, Rebecca zufolge, in erster Linie Jennifer, während Katie ihre Missgunst und Wut auf die Anwältin an Jennifers Seite richtete.
»Sollte Rebecca gegen Brian und Katie aussagen«, erwiderte Mac, »wird sie dann auch zugeben, dass sie von Anfang an in den Plan eingeweiht war?«
Bei ihrer ersten Aussage gegenüber der Polizei hatte Rebecca behauptet, ihr sei erst bewusst geworden, dass ihr Bruder und Katie Melissa umbringen wollten, als Brian – nur einige Stunden vor ihrer Verhaftung – mit einer Waffe das Motelzimmer verlassen hatte. Sie war davon ausgegangen, sie wollten ihr bloß die Entführung anhängen und sie zu dem Geständnis zwingen, dass Jennifer Duncan ihren Ehemann vorsätzlich ermordet hatte.
»Die Anklage hofft es jedenfalls«, antwortete Melissa. »In gewisser Weise spielt es aber keine Rolle. Die von ihnen verwendeten Handys beweisen, dass sie alle beim Verfassen meines angeblichen Abschiedsbriefs beteiligt waren, und das allein reicht aus, um sie der Komplizenschaft zu einem versuchten Mord anzuklagen. Angeblich habe sie befürchtet, dass Katie und ihr Bruder sie als Nächstes aus dem Weg räumen würden.«
»Pech für sie, dass das kaum als Argument für die Verteidigung reicht«, sagte Mac.
Sie spürte eine Hand auf der Schulter und drehte sich um. Ihr Bruder stand hinter ihr. »Ich höre, ihr unterhaltet euch über Berufliches«, sagte er. »Es klingt vielleicht sarkastisch, wenn ich dir das sage, aber ich denke, jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, sich fürs Glücklichsein zu entscheiden. Denk nicht mehr an diese Leute und genieße das Weihnachtsfest. Ich werde gleich mal einen Wein aufmachen.«
»Das sind alles ganz ausgezeichnete Ideen«, antwortete sie.
Es klopfte an der Wohnungstür, gleich darauf erschien Amanda Keeney mit triefend nassen Haaren. »Fröhliche nasse Weihnachten! Tut mir leid wegen der Verspätung. Ich hoffe, Neil hat schon alles erklärt. Das NYPD schließt nun mal auch an Weihnachten nicht – oder wenn es in Strömen regnet.«
Riley wischte sich die mit dem Dip verschmierten Finger an einer Nikolausserviette sauber und lief zu Amanda, um sich umarmen zu lassen. Sie wuchs so schnell, dass sie Amanda bereits bis zur Hüfte reichte. Neil Keeney begrüßte seine Frau mit einem Kuss und einem Becher Apfelwein.
Melissas Bruder ging in die Küche und öffnete eine Flasche Rotwein. Sie war froh, dass Mike nicht mehr erst um Erlaubnis fragte, wenn er sich in der Küche zu schaffen machte. Er war fast jeden Monat zu Besuch in die Stadt gekommen. Auf ihren Vorschlag hin hatte er ein paar seiner Sachen im Gästezimmer verstaut, damit er zu Kurzbesuchen vorbeikommen konnte, ohne groß eine Tasche packen zu müssen, daneben hatte er eine vorläufige Vereinbarung ausgehandelt, im Sommer in den Hamptons als Skipper zu arbeiten.
Nachdem die Flasche offen war und auf dem Esstisch stand, hielt Patrick ihr ein leeres Weinglas hin. Sie nickte. Sacht strich er ihr mit dem Daumen über das Handgelenk, als sie das Glas von ihm entgegennahm. Es freute sie, dass sie sich wieder regelmäßig trafen, nachdem sie begriffen hatte, warum er ihre Verlobung gelöst hatte. Katie hatte Patrick hinter ihrem Rücken erzählt, Melissa habe ihr gestanden, dass sie keine Kinder haben wolle, obwohl sie beide bereits von einer Familie gesprochen hatten. Katie behauptete, Melissa habe sich nur einverstanden erklärt, damit Patrick bekam, was er wollte. Ihre genauen Worte waren: »Melissa meint, sie kann sich fürs Glück entscheiden, selbst wenn sie sich zu allem erst zwingen muss. Aber sie wird damit nicht glücklich werden, und das ist dann deine Schuld. Wenn du sie also wirklich liebst, dann lässt du sie jetzt gehen.« Und Patrick liebte sie wirklich – so sehr, dass er den entsetzlichen Fehler begangen hatte, ihre Beziehung zu beenden.
Gut möglich, dass Katie nur eine alleinstehende, todunglückliche Melissa brauchte, damit sie für Brian Blooms Aufmerksamkeit empfänglich wurde. Melissa vermutete aber, dass noch andere, persönlichere Motive dahinterstanden. Manche der bösartigen Kommentare von TruthTeller waren zwar von den Blooms gepostet worden, der allergrößte Teil aber konnte von der Polizei auf Katies Laptop sichergestellt werden. Sie hatte es genossen, Melissa leiden zu sehen. Obwohl Melissa als Anwältin wusste, dass sie nicht mit Katie reden sollte, hatte sie sie sogar im Gefängnis besuchen wollen. Denn sie wollte verstehen, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, von ihr so sehr gehasst zu werden. Wenig überraschend hatte Katie sich geweigert, sie zu sehen. Wenn sie sich das nächste Mal mit ihrer ehemaligen besten Freundin in einem Raum aufhielt, dann, um gegen sie auszusagen.
Neil Keeney hatte sich erhoben, um einen Toast auszusprechen. »Danken möchte ich meinen alten Freunden Melissa und Mike …«
»Vorsicht, Neil«, rief Mike, der gerade aus der Küche kam. »Du bist älter als wir beide.«
»Meinen lieben Freunden Melissa und Mike und natürlich deren Mutter Nancy für diese Einladung.« Neil hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil er Katie geholfen hatte, Melissa zu der Gruppentherapie zu lotsen, in der sich unter dem Namen Charlie Miller bereits Brian Bloom angemeldet hatte. Wie sie ihm schon mehrmals versichert hatte, wusste sie sehr wohl, dass er ihr nur hatte helfen wollen. »Ich weiß noch, wie dankbar meine Eltern für die herzliche Aufnahme im Haus der Eldredges gewesen waren, nachdem deine Familie eine schwere Zeit durchgemacht hatte. Deshalb bedeutet es Amanda und mir sehr viel, dass wir heute bei euch sein können, um mit euch das erste Weihnachten mit Riley zu feiern.«
Riley schmetterte mit allen anderen ein fröhliches »Cheers!«. Mit einem Schmunzeln sah Melissa, wie Patrick ihr half, mit ihrem Saftbecher mit den Gläsern der Erwachsenen anzustoßen. Dann stellte sie ihren Becher ab und ergriff das Plüsch-Rentier, das Patrick ihr geschenkt hatte. Die Zeit würde es zeigen, aber Melissa glaubte, dass in seinem Herzen noch genügend Platz für sie beide war.
Riley hielt immer noch ihr neues Stofftier im Arm, als sie auf Melissas Schoß kletterte. Zu Melissas Überraschung und Freude hatte sich Rebecca tatsächlich einverstanden erklärt, für die Dauer ihrer Haftstrafe Melissa als gesetzlichen Vormund für das Kind zu akzeptieren. Rebecca, so Melissas Vermutung, glaubte wahrscheinlich, die Einwilligung würde sich positiv auf ihre Verteidigung auswirken, die Bezirksstaatsanwaltschaft allerdings war überzeugt, dass Rebecca – selbst wenn sie sich zu einer umfänglichen Aussage gegen ihren Bruder und Katie bereit erklärte – erst wieder aus dem Gefängnis kommen würde, wenn Riley schon volljährig war.
Melissa schloss Riley in die Arme, als diese sich schläfrig gegen sie sinken ließ. Das Kind war nicht ihre Tochter, noch nicht einmal ihre Stieftochter. Untereinander waren sie nur Riley und Missa. Alles andere würde sich irgendwann fügen. Sie hatte keine Ahnung, ob Riley in den kommenden Jahren noch Kontakt zu ihrer Mutter, welche Erinnerungen sie an Rebecca oder ihren Onkel Brian haben oder welche Fragen sie stellen würde, wenn sie älter wurde. Vielleicht würde sie wie Mike den Mut aufbringen, sich der ungeschönten Wahrheit zu stellen. Oder vielleicht würde sie wie Melissa glauben, dass die Traumata der Vergangenheit keinen bestimmenden Einfluss auf einen selbst haben mussten. Melissa war sich nur einer Sache absolut sicher: Sie würde es Riley ermöglichen, ihr wahres Glück zu finden. Denn wahres Glück hatte das kleine Mädchen Melissa geschenkt.
Melissa bemerkte, dass der Schneeregen nicht mehr gegen die Fensterscheiben schlug, das Ächzen des Windes hatte nachgelassen. Riley rührte sich auf ihrem Schoß, und bevor sie wieder in ihr leises, gleichmäßiges Atmen fiel, murmelte sie ein einziges Wort: »Mama.«