Kapitel 2
I
ch wünschte, ich könnte das auch, wenn die Krankenschwester mich mit der Nadel stechen will.«
Kristen Hall lächelte den achtjährigen Patienten im Krankenhaus an und ließ ihre Haut wieder von Stahl zu normal werden. Der kleine Junge keuchte vor Ehrfurcht. Er hatte offensichtlich von Detroits berühmtem Stahldrachen gehört, aber Hören war nicht ganz dasselbe wie Sehen. »Aber dann bekommst du deine Medizin nicht mehr.«
»Meine Medizin lässt mir die Haare ausfallen. Ich hasse sie.«
Sie nickte und wusste leider nicht, was sie ihm darauf antworten sollte, da noch nie ein Familienmitglied von ihr an Krebs erkrankt war. Ihre Großeltern waren an Herzkrankheiten gestorben, also war Krebs eine Krankheit, mit der sie nicht vertraut war. Außerdem war es besonders grausam, wenn sogar Kinder davon betroffen waren.
Selbst der Aufenthalt in einem Krankenhausflügel war für Kristen relativ neu. Sie war früher einmal dort gewesen, als sich ihr Bruder den Arm gebrochen hatte. Ihre Großeltern waren gestorben, als sie noch klein war und ihre Eltern waren noch kerngesund – obwohl ihr Vater bald dort landen würde, wenn er seine Ernährung nicht umstellen und anfangen würde zu trainieren.
Dieses Zimmer war eigenartig. Die Betten standen an den Seiten und auf der Bettwäsche waren niedliche, gedruckte Motive von Tieren, Prinzessinnen oder Raumschiffen. Neben jedem Bett stand eine Art Überwachungsgerät. Die meisten waren abgeschaltet. Viele Kinder im Zimmer brauchten sie während ihres Aufenthaltes dort nicht, aber die Botschaft war klar: ›Der Tod ist nah, Kinder. Vergesst das nie.‹
In der Mitte des Raumes lag ein großer bunter Teppich, auf dem das Alphabet aufgedruckt war. Die meisten Kinder saßen darauf und wahrten den Anschein von Normalität, obwohl sie im Krankenhaus bleiben mussten. Der kleine Junge vor ihr schaute hoch und kratzte sich am Kopf. Vor ihren Augen fiel ihm ein weiteres Büschel Haare aus.
Kristen war schockiert. Es war schwer zu verstehen, dass solches Leid noch immer auf der Welt existierte. Während sie ihre Zeit damit verbrachte, Menschen zu helfen, nahmen Dinge wie Leukämie immer noch Leben. Sie fragte sich, ob die Magier, die von den Drachen kontrolliert wurden, ihre Magie nutzen könnten, um die Blutkrankheit dieses kleinen Jungen zu heilen. Sie wusste es nicht, noch weniger wusste sie, was sie sagen sollte.
Er berührte ihr schönes rotes Haar und lächelte wehmütig, als er das tat.
Das brachte sie auf eine Idee. »Manchmal wünsche ich mir, meine Haare würden ausfallen.«
»Oh nein«, sagte der Junge, aber er lächelte.
»Nein, wirklich, das tue ich. Das letzte Mal, als ich gegen einen Drachen gekämpft habe, hat er mich an den Haaren gezogen. Wäre mein Kopf schön glatt gewesen wie deiner, hätte ich den Kampf vielleicht gewonnen.«
»Kannst du dich nicht einfach in einen Drachen verwandeln?«, fragte der Junge neugierig. Trotz seiner Unschuld schmerzten diese Worte noch immer.
Diese Frage ging ihr unter die Haut, denn sie hatte noch nicht gelernt, sich in einen Drachen zu verwandeln. Andererseits wollte ein Teil von ihr das auch nicht.
»Ich bin gerne in einem menschlichen Körper. Er erinnert mich daran, dass ich mit coolen Leuten wie dir verwandt bin.«
Der Kleine machte ein ernstes Gesicht. »Ich bin nicht cool. Ich bin krank.«
Kristen nickte. Sie wusste wieder nicht, was sie erwidern sollte, nur dass sie vermutlich zu weit gegangen war. Wie immer, hatte sie das Gefühl. Zum Glück kam ein anderes Kind zu ihr, bevor sie sich rechtfertigen musste.
»Einen Kampf verlieren geht gar nicht«, sagte ein Mädchen mit zwei gebrochenen Beinen. Sie hatte von ihrem Rollstuhl aus zugesehen und sich langsam vorwärts bewegt, weil sie glaubte, der in einem menschlichen Körper gefangene Drache würde es nicht bemerken. Kristens Drachensinne hatten jedoch jede Annäherung wahrgenommen.
»Oh doch, das tut sie ganz sicher. Sie mag der verlorene Drache sein, aber sie ist immer noch zu langsam für den Aufenthaltsraum.« Butters lächelte. Er hatte es einem Dreijährigen erlaubt, über seinen massiven Bauch zu klettern. Von allen SWAT-Mitgliedern war der große Südstaatler der Einzige, der sich mit Kindern wohl fühlte.
Der Rest des Teams stand unbeholfen im Besucherbereich des Kinderkrankenhauses. Kristen hielt es für ein kleines Wunder, dass Lyn Hernandez noch kein Kind angemault hatte. Der Zeitpunkt würde kommen, dessen war sie sich sicher.
Momentan stand Hernandez schweigend mit finsterem Gesichtsausdruck in einer Ecke, ein langärmeliges Hemd verbarg ihre Tätowierungen. Das würde nicht mehr lange so bleiben. Ein kleiner Junge hatte sich getraut und die Papierverpackung eines Strohhalmes nach ihr geworfen, als sie nicht hingesehen hatte. Die beiden führten jetzt einen heimlichen Wurfkampf. Der Junge saß mit dem Rücken zu ihr ein paar Meter entfernt, aber sobald sie einen zusammengeknüllten Post-it-Zettel hochhob, drehte er sich um und kicherte. Sie schaute ihn missmutig an, er lachte nur noch mehr und warf ein weiteres Strohhalmpapier nach ihr. Kristen war beeindruckt. Sie hatte bereits hartgesottene Kriminelle unter diesem Blick einknicken sehen.
»Was ist der Aufenthaltsraum?«, fragte das Mädchen mit den gebrochenen Beinen bei Butters nach. »Ist das wie das Gerede über den Knast oder so? Ist das wie… wie wenn man Verbrecher stellt und alle sagen: ›Geh in den Aufenthaltsraum, du Stück Scheiße!‹« Der Scharfschütze lachte und Kristen schloss sich ihm an. Die Mama hatte ihre Tochter wohl viel zu viele Polizeiserien sehen lassen.
»Der Aufenthaltsraum ist der Ort, wo Butters seine Donuts bekommt. Denkt daran, Kinder, passt auf, was ihr esst«, erklärte Keith und nickte, als ob er auf einer öffentlichen Veranstaltung in den 1950er-Jahren wäre. Er sah aus wie ein typischer Bulle – raspelkurze Haare, starker Kiefer, leicht zusammengekniffene, blaue Augen und vor der Brust verschränkte Arme. Praktisch alles, was er gesagt hatte, klang nach einem schlechten Superhelden. Doch trotz seiner steifen Haltung und seines gestellten Lächelns lachten die Kinder bei der Erwähnung von Donuts.
Kristen lächelte und stand auf. Butters und Keith konnten das wirklich besser als sie. Aber sie waren nicht der Verlorene Drache oder der Stahldrache, also interessierte es die Zeitungen sehr wenig, wenn die beiden ohne Kristen zu Wohltätigkeitsveranstaltungen gehen würden.
Selbst auf die Station für sehr kranke Kinder in einem Krankenhaus war ihr dieser Ruf vorausgeeilt. Die meisten der Kinder wussten aus den Nachrichten, wer sie war, sogar diejenigen, die sie scheinbar gerade nicht erkannten. Nicht, dass sie es ihnen verübeln würde. Ein Fotograf knipste Kristen, wie sie unbeholfen lächelte, anstatt des kleinen Kindes, das über Butters kletterte oder der beiden Kinder, die an Drews Bizeps hingen.
Der Teamleiter war nicht viel besser im Gespräch mit den Kindern als sie, aber er hatte wenigstens einen Plan. Er ließ die Kinder Gewichte sein. Er hatte bereits einen elfjährigen Jungen beim Bankdrücken hochgehoben, der für sein Alter viel zu schwer war und machte derzeit Bizeps-Curls mit den beiden kichernden Kindern. Sie schienen ihn nicht als Menschen zu sehen, sondern eher als bewegliches Spielgerät. Das leuchtete ihr ein. Der Mann war massiv.
Er war weit über einen Meter achtzig groß, hatte breite Schultern und einen Körperbau, der auf eine beträchtliche Verweildauer im Fitness-Studio hinwies. Kristen hoffte, sie würde ihn von dem Kind im Rollstuhl fernhalten können. Sie wäre nicht überrascht, wenn er versuchen würde, mit ihr Kniebeugen zu machen.
»Kann ich ein Autogramm haben?«, fragte ein kleines Mädchen Kristen.
»Sicher, natürlich.« Sie unterschrieb auf dem Gips am Arm des Kindes. Die Patientin begutachtete die Unterschrift und nickte schließlich. Sie schien sicher gehen zu wollen, dass Kristen ihre eigene Handschrift nicht fälschen würde.
»Aus Stahl zu sein bedeutet, dass deine Knochen nicht brechen können, oder? Ich bin so neidisch.«
»Das solltest du wirklich nicht sein«, sagte Jim Washington, Spitzname Wonderkid.
»Du solltest nicht ›sollte‹ zu den Leuten sagen«, meinte das Mädchen sachlich. »Meine Mutter sagt das.«
»Nein, das sollte man wirklich nicht«, antwortete Jim ohne Ironie in der Stimme, obwohl sie das verbotene Wort benutzt hatte. Kristen musste zugeben, dass das Wonderkid gut mit Kindern umgehen konnte, aber das war nicht überraschend. Er konnte alles gut, was mit Polizeiarbeit zusammenhing, sogar Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb nannten sie ihn schließlich das Wonderkid. Ihr neuester Teamkollege wäre richtig anstrengend, wenn er seinen Job nicht so verdammt gut machen würde.
Er war die dunkelhäutige Version von Keiths weißem Polizistenaussehen. Aber während Keith irgendwie witzig aussah bei dem Versuch, gleichzeitig zu lächeln und streng zu bleiben, sah Washington entspannt aus. Die perfekte Balance von freundlicher Professionalität – wie der große Bruder, der dir sagt, du sollst deine Hausaufgaben alleine machen, aber dir in der Sekunde hilft, in der du ihn darum bittest.
Hätte er nicht ständig zu den Fenstern und der Tür geschaut, wäre er vielleicht als freundlich durchgegangen. Aber die Kinder hatten seine Paranoia bemerkt und mieden ihn deshalb meistens.
»Warum sollte ich nicht neidisch sein?«, wollte das kleine Mädchen wissen.
»Na, wenn der Stahldrache an einem Magneten vorbeigeht, bleibt sie an ihm kleben«, erläuterte Jim.
Das Mädchen nickte und dachte darüber nach. Schließlich sah sie Kristen mit Mitleid in ihren Augen an. »Magnete sind cool, Miss. Es tut mir leid, dass du nicht mit ihnen spielen kannst.«
»Eigentlich, solange ich …« Kristen wurde unterbrochen, als Wonderkid sie unsanft in die Rippen boxte.
»Es ist wirklich schade, nicht wahr, Miss?« Er zog die Stirn in Falten. Mit einem einzigen Blick sagte er ihr, dass sie die Vorstellung des Kindes nicht platzen lassen sollte. Okay, vielleicht konnte er besser mit Kindern umgehen, als sie gedacht hatte.
»Ja, echt schade«, jammerte sie und schämte sich dafür, dass sie einem Kind sagen wollte, dass sie ihre Stahlhaut einfach abschalten konnte, wenn sie nur wollte. Keines dieser Kinder konnte das mit seiner Krankheit oder Verletzung tun. Das Gewicht lastete schwer auf ihrem Gewissen. Sie musste ihre Fähigkeiten einsetzen, um Leute wie diese Kinder zu beschützen – Leute, die sich nicht selbst beschützen konnten – selbst wenn sie nicht alle hier gesund rausbringen konnte.
Die Tür zum Besucherzimmer knarrte und Beanpole, das letzte Mitglied ihres Teams, kam herein. Er war groß und schlaksig und schaute die Kinder an, als wäre er ein einzelnes Getreidekorn vor einem Taubenschwarm – völlig verängstigt und unverstanden.
»Sie warten unten auf dich, Kristen.« Er trat nicht weiter in das Zimmer, als er unbedingt musste. Durch sein Unbehagen fühlte sich Kristen etwas besser. Beanpole war ein ausgezeichnetes SWAT-Mitglied und doch machten ihm Kinder Angst. Ihr ging es ähnlich.
Sie nickte und ging zu ihm. Obwohl sie im Umgang mit Kindern eher unbeholfen war, zog sie deren Gesellschaft den Pressekonferenzen vor, zu denen der Captain sie gezwungen hatte.
Seitdem Mister Black untergetaucht war, hatte die Stadt Detroit eine Periode relativer Ruhe erlebt. In der ersten Woche nach dem Verschwinden des kriminellen Superhirns war das SWAT-Team noch in höchster Alarmbereitschaft und wartete darauf, dass der Drache mit einem anderen Team von Schlägern oder Söldnern zurückkehren würde, aber die Erwartung erfüllte sich nicht.
Nach ein paar weiteren Wochen hatte Captain Hansen Kristen mit Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Sie hatte bereits das Obdachlosenheim, das Frauenhaus, eine ganze Reihe von Veranstaltungen in Gemeindezentren, die Polizeigala und jetzt das Kinderkrankenhaus besucht. Um ehrlich zu sein, würde sie lieber auf jemanden schießen, statt öffentlich zu sprechen. Zumindest schützte sie ihre Fähigkeit, sich in Stahl zu verwandeln, vor Kugeln. Ein Mittel gegen unhöfliche Journalisten hatte sie nicht.
Als sie Beanpole die Treppe hinunter folgte, versuchte sie sich einzureden, dass nicht alles nur überflüssig war. Sie wusste, dass es wichtig war, die Polizei von Detroit in ein besseres Licht zu rücken und den Menschen im ganzen Land zu zeigen, dass der Stahldrache sich mehr für die Menschen einsetzte als die anderen Drachen, die die Menschheit aus der Ferne manipulierten. Leider musste sie dabei auch an Mister Black denken.
Er war immer noch da draußen, zweifellos plante er etwas, um die Stadt doch noch ins Chaos zu stürzen. Sie sollte da draußen sein und ihn finden. Sie hatte zwar seine Aura nicht mehr gespürt, seit das Drachen-SWAT ihn aus der Villa vertrieben hatte, aber das bedeutete nicht, dass er tatsächlich verschwunden war. Kristen hatte wochenlang mit ihm trainiert und sie glaubte nicht, dass es in seiner Natur lag seine Pläne einfach aufzugeben.
»Bist du bereit dafür?«, fragte Beanpole, als sie den ersten Stock erreicht hatten.
»Ist das dein Ernst? Natürlich nicht. Ich klinge immer so höllisch unbeholfen im Fernsehen. Ich bin froh, dass sie nie meine ganzen Reden zeigen, sondern nur die bearbeiteten.«
»Es geht bestimmt gut da draußen«, behauptete er und es klang völlig falsch.
»Nein, das wird es nicht. Neben Kristen sehe ich aus wie ein verdammter Poet«, lachte Hernandez und huschte mit ihnen aus der Tür vom Treppenhaus in den Flur.
»Weißt du, das brauche ich jetzt nicht«, murrte Kristen.
»Wie auch immer, Red. Ich will nur helfen. Wenn ich dich zum Lachen bringe, siehst du im Scheinwerferlicht vielleicht nicht wie ein verdammtes Rehlein aus.« Die Frau streckte die Zunge heraus.
»Und dass du vor einem Raum voller Kinder Angst hast, hat rein gar nichts damit zu tun, dass du jetzt hier bist?«, erwiderte Kristen scharf.
»Ich habe Angst vor den kleinen Scheißern. Das gebe ich zu. Für jeden von ihnen würde ich mir eine Kugel einfangen, aber hast du das Zeug bei dem einen Jungen gesehen? Ich kann die Farbe nur als radioaktiv beschreiben. Der Scheiß ist gruseliger als eine M16.«
»So schlimm war es nicht«, sagte Kristen und versuchte es ernstgemeint klingen zu lassen, scheiterte aber spektakulär.
»Das sind öffentliche Ansprachen auch nicht. Komm schon, du hast Kugeln abbekommen, bist fast explodiert und hast gegen einen Drachen gekämpft, der dich umbringen wollte. Es gibt keinen logischen Grund, warum dich eine Masse von verdammt reichen Spendern für das Krankenhaus, die mit Geld um sich werfen und sich dabei gut fühlen wollen, ausflippen lassen sollte, oder?«, grinste Hernandez. Oh, wie sie es liebte, ihre Teamkollegin während dieser Veranstaltungen zu nerven.
»Weißt du, vielleicht solltest du an meiner Stelle da raufgehen«, schlug Kristen vor. »Eine Latina-Vertretung da oben zu haben, könnte gut für die Truppe sein. Außerdem bist du Sprengstoffexpertin. Du könntest über die Söldner reden, die wir besiegt haben. Die Leute fragen mich immer noch nach technischen Details.«
»Ähm … siehst du … scheiß drauf. Für den Anfang hat es einen echten Vorteil, wenn man sagt: Scheiß auf jedes andere Scheißwort. Captain Hansen hat mich immer gebeten, Reden über Sexismus und all den Scheiß zu halten, als ich angefangen habe. Sie hatte auch diesen beschissenen, umgekehrten Rassismus-Gedanken, aber ich habe ihr erklärt, dass ich mir nicht sicher sei, ob ich meine scheiß-sprechende Zunge kontrollieren könne und sie hörte auf mich zu bitten.»
»Was ist mit dir, Beanpole? Willst du die Fragen für mich beantworten? Wenigstens bist du ein guter Redner.«
»Nun, ja, äh … ich fluche zwar nicht wie Hernandez, aber das heißt nicht, dass ich Menschenansammlungen mag. Ich bin wie sie. Ich würde eher eine Kugel einfangen, als ein Mikrofon in die Hand zu nehmen.«
»Mensch, wow. Ihr zwei seid echt großartig im Motivieren.« Kristen knirschte mit den Zähnen, als sie den Veranstaltungsraum im Krankenhaus erreichten. Zu Beginn hatte sie gedacht, dass große Räume wie dieser in Krankenhäusern oder Obdachlosenheimen überflüssig wären. Nachdem sie jedoch gesehen hatte, wie viel Geld nach solchen Zusammenkünften floss, verstand sie, dass die Räume eigentlich ein grundlegender Teil der Arbeit für die weniger Glücklichen waren. Spender hierher zu bewegen, war der Papierkram der gemeinnützigen Welt – essenziell zwar, aber nicht unbedingt glamourös.
»Und hier ist sie«, kündigte Captain Hansen an. »Der verlorene Stahldrache, Kristen Hall höchstpersönlich!«
Es folgte vereinzelt Applaus. Der Captain hatte versucht, die beiden Spitznamen zu kombinieren, aber Kristen hasste es. Der Verlorene Drache war für sich allein genommen schon cool. Er erinnerte die Leute daran, dass sie als Mensch aufgewachsen war und dass es da draußen noch andere verlorene Drachen geben könnte. Stahldrache war auch cool – und zumindest traf es den Punkt – aber verlorener Stahldrache klang, als hätte sie etwas verlegt.
Der Verlorene Stahldrache betrat die Bühne.
»Danke, dass Sie alle heute gekommen sind«, begann sie schwach.
»Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass Mister Black, der kriminelle Drahtzieher, der diese Stadt fast ins Chaos gestürzt und Sie fast getötet hätte, immer noch da draußen ist?«, rief ein Reporter von hinten.
Sie seufzte, unsicher, wie sie mit diesem Ausruf umgehen sollte. Sie hasste es, dass er immer noch da draußen war. Es war ein wenig tröstlich, dass sie ihn an seinen Plänen gehindert und entdeckt hatte, dass er sie auf seine Seite ziehen wollte. Aber sie hasste es mehr denn je, dass er frei herumlief und noch mehr Ärger verursachen konnte. Mehr als alles andere wollte sie ihn gemeinsam mit dem Drachen-SWAT jagen. Sie wollte das Loch finden, in das er sich verkrochen hatte und ihn ausräuchern wie die Pest, die er nun einmal war.
Aber das waren keine geeigneten Gesprächsthemen.
Laut Captain Hansen hatte das SWAT seine Arbeit getan und Mister Black alias Sebastian Shadowstorm erwischt – Kristen sollte beide Namen für die Öffentlichkeit außerhalb Detroits verbinden – und der Stadt ging es dadurch besser. Die Statistiken gaben dem Captain sicherlich recht. Es hatte weniger Schießereien gegeben und weit weniger Aktivitäten mit Sturmgewehren und Sprengstoff, die den Beginn von Kristens Karriere gekennzeichnet hatten.
Dem Captain war es egal, dass Mister Black noch da draußen war. Was sie betraf, so lag der Drache außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, einfach, weil er ein Drache war und keine Gesetze in der Stadt brach. Aber Kristen wusste, dass das nur vorübergehend sein würde.
Sie wusste, dass Shadowstorm nur abwarten würde. Er war mehr als ein Jahrhundert in Detroit gewesen. Die Möglichkeit, dass er die Stadt verlassen würde, stand nicht zur Debatte. Er hatte sicherlich Verstecke und Kontakte in der gesamten Motor City. Wenn man bedachte, dass er Menschen nur als Vieh sah, war sie absolut sicher, dass, selbst wenn sie einen seiner Lakaien fangen sollten, das Monster ihn einfach töten und das undichte Ende entsorgen würde.
Aber der Captain wollte nicht, dass sie über diese Details sprach. Sie wollte, dass Kristen über neue Zebrastreifen, Radarfallen und eine Spendengala der Polizei sprach. Während der Polizeibeamte in ihr erkennen konnte, worauf ihr Kommandant hinaus wollte, kümmerte sich der Stahldrache nicht darum. Sie war bei mehr als genug dieser Veranstaltungen gewesen.
Es war an der Zeit, dass sie die Fragen der Menschen zu den Themen, die ihnen am Herzen lagen, aufgriff. Das bedeutete, dass sie ihre Meinung sagen musste. Es war an der Zeit für die Welt, den Stahldrachen wirklich zu hören.
Sie räusperte sich und es entstand sofort eine Rückkopplung. Selbst das war den lästigen Fragen, die so viele Reporter normalerweise stellten, vorzuziehen.
Kristen öffnete den Mund, um dem Reporter zu sagen, dass der Stahldrache für ihre Stadt kämpfen wollte. Bevor sie jedoch sprechen konnte, verspürte sie einen Schmerz in ihrer linken Schulter.
Erschrocken blickte sie zu der Stelle, an der klirrende Glasscherben wie fallende Sterne das Licht einfingen. Das obere Fenster ihr gegenüber war zerbrochen, bevor sie einen Schuss gehört hatte.