Kapitel 7
D
er Geruch von starkem Kaffee und nervösem Schweiß durchzog das Revier. Kristen hatte niemals zuvor so viele Beamte in dem Gebäude gesehen. Sie alle hätten nicht in den Aufenthaltsraum gepasst, also standen sie stattdessen um die Schreibtische herum, diskutierten, wer der Schütze und welches Monster hinter der Familie eines Cops her sein könnte. Alles in Allem bereiteten sie Frank Hall eine höllisch harte Zeit.
Sie fragte sich, ob sich die meisten Familien, die in Schutzhaft genommen wurden, so fühlten wie vermutlich ihr Vater. Er war dreißig Jahre lang Polizist gewesen und obwohl er nie beim SWAT gearbeitet hatte, kannte er immer noch eine ganze Reihe Beamten dort. Obwohl er in seinem eigenen Zuhause ins Visier genommen worden war, tat er so, als wäre er im Revier daheim, war fröhlich und fragte nach den Familien der Beamten. Wenn man ihn so sah, konnte man leicht übersehen, dass er vor weniger als einer Stunde beinahe von einem unbekannten Feind entführt worden wäre.
Der Rest der Familie ging mit dem Stress auf eher typische Weise um. Ihre Mutter trank trotz der späten Stunde eine Tasse Kaffee und starrte Löcher in die Luft. Brian war in ein Spiel auf seinem Handy vertieft – typisch für ihn, aber Kristen wollte später noch mit ihm reden.
Captain Hansen kam aus ihrem Büro, stieg auf einen Schreibtisch und wartete darauf, dass es still wurde im Raum. Lange dauerte es nicht. »Gut, also zuerst das Wichtigste – Officer Hall und Officer Washington, die Truppe schuldet euch Dank. Ihr habt zwei Beamten das Leben gerettet. Wegen euch können die beiden heute Abend nach Hause zu ihren Familien gehen. Außerdem sind wir auch froh darüber, dass ihr einen Ruheständler gerettet habt. Einige von uns wären traurig gewesen, ihn nicht wiederzusehen.«
Die Frau nickte Frank zu, während die Menge lachte, applaudierte und jubelte. Sie wartete, bis sich alle beruhigt hatten bevor sie weitersprach. »Folgendes kann ich sagen. Vor drei Stunden versuchten vier Feinde, die Familie unseres Drachen als Geiseln zu nehmen. Sie hat es nicht zugelassen.«
Es folgten weitere Beifallsbekundungen.
»Kristen Hall und Jim Washington riefen im Revier an, nahmen Befehle entgegen und machten sich auf den Weg zu Halls Wohnhaus – zumindest ist das die Geschichte, wenn irgendwelche Reporter fragen sollten. Sie haben drei der vier Gegner festgenommen. Einer wurde verletzt, scheint aber stabil zu sein, also gute Arbeit.«
»Der, den Hall aus dem Fenster geworfen hat, ist entkommen?«, fragte Wonderkid.
»Sieht so aus. Aus diesem Grund werden die Halls eine Zeit lang unter unserer Beobachtung stehen. Wir können ja nicht den Stahldrachen selbst über ihnen schweben lassen, während dieser Scharfschütze sie jagt. Was mich direkt zu meinem nächsten Punkt führt. Kristen Hall, Innendienst bis das alles geklärt ist.«
Der Jubel und die Freude im Raum versiegten sofort.
»Was? Aber das ist doch lächerlich!«, protestierte Kristen.
»Ganz sicher ist das ein Befehl. Und ich tue es hier öffentlich kund, damit jeder versteht, dass er sein eigenes Leben und seinen Job riskiert, wenn Hall mit rausgenommen wird. Zu wem sie auch ins Fahrzeug steigt, muss sich vor mir verantworten.«
»Das ist Schwachsinn.« Kristen war wütend. Ein paar andere Beamten – sie standen neben ihr – stimmten ihr zu.
»Wenn ihr ein Problem habt, kommt zu mir ins Büro. Eigentlich ist das ein Befehl. Du, Wonderkid und Drew – in mein Büro. Jetzt! Alle anderen, zurück an die Arbeit.«
Kurz brandete halbherziger Jubel auf, wurde aber schnell durch allgemeine Nörgelei über Papierkram ersetzt.
Im Büro stellte Kristen schnell fest, dass nicht jeder so nachsichtig mit ihr war, wie der Captain.
Normalerweise zeigte Drew nicht viel Gefühl, aber jetzt tat er es. Er bewegte sich wie ein Wolf, der hinter Gittern eingesperrt war.
»Hey … Drew«, begann sie zögernd.
»Fürs Protokoll, ich habe ein volles Disziplinarverfahren gegen euch beide empfohlen. Der Captain will vielleicht keinen Fleck auf der Weste des Stahldrachen sehen, aber ich bin anderer Meinung. Abhauen war fahrlässig, dumm und mehr als gefährlich.«
»Ja, aber wenn wir es nicht getan hätten, wäre Halls Familie tot«, antwortete Jim.
Das brachte ihm lediglich ein Knurren und ein widerwilliges Nicken des anderen Mannes ein. »Ich weiß und ich weiß wirklich nicht, was zwei normale Polizisten gegen vier bewaffnete Kriminelle hätten tun können. Es ist nur … Siehst du nicht, dass du manipuliert wirst, Kristen?«
»Und was wäre die Alternative?« Sie war jetzt auf den Beinen. »Meine Familie gefangen nehmen lassen?«
»Natürlich nicht.« Captain Hansen saß mit gefalteten Händen an ihrem Schreibtisch. »Wir werden deine Vorgehensweise nicht auseinandernehmen, aber wir werden auch nicht zulassen, dass sie sich wiederholt. Dieser Scharfschütze jagt dich,
Kristen. Von jetzt an bist du ein normaler Polizist.«
»Ein normaler Mensch wird diesen Mörder nicht stoppen können.«
»Kristen, ich verstehe, dass der Schutz der Menschen, die du liebst, eine wichtige Aufgabe für dich ist.« Drews Stimme klang nicht mehr wütend, sondern eher flehend, womit Kristen nicht so recht etwas anzufangen wusste. »Bis jetzt habe ich es als eine große Stärke betrachtet.«
Jim lachte. »Ich hab’s gehört. In ein Feuergefecht zu geraten und zu wissen, dass der Stahldrache deinen Rücken deckt, ist ein tolles Gefühl.«
Der Teamleiter lächelte eine halbe Sekunde, dann kehrte sein Stirnrunzeln zurück. »Nicht zuletzt, weil wir wissen, dass du alles tun würdest, um uns zu beschützen. Aber genau das ist das Problem.«
»Wieso ist es plötzlich ein Problem, meine Freunde und Familie zu schützen?«, wollte Kristen wissen.
»Dieser Gegner ist offensichtlich klug und wird versuchen, deine Stärken in Schwächen zu verwandeln«, antwortete Captain Hansen. »Soweit wir wissen, war der Schuss auf deinen Arm gerichtet, um dich ins Krankenhaus zu bringen – nicht dich zu töten – damit sie deine Familie entführen können.«
»Ist das nicht ein wenig paranoid?« Jim hob eine Augenbraue.
»Nein, ist es nicht, Wonderkid. Ganz sicher nicht. Tatsächlich denke ich, das Klügste, was wir tun können ist, so paranoid wie möglich zu sein. Ein Beweisstück ist bereits verschwunden, was an sich schon beunruhigend ist. Ich denke, das Sicherste ist, dass wir Kristen komplett hier rausnehmen. Ich möchte, dass du in ein Krankenhaus in einem Vorort gehst, bis die Schulter verheilt ist.«
»Mit Respekt, Ma’am, das wird nicht nötig sein«, widersprach Kristen und entschied sich, die Drachenschuppen-Kugel in ihrer Tasche nicht herauszugeben.
»Es liegt in meiner Macht, dich krankschreiben zu lassen.«
»Auch wenn ich unverletzt bin?« Sie riss sich den Verband von der Schulter.
Das Keuchen der beiden Männer bestätigte ein weiteres Mal, dass Kristen kein Mensch mehr war.
»Mach dich nicht lächerlich, Hall. Es ist weniger als 24 Stunden her …« Captain Hansen verstummte und der Mund stand ihr offen.
»Die Wunde … sie ist schon geschlossen?«, sagte Drew ungläubig.
Kristen nickte. »Sie ist noch etwas steif, aber bis morgen früh nicht mehr.«
Der Captain fing sich zuerst. »Das ändert nichts. Es gab mehrere Angriffe auf dich und deine Familie. Wir müssen herausfinden, wie sie zusammenhängen, bevor du oder deine Familie wieder verletzt werden.«
»Wissen wir schon etwas über die Entführer?«, fragte Jim.
Drew nickte. »Sie sind nur ein kleiner ›Schlägertrupp‹, den man mieten kann. Wir kennen sie schon und denken, dass etwa die Hälfte noch auf freiem Fuß ist, aber wir haben Leute, die nach ihnen suchen. Wir kriegen sie.«
»Der Schütze ist etwas anderes«, sagte Captain Hansen.
»Hat man Hinweise in seinem Unterschlupf gefunden?«, erkundigte sich Jim.
Der Teamleiter antwortete zuerst. »Haben wir, aber es wird dir nicht gefallen. Zum einen, diese Schüsse wurden aus etwa zweitausendsechshundert Metern Entfernung abgegeben.«
Wonderkid pfiff anerkennend. »Verdammt«.
»Die meisten Scharfschützen arbeiten aus maximal tausendachthundert bis zweitausend Metern. Zweisechs ist … Bist du sicher?«, fragte Kristen.
»Positiv«, bestätigte Drew. »Und ich wusste nicht, dass du dich damit auskennst.«
»Ich nicht, aber mein Bruder spielt jede Menge Videospiele. Er kann dir die Spezifikationen von fast jeder Waffe, die jemals hergestellt wurde, runterbeten, ob du ihn fragst oder nicht. Aber selbst in Spielen ist so etwas nicht möglich!«
»Unser Schütze kann es. Sie hat es drauf«, warf Captain Hansen zähneknirschend ein.
»Moment, wir wissen, wer der Schütze ist? Das ist gut!« Rachegelüste flammten in Kristen auf. Sie sah, wie dieselbe Emotion in den Gesichtern aller anderen ebenfalls hochkam und erinnerte sich sofort daran, dass sie das wirklich unter Kontrolle bringen musste.
»Das ist es nicht.« Die Frau suchte in ihrem Schreibtisch und zog einen silbern glänzenden Halbkreis von der Größe eines Vierteldollars heraus. »Sie hat ihre Visitenkarte dagelassen.« Sie warf Kristen das Überbleibsel zu.
Sie fing es auf und drehte es der Hand. »Das ist … eine Drachenschuppe?«
Drew schüttelte den Kopf. »Nein, nur ein bisschen Silber, das so aussieht wie eine.«
»Der Name des Attentäters ist ›der Todesengel‹. Die meisten unserer Quellen sagen, dass er eine ›sie‹ ist, aber wirklich sicher sind wir nicht. Das Gleiche wurde an mehreren Tatorten auf der ganzen Welt gefunden. Fast jedes Mal, wenn in den letzten zwanzig Jahren ein Drache erschossen wurde, war eine dieser silbernen Schuppen vor Ort.«
»Und niemand hat sie jemals erwischt?« Kristen war erstaunt, dass so ein winziges, schönes Ding weltweit Morde symbolisieren sollte.
»Niemand hat es bisher wirklich versucht«, seufzte der Captain. »Das Töten von Drachen liegt weltweit außerhalb der menschlichen Zuständigkeit. Du weißt, wie sie sind und wie sehr sie es hassen, wenn wir in ihrem Leben herumschnüffeln. Wir wissen nur, dass der Todesengel eine beeindruckende Tötungsliste hat. Wenn die Drachen mehr wissen sollten, so sagen sie es uns nicht.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Büro und Stonequest trat ein.
Er blickte auf die Schuppe in ihrer Hand, dann auf sie. »Also war es der Todesengel.« Er schien ebenso wenig erfreut zu sein, den Schützen zu kennen, wie der Captain.
»Sag uns bitte, dass du uns Informationen vorenthältst«, bat Drew und ein schwaches Grinsen glitt auf sein Gesicht.
Stonequest schüttelte den Kopf und zerschlug damit jede Hoffnung, die sich vielleicht aufgebaut haben könnte. »Wir wissen nur Eines, wenn der Todesengel ein Ziel gewählt hat, macht sie weiter, bis sie erfolgreich war. Sie ist verdammt einfallsreich und mehr als gefährlich. Kristen, das bedeutet, dass dein Training nicht mehr in deinem Tempo erfolgen kann.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, dass du alle Drachenfähigkeiten haben musst, die dir zur Verfügung stehen könnten. Wenn der Todesengel dich jagt, weiß sie zweifellos, was du kannst und was nicht. Du hast deine Drachenform immer noch nicht angenommen. Ich habe keinen Zweifel, dass sie das weiß und entsprechend handelt. Wir müssen deine Fähigkeiten auslösen, wenn du das hier überleben willst. Wir hatten noch nie einen Stahldrachen. Das könnte die Gelegenheit sein, auf die wir gewartet haben.«
»Was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass du jetzt mit mir kommst.«
Er nickte Captain Hansen und Drew zu. Beide erwiderten das Nicken, als Anerkennung der Vormachtstellung des Drachen-SWAT über den menschlichen Angelegenheiten.
»Was passiert mit meiner Familie?«, fragte Kristen.
»Wir bringen sie in eine sichere Unterkunft, bewaffnete Wachen in ihren Zimmern, alles, was dazugehört«, versicherte der Captain.
»Das könnte nicht genügen«, protestierte Kristen.
»Bei allem Respekt, wenn du nicht mehr deiner Fähigkeiten aktivieren kannst, weiß ich genau, dass diese Menschen nichts dafür tun können, dich zu schützen.«
Sie starrte den anderen Drachen unzufrieden an, aber sie folgte ihm aus dem Büro und in die Nacht.
Logischerweise ging Kristen davon aus, dass sie in ein Auto oder so steigen würden, weil Stonequest sie auf die oberste Ebene des Parkhauses brachte. Dort angekommen, näherte er sich jedoch der Kante und wandte sich ihr zu.
»Wir üben hier?«, fragte sie.
»Nein, aber es ist einfacher, einen Flug von oben zu starten.« Kaum hatte Stonequest zu Ende gesprochen, verwandelte er sich schon. Zuerst schien seine Haut abzublättern, um den Stein darunter zum Vorschein zu bringen, aber das war noch nicht alles. Immer mehr dünne Stein- und Staubfragmente fielen von ihm ab, während sich seine Größe mehrfach verdoppelte. Flügel bildeten sich aus seinem Rücken wie Knochen aus Lavagestein. Ein Schwanz brach aus seiner Wirbelsäule und verteilte noch mehr Steine und Staub über das Dach. Eine Membran, klar wie Kristall, verband die Knochen seiner Flügel. Er schlug einmal mit den Flügeln, Staub und Schutt verteilte sich über das Dach des Parkhauses, aber im nächsten Moment war alles verschwunden.
»Ich muss wirklich lernen, wie man das macht.« Kristen klang aufgeregt.
»Manche Drachen lernen es, indem sie einfach von einem Gebäude springen und ihre Kräfte in einem Moment der Not aktivieren.«
Vorsichtig schaute Kristen über den Rand. Das Parkhaus war schon hoch, aber nicht zu hoch. »Ich glaube, in meiner Stahlform könnte ich die Landung überleben.«
Stonequest seufzte; es klang merkwürdig in seiner Drachenform. »Es wäre einfacher, wenn du dich auch verwandeln könntest«, murmelte er. »Aber bis dahin, klettere rauf und halt dich fest.«
Der Flug über die Stadt war ein berauschendes und surreales Erlebnis. Obwohl er scheinbar aus Stein war, flog er anmutig und schlug kaum mit den Flügeln, weil er mühelos auf die Veränderungen der kühlen Luft reagierte.
Kristen sehnte sich danach, das auch zu können, aber nicht so sehr, um von seinem Rücken zu springen und die Theorie ihres Lehrers über ihre Möglichkeiten in Not zu testen.
Sie flogen fast eine Stunde lang und als sie das Ziel erreichten, war Kristen völlig erschöpft.
Es handelte sich um eine Art Herrenhaus. Stonequest sagte etwas über »unser schönstes palastartiges Anwesen«, bevor er sie zu Bett brachte. Er erklärte ihr, er würde sie im Morgengrauen abholen.
Sie nickte und schlief in dem Moment ein, als ihr Kopf das Kissen berührte.