Kapitel 8
K
risten erwachte und starrte verwirrt an eine schöne Zimmerdecke. Das war ein wenig seltsam, denn sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Zimmerdecken überhaupt schön sein könnten. Ihrer Erfahrung nach waren sie meistens weiß oder vielleicht noch mit schmuddeligen Platten beklebt wie in einer Grundschule. Das Dach über ihrem Bett allerdings war kastanienbraun gestrichen, bemalt mit goldener Spitze in einem zarten Muster. Sie rieb sich die Augen und vermutete sich in einem wunderschönen, aber langweiligen Traum, doch die Decke blieb.
Etwas munterer stützte sie sich mit ihrem linken Arm beim Aufsitzen ab, entdeckte aber schnell, dass das nicht mehr nötig war. Alles schien völlig abgeheilt zu sein. Das Zimmer selbst war ebenso schön wie die Zimmerdecke. Zwei antike Stühle und ein frei im Raum stehender Schreibtisch könnten als eines Präsidenten würdig bezeichnet werden.
Sie stieg aus dem Bett und entdeckte auf einem der Stühle einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidung. Es schien sich um eine Art Trainingskleidung zu handeln, ähnlich der, die bei Kampfsportarten getragen wurde.
Frische Kleidung ließ sie an eine Dusche denken. Kaum hatte sich der Gedanke manifestiert, klopfte es an ihrer Tür. Sie antwortete.
»Möchten Sie ein heißes Bad, Ma’am?«, fragte eine kleine, schwarz-weiß gekleidete Frau mit einem Kopftuch, das ihr Haar völlig verbarg.
»Äh, ja, bitte? Aber … ähm, wo ist Stonequest, und – ich will nicht unhöflich sein – wer zum Teufel sind Sie?«
»Stonequest trifft sich mit einigen seiner Verbündeten. Er sagte mir, ich solle Sie zu ihm schicken, wenn Sie sauber und gefüttert sind.« Scheinbar wollte die Frau noch mehr sagen. Kristen überlegte, ob Stonequest wohl etwas über einen stinkenden Menschen gesagt hatte, der auf ihm in seiner Drachenform geritten war. Bevor sie fragen konnte, räusperte sich die Frau. »Mein Name ist Farah. Ich bin eine Haushälterin in der Drachenzuflucht. Ich kann Sie ins Bad begleiten und Ihnen beim Haarewaschen helfen.«
Kristen nickte und folgte der Frau in das aufwendigste Badezimmer, das sie je gesehen hatte. Offensichtlich hatte sie niemals vorher ein Badezimmer, das diese Bezeichnung auch verdiente, betreten. Ihr Vater hatte ein treffenderes Wort für diese winzigen Räume mit Toiletten, die Kristen bislang als Badezimmer gekannt hatte, nämlich ›Scheißhaus‹.
Dieser Raum war völlig anders.
Die Kacheln waren eierschalenfarben, bemalt mit kleinen blauen, rosa und grünen Blümchen. Waschbecken und Dusche waren an den Wänden angebracht, aber was ihre Aufmerksamkeit am meisten auf sich zog, war der massive Pool in der Mitte.
Es war rund mit einem Durchmesser von etwa drei Metern, außen herum befanden sich drei Wasserspeier. Dampfendes Wasser sprudelte aus dem Hals eines Wasserspeiers und zwei der schönsten Frauen, die sie je gesehen hatte, saßen im Wasser.
Eine von ihnen lehnte mit geschlossenen Augen am Rand, ihre Brüste lagen über dem Wasser, während eine andere Dienerin Shampoo in ihre Kopfhaut einmassierte.
Das Haar der zweiten Frau war bereits in ein Handtuch gewickelt und ihre Augen sandten tödliche Blicke auf den Neuankömmling.
»Ihre Kleidung, Lady Steel?«, erkundigte sich Farah.
Kristen zögerte nur einen Moment, bevor sie sich auszog. Sie mochte zwar neu in der Stadt sein, aber sie würde sich von dieser Frau – einem Drachen – nicht einschüchtern lassen.
Farah führte sie zu einer Dusche, in der sie sich den Dreck herunterwusch, den ihre Tätigkeit als Beamtin beim SWAT offensichtlich hinterlassen hatte. Sobald ihre Haut rosig geschrubbt war, kehrte sie zum Pool zurück.
Nachdem sie sich im dampfenden Wasser niedergelassen hatte, schmolzen die Spannungsknoten, die monatelang in den Muskeln geschmerzt hatten, einfach weg.
Während Farah Kristens Haare wusch – eine wahrhaft dekadente Erfahrung – starrte eine der Drachenfrauen sie weiterhin an. Ohne ihr ständiges Hohngelächter wäre der Moment vielleicht perfekt gewesen. Kristen wollte etwas sagen, aber die Frau sprach zuerst.
»Du bist also die Stahlschlampe, was?«
»Wie bitte?«, sagte sie, schockiert über das Verhalten dieser anderen Frau.
»Wir alle wissen, wer du bist. Du hast deine hübschen roten Haare aus jedem Fernseher gehängt, nicht wahr?«
»Das war nicht meine Idee …«
»Du hast dich auch nicht vor den Kameras gedrückt. Wisse dies, Stahlschlampe. Du bist kein Drache. Du magst den kleinen Trick mit deiner Metallhaut beherrschen, aber soweit wir wissen, bist du nur ein Drachenkind, dessen Ei hätte zerbrochen werden müssen. Bis du dich verwandeln kannst, bist du nichts weiter als eine Kuriosität.«
Bevor Kristen antworten konnte, stand die Frau auf und das Wasser wich vor ihrem Körper zurück. Es wand sich selbst aus ihrem Haar, floss den nackten Körper hinunter und bildete Wellen wie eine Krone um ihre Beine.
»Wie hast du …«, fing Kristen an.
»Du bist nicht die Einzige von uns mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Es gibt auch Magier, die kleine Zaubertricks wie deinen beherrschen. Tu dir und uns einen Gefallen und geh nach Hause, bevor Stonequest noch mehr Zeit auf dich verschwendet.«
Damit trat sie von ihrer Poolseite weg und das Wasser strömte zurück, um die Leere zu füllen, die sie mit ihren Fähigkeiten geschaffen hatte. Ein Diener brachte ihr ein Kleidungsstück, das einem Karate-Gi und dem ähnlich war, das Kristen in ihrem Zimmer vorgefunden hatte.
»Ich entschuldige mich für Lady Aqua«, sagte Farah und spülte die Haare ab. »Sie ist seit Jahrhunderten nicht nett zu einem neuen Drachen, aber sie wird sich wieder fangen, wenn sie sieht, wozu Sie fähig sind.«
»Dann hat es keinen Sinn, das Training zu verschieben.«
»Ja, Mylady.«
Kristen trat aus der Wanne und Farah holte ihr ein Handtuch. Sobald sie abgetrocknet war, zog sie das Gi an und war erleichtert, dass es gut passte, aber immer noch locker genug saß, um ihr volle Bewegungsfreiheit zu ermöglichen. Das war ein wirklich perfektes Trainingsoutfit.
Vom Bad aus wurde sie in einen Speisesaal mit dem größten Frühstücksbuffet geführt, von dem sie sich je bedient hatte. Jede Frucht, die sie kannte, war vorhanden, plus ein paar weitere, die aus dem Süden importiert sein mussten. Es gab verschiedene Brotsorten, Speck, Wurst und Schinken und ein Koch bereitete Eier auf Bestellung zu, als Omeletts oder auch etwas anderes.
Kristen bemerkte mit wachsender Freude, dass jeder im Speisesaal mit der Begeisterung einer Hall frühstückte. Obwohl die Männer Arme wie gemeißelt hatten – ohne jegliches Körperfett – und die Frauen alle schlank waren, aßen sie, als ob jeden Moment die Nahrungsmittel auf dem Buffet ausgehen könnten. Das war ein Stück Drachenkultur, an dem sie gerne teilhaben wollte.
Ihre Begeisterung war wieder zurück und sie griff unverzüglich am Frühstücksbuffet zu. Sie aß sechs Avocado-Toast, ein Omelett aus vier Eiern mit Oliven und einem Topping aus einer absurden Menge Crème fraîche und reichlich Speck. Dazwischen probierte sie verschiedene Früchte und genoss den perfekten Reifegrad jeder einzelnen. Alles in allem war es das beste Frühstück, an das sie sich erinnern konnte. Sogar besser als die Platte mit den Frühstückstacos, die sie einmal gegessen hatte, im Urlaub mit ihrer Familie in Austin, Texas.
Die Drachen ignorierten sie während des Frühstücks und sie tat dasselbe. Kristen hoffte, dass außerhalb des Badezimmers ein gewisses Maß an Anstand vorhanden wäre und die Drachen schienen dies zu gewähren.
Endlich gesättigt, schob sie ihren Stuhl zurück und rülpste. Das zog einen missbilligenden Blick der anderen Drachen nach sich, aber das war Kristen egal.
»Lady Steel, wenn Sie bereit sind?«, sagte Farah und Kristen erschrak, weil sie Farah nicht hatte kommen sehen. »Stonequest erwartet Sie.«
»Oh, richtig, Entschuldigung! Ich dachte, mit dem Bad und dem Essen hätte ich länger Zeit.«
»Sein Befehl lautete, dafür zu sorgen, dass Sie gebadet und gefüttert werden. Wenn Sie mit beidem zufrieden sind, bringe ich Sie zu ihm.« In der Stimme der Frau lag ein Hauch von Angst. Kristen gefiel das nicht, aber sie fragte sich, ob das der Preis dafür war, für Wesen zu arbeiten, die einen Menschen so leicht fressen konnten wie einen Berg Speck.
»Lassen wir ihn nicht warten.« Sie stieß sich vom Tisch ab. Obwohl sie nicht glauben wollte, dass Stonequest Farah bestrafen würde – er schien sich mehr für das Wohlergehen der Menschen zu interessieren als die meisten Drachen – leitete er diesen Ort auch nicht. Sie würde sich schrecklich fühlen, wenn die Frau bestraft würde, weil sie sich die Zeit genommen hatte, in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken.
Sie bewegten sich schnell durch die Gänge des Gebäudes, vorbei an Ölbildern und Marmorskulpturen. Viele von ihnen stellten Menschen dar – oder Drachen in Menschengestalt – aber einige der Bilder auch Drachen vor Burgen oder auf Schlachtfeldern. Wie alles dort war auch die Sammlung mehr als beeindruckend.
Ihre Begleiterin führte sie einen riesigen Flur entlang. Dieser hatte Marmorboden, keinen Teppichboden und schien der Eingangsbereich der Residenz zu sein. Ehrlich gesagt fehlten Kristen die Worte alles zu beschreiben. Der Raum war so groß wie ein Ballsaal, mit geschwungenen Treppen, die in die oberen Stockwerke führten. Ein großer Eingangsbereich? Ein Tanzsaal? Was auch immer es war, es war wunderschön, aber sie hatte keine Zeit, es zu würdigen, weil Farah sie zwischen den Treppenaufgängen zur Hintertür hinausführte.
Die Außenanlagen waren so schön und gepflegt wie das Schloss selbst. Perfekt geschnittenes Gras wurde trotz des kalten Wetters durch blühende Blumenbeete unterbrochen. Pavillons waren in der Landschaft verteilt, um Raum für ungestörte Gespräche zu schaffen. Auf einem Hügel im hinteren Teil des Geländes stand ein Säulenbau, der aussah, als gehöre er ins antike Griechenland und nicht nach Detroit. Zwischen dem Mini-Parthenon und dem Palast lag ein riesiges Rechteck aus Sand.
In ihm kämpften Drachen in Drachen- und Menschengestalt mit antiken und modernen Waffen. Sie sah Schwerter, Armbrüste und Pistolen. Sie setzten alles gegeneinander ein, ohne Angst zu haben. Es ließ die SWAT-Sporthalle und den Schießstand der Polizei von Detroit aussehen, als wären sie für Vorschulkinder gedacht.
»Leben Sie wohl, Lady Steel«, verabschiedete sich Farah und ging zum Gebäude zurück.
»Danke!«, rief Kristen Farah nach, was einige Drachen zu erzürnen schien, die ruhig über das makellose Gelände schlenderten.
»Kristen! Es wurde auch Zeit.« Stonequest kam aus dem sandigen Rechteck auf sie zu. Ein Diener warf ihm ein Handtuch zu und er trocknete sich ab, bevor er sich ein Hemd anzog. Das war auch gut so, entschied Kristen, denn er sah aus, als wäre sein menschlicher Körper von einer ebenso geschickten Hand aus Marmor gemeißelt worden wie die Skulpturen im Inneren der Residenz. Bekleidet lenkte er sie weniger ab.
»Guten Morgen, Stonequest. Entschuldige die Verspätung.«
»Es ist in Ordnung. Wir haben einen langen Tag vor uns, deshalb wollte ich, dass du gefüttert wirst. Bist du bereit, das Mittagessen ausfallen zu lassen?«
Sie nickte bevor sie wusste, was sie tat. Das erklärte vielleicht, warum die Drachen so viel gefuttert hatten. Halls würden ein Mittagessen eigentlich nicht auslassen.
»Gut. Gefällt es dir hier?«, fragte er und deutete ihr an, dass sie mit ihm gehen sollte.
»Äh … größtenteils.«
»Meistens? Die meisten von uns sind erstaunt, wenn sie das erste Mal in die Drachenzuflucht kommen. Es ist schwer, den europäischen Stil in diesem Land hier richtig hinzubekommen.«
»Das Haus ist toll, im Ernst, aber alle sind ein bisschen … kalt?«
Er zog eine Grimasse. »Versuch erst einmal, dir keine Sorgen zu machen. Sie werden alle ihre Meinung ändern, sobald du deine Flügel hast.«
»Glaubst du wirklich, du kannst mir beibringen, wie man sich in einen Drachen verwandelt?«
»Du bist bereits ein Drache und hast alle Merkmale eines Drachen in menschlicher Gestalt. Wir brauchen nur noch das letzte Bisschen. Du hast große Fortschritte gemacht bisher. Ich bin sicher, du kannst es mit einem Lehrer erreichen, der deine Fähigkeiten auch wirklich freisetzen will.«
»Ich hoffe, es dauert nicht zu lange. Der Scharfschütze ist immer noch auf freiem Fuß. Hast du auch gehört, dass einige Schläger meine Familie im Visier haben?«
Stonequest nickte, sein Grinsen war verschwunden. »Ja, das habe ich. Was ein Grund mehr ist, zu trainieren, hart zu trainieren. Ich verstehe, wie … zerbrechlich menschliche Familien sein können.«
Kristen wusste nicht wirklich, was sie dazu sagen sollte, also nickte sie nur.
»Ich hätte allerdings ein paar Fragen über die Ereignisse dieser Nacht. Kannst du mir deine Version der Ereignisse erzählen? Im Polizeibericht steht, dass sich der Schläger, der deinem Bruder eine Waffe an den Kopf hielt, ergeben hat. Ist das wahr?«
»Das ist es.« Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, wobei sie peinlichst darauf achtete, alle Details ihrer Drachenfähigkeiten einzubeziehen – wie sie bewusst nur Teile ihres Körpers in Stahl verwandelt hatte, erhöhte Geschwindigkeit und Kraft, die Nachtsicht. Aber ihn interessierte vor allem, wie sie den Mann mit der Pistole hatte entwaffnen können.
»Es klingt, als hättest du deine Aura bei dem Typen aktiviert.«
Sie nickte. »Ich frage mich, ob es das war. Shadowstorm hat oft über das Wahrnehmen von Auren gesprochen, also habe ich einiges ausprobiert, aber ich bin mir immer noch nicht wirklich sicher, wie ich es direkt kontrollieren kann. Ich glaube, ich habe einige Male Leute wütend gemacht, weil ich wütend war oder so, aber na ja … Es ist nicht immer schön.«
»Unsere Aura ist eine unserer mächtigsten Fähigkeiten, zumal sie sich in erster Linie auf den Menschen bezieht. Auf Drachen findet die Aura in der Regel keine Anwendung, also wird sie nicht trainiert, aber die Auswirkungen auf andere Spezies können enorm sein.»
»Willst du damit sagen, dass der Mensch eine andere Spezies ist?«, fragte sie. Der Versuch, nicht auf Konfrontation zu gehen, scheiterte kläglich.
Stonequest zuckte unbeholfen die Achseln. »Wir sind verschieden, aber das habe ich nicht gemeint. Unsere Aura kann weit mehr tun, als einen wütenden Mob heraufzubeschwören oder zu unterdrücken. Schau einfach.«
Er schloss die Augen, holte tief Luft und hob beide Arme. Sie fühlte, dass etwas von ihm ausging, aber es war nicht wirklich eine Emotion, eher ein … Interesse? Es war schwer zu beschreiben.
Für sie ergab es keinen Sinn, bis ein Vogel auf seinem Finger landete. Es war ein prächtiger kleiner Kerl, rot mit einem dicken orangenen Schnabel, schwarzer Maske und einem kleinen Federbüschel am oberen Ende des Kopfes.
»Wow! Ist das ein Rotkehlchen?«, fragte sie.
»Was? Nein!« Er blickte sie spürbar verächtlich an. »Das ist ein nördlicher Rotkardinal. Im Ernst? Du dachtest, das wäre ein Rotkehlchen? Rotkehlchen sind der Staatsvogel von Michigan und haben eine rote Brust, einen gelben Schnabel und …«
»Ist das Wissen über Vögel ein wichtiger Teil meiner Ausbildung?«
»Nein. Es ist nur … du hast recht. Macht nichts. Das ist ein Rotkardinal. Ein Männchen. Ich benutze meine Aura, damit er mich als Freund erkennt. Wenn ich sie nur ein wenig verändere …«
Der Vogel begann ein Lied zu zwitschern.
»Oder ich lasse ihn wegfliegen und wieder zurückkehren.«
Er flog etwa sechs Meter weit, kam zurück und sang wieder auf seinem Finger.
»Oder ich lasse ihn denken, du wärst ein Raubtier.«
Der Vogel schlug mit den Flügeln und griff Kristen wütend zwitschernd im Gesicht an. Sie hob ihre Hände, um ihr Gesicht zu verteidigen, aber der Vogel war bereits wieder auf Stonequests Finger gelandet.
»Der Trick mit den Auren ist, dass man dem Subjekt ein bestimmtes Gefühl vermitteln kann. Die meisten Tiere haben ohnehin einfachere Emotionen als wir – und lass mich nicht damit anfangen, eine Aura bei einem Pottwal einsetzen zu wollen – sie sind also leichter zu kontrollieren. Der schwierige Teil ist die Abstimmung der Emotion mit einer Handlung. Du kannst dem Vogel nicht einfach sagen, dass er auf deinem Finger landen soll. Du musst den Vogel dazu bringen, auf deinem Finger landen zu wollen, wenn das für dich Sinn ergibt.«
Kristen nickte. Theoretisch ergab das natürlich Sinn. »Also ist es keine Bewusstseinskontrolle, sondern Emotionskontrolle.«
Stonequest stimmte zu. »Ja … na ja, irgendwie schon. Du kontrollierst nicht wirklich etwas, sondern schubst jemanden nur in die eine oder andere Richtung. Es ist einfacher, wenn du es selbst versuchst.«
Er wartete, während sie sich auf den Vogel konzentrierte. Auf den Rotkardinal? Sie versuchte, ihren Finger wie einen großen Barsch auf ihn wirken zu lassen. Da dies keinerlei Wirkung zeigte, sollte er vor Stonequest erschrecken. Schließlich versuchte sie etwas, das er bereits getan hatte, nämlich es so aussehen zu lassen, als wäre sie ein Monster.
»Du kannst es versuchen, wann immer du bereit bist«, ermunterte Stonequest.
»Ich versuche es bereits!«
»Oh. Entschuldigung. Normalerweise macht der Vogel etwas.
Bist du wirklich sicher, dass du es versuchst?«
»Ja!« Sie konzentrierte sich stärker auf den Vogel und wollte, dass er sich glücklich, traurig und entsetzt fühlt – alles.
Er zwitscherte einmal und legte seinen dummen kleinen roten Kopf zur Seite.
»Die meisten Drachen fangen damit an, sie einfach zu erschrecken. Stups ihn an als wärst du ein Falke.«
Wie eine Betrügerin versuchte sie es mit einem Stupser und er zirpte einfach süß.
»Hör zu, das ergibt für mich keinen Sinn.« Sie rieb sich über das Gesicht. »Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht weiß, wie man den Verstand anderer Kreaturen kontrollieren kann.«
»Emotionen.«
»Wie auch immer. Ist es nicht Machtmissbrauch, die Kontrolle über das zu übernehmen, was im Kopf eines anderen Wesens vor sich geht?«
»Die Aura zu benutzen, kann Machtmissbrauch sein. Im Laufe der Geschichte haben viele sie benutzt, um die Willensschwachen zu unterwerfen«, erläuterte Stonequest.
»Also ist es schlimm.«
»Nicht unbedingt«, konterte er. »Sie ist ein Werkzeug, wie ein Stift oder ein Hammer oder eine Pistole. Alle Werkzeuge können entweder für schreckliche Zwecke oder zur Verbesserung unserer Existenz verwendet werden. Die Art und Weise, wie etwas benutzt wird, bestimmt die Ethik.«
»Okay … aber ist es nicht weitaus schlimmer, die Gefühle eines anderen kontrollieren zu wollen, als all diese Dinge?«
»Ich würde argumentieren, dass Handfeuerwaffen schlimmer sind als unsere Aura. Selbst in den Händen von Polizisten töten sie oft. Unsere Auren tun das nicht. Aber Tatsache ist, dass sie eine Fähigkeit ist, die Drachen besitzen. Sie ist für uns so wichtig wie Gift für eine Spinne. Wir benutzen sie seit Tausenden von Jahren und werden sie auch weiterhin anwenden. Ich verstehe, dass du dich dabei unwohl fühlst und ich denke, dass es aus menschlicher Perspektive gut wäre, wenn mehr Drachen darüber nachdenken würden, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sie ein Werkzeug ist, das du nichts verwenden kannst, wenn du es ignorierst. Es könnte sogar der entscheidende Faktor gegen den Todesengel sein.«
»Du glaubst also, der Scharfschütze ist ein Mensch?«
Er nickte. »So ist es. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Drache eine solche Waffe beherrscht. Sie ist ein menschliches Werkzeug, nicht wirklich unseres.«
»Aber glaubst du, ich kann erlernen meine Aura zu nutzen?«
»Du bist kein Mensch.«
Sie zog eine Augenbraue hoch.
Stonequest kicherte. »Darum wollte ich, dass du herkommst, um zu trainieren. Deine Perspektive ist so interessant. Jetzt komm schon, lass den Vogel auf deinem Finger landen, bevor der große, böse Drache ihn noch ausnutzt.«
Kristen nickte. Auch wenn ihr diese Idee noch nicht ganz geheuer war, wenn sie ihre Aura beherrschen würde, konnte sie andere Drachen wenigstens davon abhalten ihre zu benutzen.
Wieder einmal konzentrierte sie sich auf den Kardinal, der auf seinem Finger saß. Er hatte gesagt, es würde funktionieren, wenn man seine Emotionen anstupsen würde, also versuchte sie es. Sei glücklich, kleines Vögelchen. Sei so froh, dass du auf meinem Finger landen willst.
Der Vogel zwitscherte freudig.
Vielleicht war es an der Zeit für einen anderen Ansatz. Sie versuchte, den emotionalen Zustand des Vogels zu erspüren. Nach einer Minute Sondieren mit einem inneren Bewusstsein, von dem sie nicht einmal wusste, dass sie es besaß, spürte sie ein klein wenig Gefühl. Das Wenige schien Zufriedenheit zu sein, weiter nichts. Wenn sie die Emotionen deuten sollte, würde sie meinen, dass Stonequest absolut vertrauenswürdig sei.
Okay, also war sie näher dran.
Sie versuchte, dieses Gefühl der Zufriedenheit auf sich selbst auszudehnen und der Vogel wandte sich ihr zu. Er hob sein Köpfchen und flog auf. Sie fluchte leise, aber sie versuchte den Vogel zu beruhigen und sich wie eine Verbündete darzustellen, jemand, der ihn beschützen würde.
Zu ihrer Freude umkreiste er sie einmal bevor er auf ihrem Finger landete.
»Oh, wow!« Für einen Moment verschwanden ihre Vorbehalte völlig aus ihrem Gedächtnis. Sie hatte tatsächlich mit einer anderen Spezies kommuniziert. Das war unglaublich!
Dann kackte der Vogel auf ihre Hand. »Ahh!« Sie ließ ihre Hand sinken, verlor die Aura und der Vogel flog weg, als sie die Kacke an ihrer Trainingskleidung abwischte.
»Warst du das etwa?«
»Wenn du deine Aura voll beherrschen würdest, wüsstest du die Antwort auf diese Frage bereits.«
Kristen bemühte sich, nicht mit den Augen zu rollen. Er klang ein bisschen zu mystisch für ihren Geschmack.
Dann grinste Stonequest plötzlich. »Aber genug davon für den Moment. Lass uns an die Arbeit gehen.«