Kapitel 12
N ach einem üppigen Abendessen, einer ruhigen Nacht und einem ausgiebigen Frühstück befanden sich Kristen und Stonequest wieder in der sandigen Trainingsarena. Sie hatten den Vormittag mit Meditation verbracht, aber obwohl sie den Vorgang genossen hatte, war ihr Mentor nicht unbedingt beeindruckt.
»Ich werde dich angreifen, verteidige dich.« Er zog sein Hemd aus und enthüllte ein Sixpack, das wirklich aus Marmor gemeißelt zu sein schien.
»Mensch oder Drache?«
»Ist das die Frage, die du all deinen Feinden stellen willst?«
»Nein, natürlich nicht …«
Ihr Protest erstarb, als er den Angriff startete. Seine Fäuste trafen sie im Bauch, katapultierten sie weg und warfen sie in den Sand.
Sie kam von selbst wieder auf die Beine, dankbar dafür, dass sie die Aktivierung ihrer Stahlhaut so oft geübt hatte.
Bevor sie sich auch nur abstauben konnte, war er wieder an ihr dran. Diesmal fegte er ihr die Beine weg und stieß ihr in dem Moment, bevor sie fiel, den Ellbogen in die Brust.
Die Landung war hart und Kristen schnappte nach Luft. Die Stahlhaut schützte sie vor punktuellen Verletzungen, aber die Luft wurde ihr trotzdem aus der Lunge geprügelt.
»Gibst du mir eine Minute?«, flehte sie.
Als Antwort trat er sie in ihren Stahlbauch und sie überschlug sich im Sand.
Na gut. Es reichte jetzt. Nun war sie sauer.
Sie sprang auf und rannte vorwärts, um eine Menge Schläge und Tritte auf ihren Gegner prasseln zu lassen. Er blockte sie ab und zuckte bei den Schlägen kaum zusammen. Sie konnte es wegen ihres Stahlschutzes nicht wirklich sagen, aber es schien, als wäre seine Haut gesprenkelter als vorher. Vielleicht konnte er seine menschliche Gestalt in Stein verwandeln, so wie sie in Stahl?
Es kostete sie zu viel Zeit, über alles Mögliche nachzudenken, statt darüber wie sie ihn verprügeln konnte. Stonequest schlug wieder zu und erwischte sie mit einem Karateschlag im Nacken, dass sie umfiel.
Kristen rieb sich den Nacken. »Das hätte mich töten können.«
»Wir stehen dem Todesengel gegenüber. Es wird Zeit, sich entsprechend zu verhalten.«
»Was ist dein verdammtes Problem?«
»Mein Problem ist, dass du über eine riesige Machtreserve verfügst und dich weigerst, darauf zurückzugreifen.« Er starrte sie an. »Ich spüre, dass du dich zurückhältst.«
»Ich versuche, es nicht zu tun.«
»Genug gejammert.« Er warf sich in einen fliegenden Tritt. Für einen normalen Menschen wäre das ein unmöglicher Schritt gewesen, aber Drachen in Menschengestalt waren eben bei Weitem nicht normal. Trotzdem hatte Kristen mehr als genug Kung-Fu-Filme gesehen. Sie griff sein Bein und schleuderte ihn von sich weg.
Die Verwandlung in den Drachen begann, bevor er überhaupt gelandet war. Die Wolke aus Staub und Steinsplittern löste sich in einen Drachen mit einer Haut aus gesprenkeltem Marmor auf.
Sie versuchte auszublenden, wann sie das letzte Mal in ihrer menschlichen Gestalt gegen einen Drachen gekämpft hatte – das war keine leichte Sache gewesen. Ihr Kampf gegen Shadowstorm hatte in einer Arena genau wie dieser stattgefunden. Er hätte sie getötet, wenn ihre Freunde nicht gekommen wären, aber keiner von ihnen konnte ihr jetzt helfen.
»Das ist nicht fair.«
»Sag das dem Todesengel.« Mit einem Flügelschlag stieß Stonequest sich vorwärts und hielt sie mit einer Kralle fest, die so groß war wie ihre Brust. Sie kämpfte darum, seinen Griff zu brechen, aber sie konnte es nicht und er drückte sie in den Sand, als ob er sie wie eine Zigarettenkippe zermalmen wollte.
»Kämpfe gegen mich, Drache!«, brüllte er.
»Fick … dich!« Kristen spuckte Sand und schaffte es, aus seinem Griff zu rutschen.
Sie drehte sich um und wollte losrennen, um außer Reichweite zu gelangen. Sie kam drei Schritte weit, bis sein Schwanz um sie herum peitschte und sie in den Rücken schlug. Noch einmal rutschte sie hilflos durch den Sand, bevor sie schließlich liegen blieb und wieder aufstehen wollte.
Stonequest war schon wieder da. Er riss sie in seine Vorderkrallen, flog etwa fünfzehn Meter in die Luft und ließ sie fallen.
Die Luft rauschte an ihr vorbei während sie fiel. Jetzt war es an der Zeit sich zu verwandeln. Das wusste sie haargenau, aber trotzdem tat sie es nicht. Stattdessen stellte sie sicher, dass ihre Stahlhaut aktiviert war.
Beim Aufprall spritzte Sand um sie herum und ihre Muskeln schrien aus Protest.
»Hör auf«, flehte sie abermals.
Er ignorierte es, legte seine Flügel an und stürzte auf sie zu.
Der Drache war so groß, dass sie nicht einmal aus seinem Schatten herausrollen konnte, bevor er mit der Kraft eines Sattelschleppers in sie hineinraste, die sich in einer Faust von der Größe einer Kanonenkugel konzentrierte.
Sie wurde für eine halbe Sekunde ohnmächtig.
Als ihr Gehirn wieder zu arbeiten begann, befand sie sich in seinen Krallen. Verglichen mit ihm war sie nur eine Puppe. Er schüttelte sie heftig.
»Beschützt du so deine Freunde?«, brüllte Stonequest und stieß ihren Kopf in den Sand. »Rettest du so deine Familie?« Er schlug sie mit der anderen Faust. »Willst du so sterben?«
Er schleuderte sie wie ausrangierten Müll, der nicht mehr brauchbar war, durch die Gegend. Sie rutschte durch den Sand und versuchte, ihre Hände und Knie unter sich zu bekommen. Selbst das war ein Kampf und ihre Tränen begannen zu fließen. Sie hatte ihm vertraut und jetzt wollte er sie töten.
»Was ist dein verdammtes Problem?«, schrie sie und zwang sich auf die Beine.
Kristen schaute über die Arena und sah durch den Tränenschleier, dass Stonequest wieder menschliche Gestalt angenommen hatte. Er lief zu ihr, legte einen Arm um ihre Schulter und half ihr auf die Beine. Sie zuckte bei seiner Berührung zusammen.
»Was zum Teufel soll das?«
»Kristen, es tut mir leid. Wirklich.«
»Schwachsinn!«
»Ich hätte es vorher erklären sollen, aber ich hatte Angst, es würde nicht funktionieren, wenn ich es täte. Offensichtlich hat es das so auch nicht.«
»Angst, dass was nicht funktioniert?«, schluchzte sie.
»Das erste Mal hast du deine Kräfte aktiviert, weil jemand eine Rakete auf dich abgefeuert hat. In einem Moment der großen Krise hat dein Körper dich instinktiv gerettet. Ich … ich hatte gehofft, deine Verwandlung brutal erzwingen zu können, schätze ich.«
Er führte sie zu einer Bank unter einem Pavillon. Aus dem Nichts erschien ein Diener mit einem Krug mit kaltem Wasser.
»Diese Art von Training … ist unmenschlich«, sagte sie und kämpfte darum, die Wut aus ihrer Stimme herauszuhalten. Im Ergebnis klang sie einfach nur ängstlich und das hasste sie noch mehr. Ihr wäre lieber, Stonequest wüsste, wie sauer sie war.
Dennoch zuckte er bei diesem Wort zusammen. Dass er es als Beleidigung empfand, als unmenschlich bezeichnet zu werden, war ein kleiner Trost für sie. »Ich sehe es ein und es tut mir leid. Es ist nur – na ja, du wirst gejagt und ich will nicht, dass der Todesengel gewinnt.«
»Dein Plan war also, mich nur fast umzubringen?«
»Ich werde es nicht wieder tun. Ich dachte nur, dass du dich unter ausreichend Druck transformieren würdest.«
»Vielleicht habe ich diese Art von Macht noch nicht.«
Stonequest schüttelte den Kopf. »Du hast mehr als genug Macht.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Deine Aura. Jeder, der das Gelände der Zuflucht betritt, kann an deiner Aura erkennen, dass du in der Lage sein müsstest, dich zu verwandeln. Ehrlich gesagt bin ich überzeugt, dass das einer der Gründe ist, warum dich so viele Drachen so kühl behandeln. Du hast mehr rohe Kraft in dir als die meisten von ihnen und doch weigerst du dich, dich zu verwandeln.«
»Ich weigere mich nicht«, protestierte Kristen.
Er seufzte. »So meine ich das nicht. Aber mit der Kraft, die ich bei dir spüre, sollte die Transformation nicht schwer sein. Wenn überhaupt, dann sollte sie natürlich ablaufen. Unsere geflügelte, geschuppte Form ist schließlich unsere wahre Form.«
»Vielleicht für dich.« Sie schaute von ihm weg hinaus in die Landschaft, die so offensichtlich für Menschen zum Spazierengehen bestimmt war. Obwohl der Winter immer näher rückte, war es dort noch warm, die Blumen blühten noch. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass dieser Ort überhaupt nicht für Menschen geeignet war. Er war unnatürlich, es herrschten andere Gesetze als bei den Azaleenbüschen ihrer Mutter.
»Ich denke, dass das vielleicht das Problem sein könnte. Du hast immer noch nicht akzeptiert, dass du ein Drache bist.«
»Doch, das habe ich! Ich fange mir Kugeln für mein Team ein. Ich nutze meine Geschwindigkeit und Kraft, um Verbrecher aufzuhalten.«
»Aber da geht es um menschliche Angelegenheiten und menschliche Kampfstrategien.«
»Was ist denn daran falsch?«
»Du bist kein Mensch«, erwiderte Stonequest. »Du bist etwas viel Mächtigeres. Du klammerst dich an deine menschliche Form, vergrößerst sie, verstärkst sie, aber legst sie nicht beiseite, wenn es nötig wäre. Ich glaube, du kannst die Transformation unabsichtlich verdrängen. Du hast eine geistige Blockade, die dich in diesem Körper gefangen und deine Kräfte und dein wahres Wesen zurückhält.«
Kristen stand auf und wirbelte herum, ihre blauen Flecken waren vergessen, während ihre Wut die Regie übernahm. »Hörst du dir überhaupt zu? Du klingst wie er, wie Shadowstorm! Du denkst, in meinem menschlichen Körper zu sein bedeutet, ich bin gefangen? Dass diese Form von Natur aus schwächer ist als du?«
Er brauchte nicht zu antworten. Sie konnte es von seinem Gesicht ablesen. Für ihn waren Menschen schwächer als Drachen und sie hasste den Teil von sich, der wusste, dass er recht hatte – und dass so viel von dem, was er sagte, mit ihren eigenen Gedanken zu diesem Thema übereinstimmte.
»Das ist das ganze verdammte Problem mit den Drachen. Ihr denkt, ihr seid besser als Menschen.«
»Wir sind besser als die Menschen«, antwortete er doch tatsächlich. »Wir sind stärker, schneller und leben länger! Das bedeutet, dass wir die Dinge viel eingehender studieren können.«
»Aber das heißt noch lange nicht, dass ihr besser seid. Du bist mächtiger, sicher, aber das bedeutet nicht, dass du besser als die Menschheit bist. Es war unsere schwache Nachtsicht, die uns dazu getrieben hat, die Elektrizität zu beherrschen, die diese Villa beleuchtet. Es war unsere Unfähigkeit zu fliegen, die uns zur Erfindung des Flugzeugs geführt hat. Wir leben vielleicht nicht so lange wie ihr, aber wir leben wenigstens. Wir sind auf eine besondere Art Teil dieser Welt, ihr nicht. Wir haben viel mehr mit den Tieren gemeinsam als ihr.«
»Kannst du dich überhaupt hören, Kristen? Das ganze Gerede von uns und dir klingt, als wärst du gar kein Drache, aber du bist einer. Du bist einer von uns. Du wirst deine Familie um Jahrhunderte überleben und du kannst schon jetzt selbst den stärksten Menschen in jedem Kräftemessen vernichten. Ich weiß, dass du jung bist, aber mit der Zeit wirst du erkennen, dass die Menschen die Welt nicht so vollständig verstehen können wie du. Na gut, du zuckst mit den Achseln. Wie kannst du dich noch mit diesen Kreaturen identifizieren, die den Krieg und die Atombombe erfunden haben und ihren eigenen, die Umwelt verschmutzenden Dreck ignorieren?«
Kristen zog eine Grimasse, als ob sie geschlagen worden wäre. »Nur weil Menschen nicht perfekt sind, heißt das nicht, dass man sie kontrollieren muss.«
»Ja! Das ist es, Kristen. So musst du es sehen! Die Menschen sind ein ›sie‹. Du bist anders als sie. Du bist ein Drache. Erkenne deine Macht und hilf uns, die kaputten Systeme zu verändern. Aber zuerst musst du deine Macht erkennen.«
Sie hatte genug gehört und ihr eigener innerer Konflikt wütete mit der gleichen Heftigkeit wie die Debatte auf dem Sand. Wütend auf ihn und wütend auf sich selbst, drehte sie ihm den Rücken zu und marschierte über das Gelände. Sie ging in ihr Zimmer, zog ihre normale menschliche Kleidung an und holte ihr menschliches Telefon heraus.
Glücklicherweise zeigte ihre Mitfahrgelegenheit-App, dass sich jemand in der Nähe befand. Sie bestellte die Mitfahrgelegenheit und wartete draußen.
Stonequest fand sie dort, als der Wagen die lange Einfahrt zum Herrenhaus heraufkam. »Kristen, du musst das nicht tun. Es wird Stunden dauern, bis du wieder in der Stadt bist.«
»Früher hätten die Menschen Tage gebraucht, um diese Entfernung zu überwinden. Ich sehe ein paar Stunden als einen Triumph der Menschheit, nicht als Unannehmlichkeit.«
»Es tut mir leid, dass ich so hart mit dir ins Gericht gegangen bin, aber fahr nicht weg. Wir müssen weiter trainieren.«
»In Detroit versucht schon jemand, mich umzubringen. Wenn ich dort bin, kann ich wenigstens die Menschen beschützen, die ich liebe. Es tut mir leid, wenn das für dich wie eine Belastung aussieht.«
»Ich will, dass du dich verwandelst, damit du sie beschützen kannst. Siehst du das denn nicht?«
»Doch, ich sehe es«, erwiderte Kristen. »Ich bin nicht mal mehr richtig wütend auf dich. Aber ich muss das auf meine Art machen.«
»Auch wenn dein Weg dich umbringt?«
»Hör zu, ich muss jetzt los. Es ist unhöflich, Menschen warten zu lassen.« Sie stieg ins Auto, fragte den Fahrer, ob er sie mit in die Stadt nehmen würde und sie fuhren los.
Glücklicherweise erkannte der Mann ihr Bedürfnis nach Ruhe. Sie konnte auf der Fahrt nach Hause ein Nickerchen machen und ihren Körper von den Schlägen, die sie erhalten hatte, heilen lassen. Sie hatte gemeint, was sie zu Stonequest gesagt hatte. Sein Herz war vielleicht am richtigen Platz, aber seine Methoden? Sie waren einfach scheiße.
Sie war ein Drache und wusste es, tief in ihrem Inneren. Aber sie war auch ein Mensch. Er hatte nicht Unrecht, dass sie ihre Kraft finden musste. Aber ihr Bauchgefühl sagte überdeutlich, dass sie das auf ihre Art bewältigen musste.