Kapitel 14
D
ie Fahrt mit dem Auto war lang und obwohl Kristen den Fahrer hatte sich ihrem Ziel nähern lassen, so hatte sie doch noch ein paar Blocks zu laufen. Sie wollte nicht, dass jemand die Adresse des sicheren Aufenthaltsortes ihrer Eltern in seinem Telefon abgespeichert hatte. Sie gab reichlich Trinkgeld – schließlich war es eine stundenlange Fahrt – verließ das Fahrzeug und orientierte sich.
Ihre Eltern wohnten in der Hochzeits-Suite in einem guten Hotel. Sie standen unter Beobachtung und konnten nicht einfach kommen und gehen. Sie ging davon aus, dass es ein ziemlich sicherer Ort sein musste. Die Kollegen der Kriminalpolizei hatten zunächst ein heruntergekommenes Hotel empfohlen. Es waren sogar Undercover-Polizisten dort stationiert, aber ihre Mutter hatte sich gegen die Prostituierten auf der Straße gesträubt, sodass sie in ein netteres Etablissement gebracht wurden. Kristen war sich sicher, dass ihre Eltern nichts gegen das jetzige Hotel hatten.
Während sie sich durch die Straßen bewegte und immer näher an das Hotel herankam, beobachtete sie die ganze Zeit über alles ganz genau mit ihrer Drachen-Nachtsicht. Sie musste sicher sein, dass ihr niemand folgte. Ihre Familie war schon einmal ihretwegen in Gefahr geraten und das würde sie nicht noch einmal zulassen.
Ein Teil von ihr wunderte sich über die Naivität ihrer Gedanken. Würden ihre Eltern jemals in ihr ruhiges Vorstadtleben zurückkehren können? Sie hatten bereits mit Scharen von Reportern, Senderfahrzeugen und jetzt sogar mit Entführern zu tun. Vielleicht war es kindisch zu glauben, dass sie jemals wieder sicher sein könnten.
Es waren düstere Gedanken und sie ließen sie ein wenig mutlos werden, als sie der Rezeptionistin ihren Ausweis zeigte.
Die Frau nickte höflich und sagte ihr, sie solle warten, aber anstatt ihr die Zimmernummer einfach zu nennen, kamen zwei Polizisten. Einige Leute würden an der Rezeption vielleicht besorgt reagieren, aber sie war froh, dass die Polizisten ihre Arbeit ernst nahmen. Sie erkannte einen von ihnen und winkte ihm zu. Er nickte und brachte sie zum Aufzug.
Der Beamte benutzte einen Schlüssel für die Fahrt zu der Etage, auf der sich ihre Eltern befanden. Ohne Schlüssel wäre der Zutritt also nicht möglich.
Mit der beiläufigen Frage »Hat sonst noch jemand nach meinen Eltern gefragt?« stellte sie den Polizisten auf die Probe, denn wenn jemand gefragt hätte, würde das bedeuten, dass auch dieser Ort nicht sicher wäre.
»Nein, Ma’am.«
Sie fuhren hinauf und stiegen aus, direkt im Blickfeld von zwei weiteren Männer, die vor der Suite Wache hielten. Sie zeigte auch ihnen den Ausweis, da sie nicht persönlich bekannt war und durfte dann eintreten.
Im Zimmer fand sie, was sie erwartet hatte. Ihre Mutter und ihr Bruder schliefen – Mama im Bett und Brian vor dem Fernseher, den jemand schon längst stumm geschaltet hatte.
Ihr Vater war jedoch wach und unterhielt sich mit den beiden Polizisten im Raum.
»Krissy!«, freute sich Frank Hall, als sie hereinkam. »Ich habe mich schon gefragt, ob du deine arme Familie besuchen würdest. Weißt du, dass wir schon alles gegessen haben, was auf der Zimmerservice-Menükarte stand? Johnson hier sagt, er holt mir nicht mal eine Pizza von ›Buddy’s‹. Kannst du den Scheiß glauben?«
Johnson hielt seine Hände hoch, um gegen die Anschuldigung zu protestieren. Der andere Polizist lachte und Frank lächelte ebenfalls.
»Du hast nicht … das ist nicht ernsthaft Bier, oder?«
Sie zog den Six-Pack hinter ihrem Rücken hervor, froh, dass sie auf ihrem Weg an einem Schnapsladen vorbeigekommen war. Der Ausgang der Sache war mehr als unsicher, hatte sie sich gesagt und sie wollte einfach nur mit ihrem Vater etwas trinken.
»Bell’s Oberon Ale.«
Einer der Polizisten grinste, also öffnete sie vier Flaschen und verteilte sie.
»Wir dürfen nicht«, winkte Johnson ab.
»Der Stahldrache ist hier. Alles ist gut«, verkündete Frank und nahm einen Schluck. »Ach, verdammt, Krissy, du bringst wirklich dieses schicke aromatisierte Weizenbier-Zeug?«
»Dad, das ist gut.«
»Nicht so gut wie eine Dose kaltes PBR.«
»Ich bin sicher, du kannst beim Zimmerservice Bier bestellen.«
»Ja, für sechs Dollar. Sechs, Dollar, Kristen. Für ein gottverdammtes PBR.« Er schüttelte angewidert den Kopf und schien mehr über den teuren Zimmerservice entsetzt zu sein als über die Tatsache, dass jemand aktiv hinter seiner Tochter her war. Aber das war eben Frank Hall.
»Wenn du es nicht magst, trink ich es.«
Er winkte ab. »Ich komme schon klar, Krissy. Jetzt sag uns, warum in aller Welt hält der Stahldrache ihren alten Herrn nachts wach?«
»Ich halte dich wach? Es sieht so aus, als wäre hier alles gut.«
Frank lachte, aber sie hörte den Unterton in seiner Stimme. »Da draußen ist ein verdammter Killer, der dich jagt, Krissy. Ich bin sicher, dass alles gut ausgehen wird. Deine Mutter hat eine Scheißangst, aber ich weiß es besser. Glaubst du, ich kann einfach die Decke hochziehen und schlafen, obwohl wir bewaffnete Wachen haben, die uns beim Furzen zusehen?«
Kristen lachte nicht über diesen Witz. Tatsächlich musste sie sich fürchterlich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Ihr Vater konnte sie aber wie ein Buch lesen. Er stellte sein Bier ab und signalisierte den beiden Polizisten, sie sollten Abstand halten. Die beiden zogen sich zum Eingang zurück, damit Vater und Tochter reden konnten.
»Was ist los, Kristen?«, sagte er, stand schnell auf und machte ihr eine Tasse Kaffee.
Kristen sah erleichtert, dass er ihr Kaffee machte, obwohl das Bier bereits geöffnet war. Ihre Mutter hatte es für ihn seit sie sich erinnern konnte zur Regel gemacht, unter Stress keinen Alkohol zu trinken. Frank – der Polizist – hatte gesehen, was Alkohol bei Menschen anrichten konnte, die gestresst waren und daher die Wünsche seiner Frau respektiert. Es war nett, dass er sich daran hielt, obwohl sie nicht bei ihnen war.
Kristen nahm einen Schluck Kaffee und schaffte es, keine Grimasse zu ziehen. Er war schrecklich. Ihr Vater hatte nie gelernt, wie viel Pulver man benutzen musste.
»Geht es um den Attentäter?«, fragte er.
Kristen lachte schmerzhaft auf. »Ob du es glaubst oder nicht, nein, nicht wirklich.«
Er musste grinsen. »Nun, was könnte dich mehr nervös machen als ein Super-Scharfschütze?«
»Okay, ein bisschen, ganz sicher. Ich habe mit Stonequest trainiert, um den Todesengel zu besiegen.«
»Den Todesengel?«
»Das ist der Codename des Attentäters.«
»Wie bei einem Feuerwehrmann mit dem Spitznamen ›Schlauch‹?«
»Dad!« Sie blickte ihn an und er grinste nur. Frank Hall war ein Mann, der daran glaubte, mit Humor jede Situation zu entschärfen. Sie versuchte ernst zu bleiben, aber schließlich musste sie doch lächeln. In Zeiten wie diesen konnte sie einfach nicht anders.
»Ach komm schon, Süße. Ich will nur sichergehen, dass mein kleines Mädchen noch da drin ist.«
Sie schaute nach unten und bemerkte, dass sie sich in Stahl verwandelt hatte, völlig unabsichtlich. »Siehst du, genau das ist es. Stonequest versucht mich zu trainieren, damit ich mehr Kontrolle über meine Kräfte erhalte. Ich will mehr Kontrolle haben. Ich denke wirklich, dass ich das brauche.«
»Also, wo liegt das Problem? Du hast Super-Geschwindigkeit und so. Na und? Dein Bruder hat ein extrem freches Mundwerk und schämt sich deshalb kein bisschen.«
»Um diese Kräfte geht es nicht, Dad.«
»Was dann? Hast du Angst, dass du dich wie der Rest dieser Deppen anziehen musst? Weißt du, ich habe neulich einen Drachen mit Krawatte gesehen. Ich schwöre.«
Kristen schnaubte. Überlass es Dad, die großen Themen zu betrachten. »Nun, ja, das ist es eigentlich auch schon. Ich habe mich noch nicht verwandelt.«
»Sicher hast du das. Du bist jetzt aus Stahl.«
Sie ließ ihre Haut wieder zu Fleisch werden und gab zu, dass es passiert war, weil sie gestresst war. »Aber ich habe mich bisher nicht in einen Drachen verwandelt. Ich spüre schon, wie ich mich verändere. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass ich verletzt werde, wie normale Leute. Ich habe eine Aura, die die Gefühle anderer Menschen beeinflussen kann …«
»Mach das mal bei deiner Mutter …«
»Dad!«
»Tut mir leid, Süße. Nur zu.«
»Ich habe all diese Kräfte, die ich nie erwartet hätte und sie verändern mich bereits. Ich gehe Risiken ein, die ich ohne nicht eingegangen wäre und tue Dinge, die mir vorher Angst gemacht hätten, aber jetzt … Nun, es ist einfach eine Lebensweise. Außerdem gibt es dieses Gefühl von … von Loyalität.«
»Loyalität?« Er klang fast komisch ungläubig.
»Ja. Irgendwie? Das erklärt nicht annähernd alles, ehrlich gesagt. Die Vorstellung, dass du oder Mom oder Brian verletzt werden, gibt mir das Gefühl …« Sie grunzte, unfähig, sich auszudrücken. »Ich kann das einfach nicht zulassen. Bei meinem Team ist es dasselbe. Keiner von euch darf meinetwegen verletzt werden. Ich bin jetzt für euch verantwortlich. Ich habe mich schon so sehr verändert. Ich habe Angst, dass ich mich verliere, wenn ich mich tatsächlich in einen Drachen verwandle. Ich habe Angst, dass ich mich von dem Gefühl, ein Drache zu sein, beherrschen lasse und vergesse, wer ich bin. Ich habe Angst, dass ich aufgeben muss, wer ich bin – dass die Kristen Hall, die du kennst, verschwindet, wenn ich mich ändere.«
Frank nahm einen Schluck Kaffee und studierte sie einen Moment lang. Er stellte die Tasse ab und nahm ihre Hand. »Krissy. Ich weiß nicht viel über Drachen. Das weißt du natürlich. Selbst als ich Polizist war, war ich nicht beim SWAT oder so. Ich weiß mehr über Parkuhren als über dieses Drachen-Komitee …«
»Den Drachenrat«, korrigierte sie ihn.
»Wie auch immer. Ich will damit sagen, dass ich sie nicht kenne, aber ich kenne dich. Du bist mein kleines Baby und ich kenne dich vielleicht besser, als du dich selbst.«
»Du wusstest nicht, dass ich ein Drache bin.«
»Doch, schon.«
»Nein, hast du nicht.«
»Hörst du mal für fünf Minuten auf, deiner Mutter nachzueifern und lässt mich ausreden? «
Sie musste lächeln. Marty ließ Frank auch nie einen Satz beenden.
Ihr Vater nahm noch einen Schluck Kaffee. »Ich mag keine Drachen kennen, aber ich habe geahnt, dass du einer bist. Hör dir die Dinge an, die du beschreibst. Risiken eingehen? Kristen, du hast jeden verdammten Sport ausprobiert, den es gibt. Deine ganze verdammte Kindheit war ein Risiko nach dem anderen. Und Loyalität? Du hast einmal ein Kind verprügelt, weil es sagte, Mario sei besser als Donkey King und damit deinen Bruder zum Weinen gebracht hatte.«
»Donkey Kong.«
»Lass mich ausreden.«
Kristen nickte schicksalsergeben und nippte an ihrem Kaffee.
»Der Punkt ist, wenn du ein Drache bist, dann warst du schon immer einer. Wenn andere Drachen mutig, loyal und stur sind, dann ergibt es Sinn, dass du es auch bist.«
»Ich habe nichts von stur gesagt.«
»Nun, vielleicht etwas, das du von deinem alten Herrn bekommen hast. Außerdem hast du den eisernen Willen deiner Mutter. Ich weiß, das ist alles verrückt. Ich bin nur dein fetter, alter Vater, der dir bei all diesen tollen Sachen zusieht. Es ist verrückt, aber ich habe immer noch meinen stattlichen Bauch. Für dich muss es … na ja …« Frank schüttelte den Kopf, sprachlos für einen seltenen Moment. »Aber mal ehrlich, als die Nachricht kam, dass du ein Drache bist … Mich hat es nicht überrascht.«
»Ach, komm schon.«
»Wirklich, Kristen, ich war es nicht. Und weißt du was, du warst es auch nicht.«
»Doch, das war ich. Ich war schockiert.«
Er schüttelte fest den Kopf. »Vielleicht warst du überrascht, wie gesagt vielleicht. Aber was hast du getan, als du dich verwandelt hast? Du bist in Aktion getreten. Du bist Risiken eingegangen, um die zu beschützen, die du liebst. Du hast gemacht, was du schon immer getan hast, nur eben mit mehr Macht als zuvor. Die Wahrheit ist, du bist schon immer ein Drache gewesen.«
»Nun, ja. So viel ist irgendwie offensichtlich.«
»Ich meine nicht nur in deiner DNA, Krissy. Ich meine in deinem Herzen. Du machst dir Sorgen, dass dich das alles verändert, aber ich sehe, dass es dich nur noch mehr zu dem gemacht hat, was du bereits warst.«
»Ich weiß nicht, Dad …«
»Nun, ich schon. Du warst schon immer etwas Besonderes. Deine Mutter und ich wussten immer, dass du unsere kühnsten Träume übertreffen würdest.«
»Das sagen alle Eltern über ihre Kinder.«
Frank lachte und zeigte mit einem Daumen zu Brian, der auf der Couch schlief und schnarchte. »Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn er einen verdammten Job kriegen würde. Er ist was Besonderes, aber lang nicht so wie du, Kristen. Ich bin sicher, das ist verrückt für dich, aber du kannst nicht zu etwas werden, das du nicht schon immer warst. Du entdeckst einfach einen Teil von dir neu, der schon immer da war.«
Kristen nickte, wischte sich eine Träne ab und stand auf. »Ich sollte gehen, Dad. Ich sollte weiter trainieren.«
»Das ist mein Mädchen!«, sagte er und strahlte. »Aber willst du nicht dieses Bier trinken und die Nacht hier verbringen?«
Sie grinste. »Wollen schon, wirklich. Aber ich kann nicht, nicht bevor ihr in Sicherheit seid.«
»Ich werde deiner Mutter sagen, dass du hier warst. Sie wird sauer sein, weil du sie nicht aufgeweckt hast.«
»Ich weiß.«
»Na gut, dann ist ja alles klar.« Er nahm sie grinsend in den Arm.
Als sie den Raum verließ und mit dem Aufzug nach unten fuhr, fühlte sie sich besser, als wäre ein Schleier gelüftet worden. Sie musste das tun – für ihre Familie und für sich selbst. Stonequest hatte zumindest damit recht. Vielleicht hatte er mit allem, was er in seiner kleinen Rede vorgetragen hatte, recht. Sie musste zu ihrer vollen Drachenstärke kommen, wenn sie ihren Freunden und ihrer Familie überhaupt nützlich sein wollte. Aber das bedeutete nicht, dass sie aufgeben musste, wer sie war. Der einzige Teil von ihr, den sie zurücklassen musste, war der Teil, der an ihren Fähigkeiten zweifelte.
Und jetzt, mit der Unterstützung ihrer Familie konnte sie das endlich tun.