Kapitel 15
D
er Todesengel konnte nicht glauben, welches Glück sie in dieser Nacht haben sollte. Zuerst hatte Shadowstorm durchblicken lassen, dass er mit dem Maskierten in Kontakt stand. Sie hatte geblufft, aber er hatte es bestätigt, bevor er seine Überraschung überspielen konnte. Man wusste nie, wann solche Informationen nützlich sein würden. Nun, zur Krönung des Tages, war der Stahldrache selbst erschienen, um ihre Eltern zu besuchen.
Die Attentäterin hatte angenommen, dass sie sich immer noch in der Drachenzuflucht auf dem Land aufhalten würde – einer der wenigen Orte, an den sie sich nicht wagte – aber scheinbar hatte sich das geändert.
Ihr ursprünglicher Plan war es, auf die Abreise eines Familienmitgliedes zu warten, dieses am Bein zu verletzen und im Krankenhaus auf den Stahldrachen zu warten, aber der Prozess ließ sich vereinfachen.
Sie war in dem Gebäude und besuchte ihre Familie. Wenn sie wegging, würde sie warten, bis der Stahldrache allein auf der Straße wäre, sie mit ihrer gewohnten Effizienz töten und zum nächsten Auftrag übergehen. Es gab dann keinen Grund mehr, sich weiter um die Menschen zu kümmern. Das war auch gut so. Sie hasste den Umgang mit Menschen. Es war peinlich für jemanden mit ihren Talenten, sich mit dem Vieh beschäftigen zu müssen, das in der Drachenwelt zum lästigen Übel gehörte.
Als sie mit ihrem Gewehr auf die Tür zielte, dachte sie eigentlich nur nach. Sie wusste, dass es Attentäter gab, die nicht durch ihr Zielfernrohr zusehen wollten, aber sie fand das lächerlich. Ihre Aufgabe war es zu töten, was bedeutete, dass sie für diesen Moment bereit sein musste. Mit einem Fernglas wäre sie das nicht.
Sie hätte nicht so viel erreicht in ihrer Profession, wenn sie nicht geduldig gewesen wäre. Und sie hatte sehr viel erreicht. Kriege waren wegen ihrer Arbeit vermieden worden.
Drachen zogen normalerweise nicht gegeneinander in den Krieg. Seit Tausenden von Jahren herrschte zwischen ihnen ein mehr oder weniger ziviler Frieden. Stellvertreterkriege wurden immer noch geführt, indem sie die Menschen benutzten, die in ihren Territorien lebten, aber das war etwas völlig anderes als Drachen, die sich gegenseitig umbringen wollten.
Der physische Kampf war für die Drachen der wichtigste Weg, ihre Streitigkeiten zu lösen. Ein Duell der Götter, so musste es den Menschen erscheinen und das war es auch. Drachenkämpfe endeten oft mit dem Tod und deshalb gab es Drachen, die nicht daran teilnehmen wollten.
Die Drachenkräfte waren unterschiedlich. Alle hatten die gleichen Grundfähigkeiten – Flugfähigkeit, erhöhte Geschwindigkeit, Kraft und Aura. Aber ab da variierten ihre Fähigkeiten. Die meisten konnten Feuer speien, aber auch hier gab es Unterschiede. Einige Drachen konnten zum Beispiel Flammen kontrollieren während andere Säure spuckten.
Einige von ihnen fanden sich in Auseinandersetzungen mit Drachen wieder, die über besonders mächtige Fähigkeiten verfügten. Wenn dies geschah, entdeckte der schwächere Drache oft, dass der körperliche Kampf barbarisch und erniedrigend war – ganz zu schweigen von dem todsicheren Weg, die eigene Lebenserwartung zu reduzieren. Wenn sie anfingen so zu denken, kamen Fachleute wie der Todesengel ins Spiel, um diese Streitigkeiten weiter zu bearbeiten.
Das war sie – eine Spezialistin für die Beseitigung von Problemen. Sie stabilisierte die Welt, half denen mit solchen Kräften, die sich nicht in Kampffähigkeiten umsetzen ließen und bereinigte die Drachenfamilie von ihren überheblichen, widerlichen Abkömmlingen.
Sie würde in der Tat für jeden arbeiten, der sie beauftragen würde. Es brauchte eine besondere Art von Drachen, um die Weisheit darin zu erkennen, einen Gegner zu ermorden, anstatt zu jammern und sich dann gegenseitig zu verprügeln. Meistens war die Weisheit des Klienten, sie einzustellen, das einzige was nötig war, aber sie musste zugeben, dass mit diesem Stahldrachen etwas nicht stimmen konnte.
Es war nicht die Besessenheit, menschliche Gesetze zu befolgen. Das Gesetz selbst war ein interessantes Konstrukt und alle Drachen – selbst die des Todes – hatten einen Ehrenkodex, an den sie glaubten. Und es waren auch nicht die ungewöhnlichen Fähigkeiten. Sie hatte sich immer für das Ungewöhnliche interessiert. Was ihre Sensibilität gegenüber dem Ziel beeinträchtigte war, dass sich der Stahldrache selbst als Mensch betrachtete, was eine Beleidigung für alle Drachenarten darstellte.
Der Stahldrache musste von der Herde getrennt, aus dem Pferch gejagt werden und letztendlich vernichtet werden, bevor sie ihre ekelhaften Vorstellungen über die Rechte der Menschheit verbreiten konnte.
Allein der Gedanke daran reichte aus, ihre Aura zum Pulsieren zu bringen. Die hatte sie aber schnell zum Schweigen gebracht. Die Aura war eine Fähigkeit, die sie nur selten benutzte und es sollte nicht dafür ausgereicht haben, dass andere Drachen sie wahrnehmen würden. Aber sie immer wieder zurückzudrängen, bedeutete, dass sie dieses Werkzeug exquisit beherrschte. Es gab nicht viele Drachen, die einen ihrer eigenen Art töten und weder aus Stolz noch aus Schuldgefühlen jemals ihren Herzschlag erhöhen oder ihre Aura ausschalten konnten. Sie war eigentlich sehr zurückhaltend und doch kochte etwas in ihr hoch, das den Wunsch in ihr weckte, diesen Stahldrachen heute Nacht zu töten.
Und dann, als ob die Flammen selbst auf sie herab lächeln würden, bekam der Todesengel seine Chance.
Ihre Zielperson trat aus dem Hotel heraus. Das war ihr Moment. Sie hatte bereits gezielt. Letztes Mal hatte sie das Durchhaltevermögen ihrer Zielperson mit nur einem Schuss in die Schulter getestet. Jetzt, da sie wusste, dass ihre Schuppenkugeln funktionieren würden, gab es keinen Grund für weitere Versuche.
Das war das Geheimnis ihres Erfolges, etwas, das kaum einer wusste. Wenn sie Drachen jagte, fertigte sie spezielle Kugeln mit Fragmenten ihrer eigenen Schuppen. Ähnlich wie eine Drachenkralle oder ein Drachenzahn einem anderen Drachen großen Schaden zufügen würden, taten ihre Schuppenkugeln das, was reines Blei nicht konnte.
Sie töteten Drachen. Zuverlässig.
Es würde keine weiteren Tests mehr geben. Sie zielte auf den Kopf des Stahldrachen und wollte gerade abdrücken, als Kristen sich umdrehte und mit jemandem im Hotel sprach.
Die Attentäterin wartete. Sie könnte diesem Mädchen noch ein paar Momente Leben schenken. Es würde sie nichts kosten, während ein zu frühes Abfeuern den gesamten Angriff möglicherweise ruinieren würde.
Sie bezweifelte, dass die Stahlhaut des Drachen der Kugel, die sie in ihr Gewehr geladen hatte, standhalten konnte. Die Waffe selbst war unglaublich groß und extrem hochkalibrig – eine Spezialanfertigung, mit der die meisten Menschen nicht zurechtkommen würden.
Diese Kugel war sogar noch spezieller als die meisten anderen. Zusätzlich zu den Schuppen war diese Kugel diamantbestückt und die mächtigste, die sie je geschaffen hatte. Sicherlich mächtiger als die, die sie zuerst am Stahldrachen ausprobiert hatte. Diese besondere Kombination aus Waffe und Munition hatte bereits elf Drachen getötet. Sie musste außerordentliche Maßnahmen ergreifen, um einen ihrer eigenen Art zu beseitigen. Mit unglaublichen Heilfähigkeiten, dichten Muskeln und Schuppen, so zäh wie Metall, musste eine Kugel nicht nur den Körper des Drachen durchbohren, sondern auch das Herz oder das Gehirn zerstören können.
Das Gehirn war natürlich die bessere Option.
Es war zwar einfacher, einen Drachen in Menschengestalt zu töten, aber selbst das war keine sichere Sache. Die meisten Drachen verwandelten sich in dem Moment, in dem sie Gefahr spürten und diese Verwandlungen veränderten auch die Lage von Herz und Gehirn.
Der Stahldrache wandte sich wieder der Straße zu. Die Tür zum Hotel schloss sich hinter ihr und sie begann zu laufen.
Der Todesengel konnte ihr Gesicht sehen. Sie sah glücklich aus und hatte völlig vergessen, in welcher Gefahr sie eigentlich seit dem Vorfall im Krankenhaus schwebte. Ihre Beute würde diesen Schuss nicht einmal hören. Wenn das Geräusch sie erreichen würde, hätte der Schuss bereits das Gehirn auf dem Gehweg hinter ihr verteilt.
Die Attentäterin atmete ein und hielt den Atem an, richtete die Waffe ruhig auf das Ziel aus und wollte gerade abdrücken, als sie etwas auf dem Dach hinter sich hörte.
Sie fluchte. Ihr Ziel müsste einen weiteren Augenblick warten. Sie hatte Alarmanlagen, magische und auch andere auf dem Dach platziert, genau wie sie es immer tat. Es waren komplizierte Dinge und sie hätten jeden töten sollen, der sich ihr näherte. Dass das nicht geschehen war, bedeutete, dass die Person da oben eine Bedrohung darstellte.
Obwohl sie den Schuss im Anschlag hatte, nahm sie ihr Auge von der Waffe und verwandelte sich in ihren wahren Körper.
Die Verwandlung einiger Drachen verliefen auffällig in Rauch und Feuer. Andere verschwanden in Wolken aus Staub und Trümmern.
Der Todesengel veränderte sich einfach. In einem Moment war sie eine Frau und im nächsten Moment waren ihre Finger Krallen, ihre Arme waren geschuppt, und Flügel tauchten aus ihrem Rücken auf.
Sie war nicht besonders mächtig in ihrer Drachenform – nicht wie ihr Auftraggeber Shadowstorm, der wirklich ein beeindruckendes Exemplar war – aber sie war mehr als kompetent in ihren Fähigkeiten. Es wäre ein beachtlicher Kampf erforderlich, sie zu besiegen.
Ihre Nachtsicht durchdrang die Dunkelheit auf dem Dach mit Leichtigkeit, aber sie sah keinen Drachen. Sie war konzentriert, aber immer noch war kein feuriger Atem, keine sorgfältig geplanten Blitze zu sehen. Alles, was sie sehen konnte, war ein Mensch.
Und ausgerechnet eine Frau mit einer Handfeuerwaffe. Eines der niedlichen kleinen Dinge, über die sie sich ungern den Kopf zerbrach.
Die Attentäterin lachte über die kleine Waffe, die auf ihre Brust gerichtet war. »Das da kann mir nichts anhaben.«
Selbst in ihrer menschlichen Gestalt würde die Waffe nur wenig Schaden anrichten. Drachenmuskeln waren zäh. Es bräuchte schon etwas Besonderes, sie zu durchbrechen und das Herz zu vernichten. Es einfach nur zu verletzen, würde nicht ausreichen. Ein Drachenherz konnte heilen, wenn es nicht völlig zerstört wurde. In dieser Gestalt, ihrer Drachenform, wäre sie praktisch unverwundbar gegen die meisten Waffen. Eine Pistole war also eine besonders lächerliche Bedrohung.
Seltsam, dass dieser Mensch ihre Alarmanlagen überlebt hatte. War sie vielleicht eine Magierin? Das könnte es erklären.
»Wie bist du hier raufgekommen, kleines Ding? Du hättest Terror spüren müssen, wie du ihn noch nie erlebt hast.« Ganz zu schweigen davon, dass es Löcher in ihrem Körper geben müsste und ihr Fleisch knusprig verbrannt sein sollte.
»Ich fürchte Euch nicht, Bestie.«
Der Todesengel grinste. Bestie? Wirklich? Wer war dieses ungestüme kleine Insekt? Nun, sie würde es früh genug herausfinden. Sie wirkte ihre Aura und benutzte sie wie einen Laser, um den Willen dieses mickrigen Menschen zu brechen. Bald würde der Mensch sie nicht mehr fürchten, sondern ihr gefallen wollen. Sie würde ihr alles sagen, was sie wissen wollte.
»Wer bist du?«
»Nur ein Mensch, der genug hat«, sagte die Frau und feuerte ihre kleine Pistole ab.
Die Attentäterin lachte über den Knall, aber fast augenblicklich änderte sich etwas. Sie schaute nach unten. Die Kugel war in ihre Schuppen eingedrungen und es tat sehr weh. Es war, so dachte sie, wie von einer Drachenkralle durchbohrt zu werden, nur viel schlimmer.
»Wie hast du …«
Der Todesengel bekam die Antwort nie. Der Mensch trat schnell vor und bevor sie noch ein Wort sagen konnte, wurde die Waffe noch dreimal in schneller Folge abgefeuert. Jede Kugel riss ein Loch in ihre Schuppen und jeder Schuss fügte ihr eine Wunde zu. Sie wankte am Rand des Gebäudes, kippte nach hinten und stürzte Richtung Straße.
»Du hättest ihr nie folgen sollen«, sagte die seltsame Menschenfrau.
* * *
Constance Vigil beobachtete den Todesengel, als er vom Dach taumelte. Es war eine Schande, den Drachen so verkommen zu lassen – ähnlich wie einen Bison zu töten und das Fleisch einfach verrotten zu lassen. Sie hätte hunderte von Drachen mit den Kugeln aus der Leiche des Todesengels umbringen können.
Aber das brauchte sie nicht. Sie musste die Attentäterin lediglich davon abhalten, Kristen Hall zu töten – die wahrscheinlich in wenigen Augenblicken hier auftauchen würde. Das erinnerte sie daran, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, aus diesem Gebäude zu verschwinden, bevor der Stahldrache eintraf.
Sie lief einfach weg.
Der verlorene Drache war wirklich der Grund, warum sie diese Attentäterin aufhalten musste. Der Todesengel – Constance war gesagt worden, dass dieser Drache so genannt wurde – hatte Kristen im Visier und das dürfte nicht sein. Sie zu stoppen hatte oberste Priorität.
Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht mehr über den Stahldrachen als jeder andere Magier in ihrem Kreis, aber es gab Geschichten um ihre Existenz und die Ankunft in der gleichen Stadt, in der sie ihre Experimente durchgeführt hatten. Könnte die nun berühmte Kristen Hall eines der Experimente sein, das ihre Magier vorgenommen hatten? Das wäre zwar durchaus möglich, aber wenn das der Fall war, wie war sie dann in die Welt gekommen? Das Mädchen hätte eigentlich mit all den anderen Drachen, die sie erschaffen hatten, eingesperrt werden müssen. Constance musste sich daran erinnern, dass niemand alle Antworten darauf haben würde.
Sie lächelte vor sich hin. Die Zugehörigkeit zu einer geheimen Gesellschaft von Magiern, die das Joch der Macht von den Drachen, die die Welt kontrollierten, nehmen wollte, hatte ihr eine ganz besondere Fähigkeit verliehen. Sie hatte die magische Fähigkeit, die Fallen des Todes zu entschärfen und die praktische Erfahrung, einen Fluchtweg zu planen.
Abseilen brachte sie zurück auf den Boden, nicht auf der Seite des Gebäudes, von der ihr Opfer gefallen war. Ein kurzer Blick um die Ecke sagte ihr, dass Kristen und der Todesengel sich bereits begegnet waren. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass der Stahldrache in diesem Kampf siegen würde. Die Attentäterin mochte zwar ein Drache sein, aber sie war ein Drache mit mehreren Drachenschuppen-Kugeln in ihrem Körper, die ihre Kräfte zuerst schwächten und letztendlich dann aufzehrten.
Für einen kurzen Moment fragte sich Constance, ob sie eines Tages mit liebevollen Erinnerungen oder Scham auf diesen Moment zurückblicken würde. Vielleicht würde sich der Stahldrache ihrem Kampf anschließen – oder vielleicht würde sie sich als genauso gefährlich für die Menschheit erweisen wie die anderen Drachen. Wenn das passierte, könnte ihr Körper vielleicht dazu nützlich sein, Kugeln herzustellen, die wirklich jeden Drachen zerstören konnten.
Sie hoffte, dass das nicht der Fall wäre, aber ihre Position in der Welt bot keine Annehmlichkeiten. So oder so, ihre Organisation würde handeln. Nur die Zeit konnte zeigen, was das zu bedeuten hatte.
Sie hoffte auch, dass der Stahldrache erkennen würde, was passiert war – dass ihr jemand das Leben gerettet hatte, ein Verbündeter, der stärker war als ein Drache.