Kapitel 19
D ie ersten paar Minuten im Tunnel waren fast schon langweilig. Nichts griff sie an und nichts schoss auf sie oder stob Funken oder Ähnliches. Sogar die Lichter funktionierten auf dieser ersten Etage.
Kristen folgte dem Samen der Wut, von der sie wusste, dass sie nur von Shadowstorm kommen konnte. Ihre Aura konnte keine Karte des Tunnellabyrinths erstellen, aber das war egal, weil sie vor allem spüren konnte, dass er sich unten aufhielt. Sie orientierten sich also auf ihrem Weg hauptsächlich nach unten.
Sie folgten dem Tunnel bis zu einer Treppe und stiegen hinunter, querten einen Tunnel bis sie zu einer anderen Treppe gelangten und gingen wieder hinunter.
»Man kann das Gewicht der Stadt auf den Schultern spüren«, murmelte Keith.
»Deshalb nennen wir dich Frischling, Frischling«, murmelte Drew. »Du solltest dieses Gewicht jedes Mal spüren, wenn du deine Uniform anziehst.«
»Ich weiß nicht, Drew. Ich arbeite gerne unter Druck, aber das jetzt ist etwas anderes«, sagte er und klang, als wollte er eigentlich mehr sagen.
»Wir müssen etwas tun.« Jim war vollkommen im Dienstmodus.
Zuerst ging die Beleuchtung über ihnen aus und tauchte sie in Dunkelheit. Kristen hatte nichts dagegen, da sie mit ihren Drachenfähigkeiten sehen konnte, aber alle anderen aktivierten die Lichter an ihren Waffen.
Sie machten sich bereit, wurden aber nicht angegriffen. Stattdessen klapperte eine der Röhren an der Seite des Tunnels, als würde sich eine Bestie hindurchschlängeln. Das Klappern bewegte sich weiter und bevor es die Treppe erreichte, die sie heruntergekommen waren, brach etwas aus dem Rohr hervor.
Die vier standen einfach nur da und starrten erstaunt auf einen Dampfstrahl, der anstatt des erwarteten Angreifers aufgetaucht war.
»Er will nicht, dass wir gehen«, sagte Kristen.
»Nein, es ist in Ordnung. Es ist nur ein bisschen Dampf. Warst du noch nie in einer Sauna?« Keith ließ seine Waffe fallen und streckte seine Hand aus. Sein Tonfall hatte etwas Verträumtes an sich.
»Keith, nein!« Sie versuchte, ihre Aura aufblitzen zu lassen, um ihn vor dem Dampf zu ängstigen, aber sie kam zu spät. Er steckte seine Hand in den Dampf und schrie.
»Scheiße!« Er riss die Hand schnell heraus und der verträumte Tonfall war verschwunden. Als er nach seiner Waffe griff, fluchte er. Er hatte sich die Handfläche verbrannt. »Es tut mir leid, Leute. Ich weiß nicht, was zum Teufel passiert ist. Ich hatte dieses Gefühl wie früher, als ich ein Kind war und wir alle in die Sauna gegangen sind und ich … Es tut mir so leid.«
»Muss es nicht.« Sie straffte ihren Kiefer. »Das war Shadowstorm. Er hat dich mit seiner Aura beeinflusst. Es ist meine Schuld. Ich hätte dich beschützen müssen.«
»Vor meinen eigenen Gefühlen?« Keith fürchtete sich davor mit dem Stahldrachen zu arbeiten – zum ersten Mal, seit er herausgefunden was sie war. Er verstand nicht wirklich, was aus ihr wurde. Niemand verstand es.
Sie biss die Zähne zusammen. »Wir müssen in Bewegung bleiben.«
Sie krochen einen engen Durchgang hinunter und der Dampf wogte hinter ihnen, bis sie eine weitere Treppe erreichten. Über diese gelangten sie zu einem anderen Tunnel, der sich sofort zu einer Kreuzung mit drei abgehenden Tunneln öffnete.
Kristen wählte zufällig eine Richtung, Shadowstorm war noch immer unter ihnen – und wartete zweifellos auf sie. Sie nahm an, dass er den Dampf nutzen wollte, sie zu ermüden, aber sie war sicher, dass er sich ihr stellen würde. Offensichtlich hatte sie die falsche Wahl getroffen. Sobald sie den linken Weg eingeschlagen hatte, strömte eine weitere Energiewelle durch die Rohre und eines direkt vor ihr barst. Der Tunnel füllte sich sofort mit Dampf.
»Wir müssen da durch«, rief Drew über das Zischen des Dampfes hinweg.
»Nein!«, schrie sie und drehte sich in die andere Richtung.
»Er treibt uns zu ihm«, protestierte Jim.
»Immer noch besser als wie Knödel gekocht zu werden«, antwortete sie und ging weiter. Es war nicht nötig zu erklären, dass sie sicher davon ausging, dass der Dampf sie zu ihm führen würde und dass sie beabsichtigt hatte, sich darauf einzulassen.
Das Team folgte ihr, bis eine der Röhren in diesem Tunnel ebenfalls barst. Sie war in diesem Moment verdammt nah dran und verwandelte ihre Haut sofort in Stahl, konnte aber die Hitze durch ihre Schutzschicht aus Metall noch immer spüren. Einer ihrer Teamkollegen hätte mit Sicherheit Verbrennungen zweiten oder dritten Grades erlitten, wenn er vorausgegangen wäre.
»Kehrt um«, befahl sie.
»Ich habe dort aber eine Treppe gesehen«, schrie Keith.
»Es ist zu gefährlich. Kehrt um.«
»Aber …« Sie ignorierte seine Proteste und drehte sich schnell um, erwischte ihn am Arm und zerrte ihn aus dem dampfgefüllten Gang. Sie wollte ihre Aura nicht auf ihr Team anwenden – zum einen, weil sie dadurch ihre Konzentration aufteilen müsste und es schwieriger machen würde, Shadowstorm zu folgen und zum anderen, weil sie dachte, sie hätten etwas Besseres verdient – aber sie war sehr versucht. Ihr Gegner hätte keine Bedenken, seine Aura zu benutzen, um Menschen in Gefahr zu bringen. Tatsächlich würde er wahrscheinlich denken, dass es falsch wäre, seine Aura nicht zu benutzen.
Aber Kristen war nicht wie er, jedenfalls noch nicht. So widerstand sie der Versuchung, ihr Team mit der Aussicht auf einen Drachen aus Schatten und Sturm zu erschrecken, der das Wissen hatte, die Dampfadern der Motor City kontrollieren zu können. Stattdessen behandelte sie Menschen gleichberechtigt und sie gingen weiter.
Sie führte sie in den dritten Tunnel. Sie kamen vielleicht dreißig Meter weit, als sie das durch abgestürzte Trümmer blockierte Ende entdeckten. Sie war verblüfft, denn sie hatte ehrlich geglaubt, dass Shadowstorm sie zu ihm führen würde. Warum schickte er sie in einen eingestürzten Tunnel?
»Wir müssen zurück«, stellte Drew das Offensichtliche fest, bevor es jemand anderes tun konnte.
Sie drehten sich um und wollten sich zurückziehen, aber eines der Rohre im Tunnel brach und ihn mit Dampf füllte.
»Scheiße!«, fluchte sie. »Das ist meine Schuld. Ich dachte, er wollte mich zum Kampf dorthin führen.«
»Warum gegen den Stahldrachen kämpfen, wenn man ihn einfach lebendig kochen kann?«, fragte Jim mürrisch.
»Wir müssen die Treppe nehmen, die Keith gesehen hat.« Drew gestikulierte den Tunnel hinunter und dann nach links.
»Wie zum Teufel sollen wir da durchkommen?« Keith rieb sich den Kopf. »Es ist wie Erbsensuppe. Ich kann überhaupt nichts sehen. Außerdem dämpft es uns wie Brokkoli.«
»Das Rohr ist auf der linken Seite gebrochen«, erklärte Jim. »Ich denke, wenn wir uns rechts halten, sollte die Temperatur nicht ganz so schlimm werden.«
»Dann folgen wir der Wand mit den Händen, bis sie nach rechts abbiegt, halten uns an den Händen fest und gehen hinüber zu der Stelle, an der Keith die Treppe gesehen hat.» Kristen versuchte, trotz der steigenden Temperatur im Tunnel ruhig zu sprechen.
»Das klingt gut«, sagte Drew und übernahm die Spitze.
»Klar, wenn du mit gut meinst, dass es sich nach einer verdammt guten Methode anhört, neben einer Tasse geschmolzener Butter auf einem Drachenteller zu landen«, maulte Keith, machte sich aber direkt nach dem Teamleiter auf den Weg.
Kristen hatte sie vorausgehen lassen. Würde sie mit ihrer Stahlhaut vorangehen, könnte sie nicht sagen, ob es für Menschen sicher wäre.
Sie traten in den Dampf. Selbst mit ihrer Nachtsicht konnte sie kaum durch die wabernden Wolken aus erhitztem Dampf sehen, sodass es keine große Überraschung für sie war, als Keith plötzlich verschwand.
Es war beängstigend – definitiv und eindeutig erschreckend – aber nicht wirklich eine Überraschung.
»Frischling!«, rief sie in den heißen Nebel.
»Ende der Reise, Stahldrache«, sagte Keith und sie fand heraus, dass er recht hatte. Ihre Hand erreichte das Ende des Tunnels. Sie musste nun die sie leitende Mauer verlassen und sich in den Dampf begeben.
»Da sind wir, Wonderkid«, sagte sie über die Schulter und trat nach vorne.
Diese Erfahrung war äußerst desorientierend. Obwohl Drew und Keith laut sprachen, um gehört zu werden, verlor man leicht das Gefühl, wo sie sich befanden. Als sie die gegenüberliegende Seite des Tunnels berührte, war sie schweißgebadet und hoffte praktisch darauf, dass Shadowstorm sie dort angreifen würde.
Aber natürlich tat er das nicht. Er verstand die menschlichen Emotionen besser als die Menschen selbst – schließlich hatte er sie jahrhundertelang ausgenutzt. Dieses Wissen war ein enormer Vorteil, denn er wusste zweifellos, dass ihre Ängste und ihre Erschöpfung der erste Schlag gegen sie sein würden. Doch als sie durch den Dampf ging, ihre Lungen zu brennen begannen und ihr Atem stockte, begann sie sich zu fragen, ob er wirklich kämpfen wollte. Sie unter der Stadt lebendig zu kochen, schien ihm die Arbeit abzunehmen.
Sie versuchte, sich nicht in diesen Gedanken zu verlieren, aber es war schwer. Wenn jemand aus ihrem Team ohnmächtig würde, könnte sie ihn im Dampf nicht finden. Dieser schreckliche Gedanke schien sich in ihrem Kopf wie eine defekte Schallplatte immer zu wiederholen.
Aber letztendlich war ihre Angst unnötig. Sie kam dort an, wo Drew und Keith auf sie warteten. Schritte hinter sich sagten ihr, dass Jim auftauchte. Alle schwitzten, waren rot im Gesicht und erschöpft, aber sie lebten.
»Ich glaube nicht, dass wir noch viel mehr wie das hier durchstehen können.« Der Frischling versuchte zu verschnaufen.
»Ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr viel weiter gehen müssen.« Kristen konnte Shadowstorm spüren. Er war nah – ganz nah – und unglaublich wütend. Irgendwie wusste sie, dass er Keith, Drew und Jim auf eine Art und Weise wahrnehmen konnte, wie es ihr nicht gelang. Ihr Überleben passte dem gefühllosen Drachen gar nicht.
»Na gut, gehen wir.« Jim nickte in Richtung Treppe.
»Wartet.« Drew berührte die Rohre, die durch die Tunnel führten. Kristen hatte nicht bemerkt, dass dieser unterirdische Bau mehr als nur Dampfrohre enthielt. Elektrizität war vorhanden, Kabel und sogar Glasfaser, so wie es aussah. Er berührte sie nacheinander, bevor er an einem Rohr innehielt, das größer als die andren war. »Ihr wisst, dass ich diese Stadt liebe, oder?« Er berührte das ausgewählte Rohr probeweise mit dem Finger.
»Nicht so sehr wie Kristen und ich, aber ja, sicher.« Jim hob eine Augenbraue. »Warum, was hast du vor?«
»Viel zu vielen Menschen das Wasser zu nehmen.« Drew trat von dem Rohr weg, hob sein Gewehr und schoss dreimal. Bei der ersten Kugel passierte nichts, auch nicht bei der zweiten, aber die dritte Kugel zerbrach die Leitung und Wasser begann an die Wand neben ihnen zu spritzen.
»In Ordnung. Euch ist allen heiß und ihr stinkt. Geht duschen.«
Das musste nicht zweimal gesagt werden. Als Kristen durch den kalten Wasserstrahl ging, schaltete sie ihre Stahlhaut kurz ab, damit sie das erfrischend kühle und saubere Wasser besser genießen konnte.
Das Team tat das Gleiche und die Erleichterung waren ihnen anzusehen.
Allen außer Drew. Er sah nicht aus, als wäre er stolz auf das, was er getan hatte.
»Es wird alles gut, mein Großer.« Keith klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich weiß. Es ist nur … morgen ist Schule.«
Jim kicherte – wieder das Lachen im Angesicht des Todes. »Es ist fast ein Uhr morgens. Alle Kinder, die vorher noch duschen wollten, gehen morgen wahrscheinlich nicht zur Schule.«
Der Teamleiter lächelte tatsächlich – ein seltener Anblick – und nickte. »Lasst es uns zu Ende bringen. Bist du bereit, Stahldrache?«
»So bereit, wie ich sein kann«, meinte sie und versuchte, positiv zu klingen.
Sie stiegen die Treppe zu einem Treppenabsatz hinunter, änderten die Richtung und gingen weiter. Als sie schließlich in einen Tunnel gelangten, öffnete sich dieser schnell zu einer Art U-Bahn-Station. Kristen hatte keine Ahnung, wofür der Raum gedacht war. Vielleicht war er einmal für Züge benutzt worden, oder vielleicht war hier die Baumaschine untergebracht gewesen, die diese Tunnel gegraben haben musste, während die Arbeiter geschlafen hatten.
Wie auch immer, es war ein großer, höhlenartiger Raum, fast so groß wie ein Basketballfeld. Verglichen mit den Gängen, in denen sie sich befunden hatten, schien er praktisch endlos und hätte es leicht mit der Größe eines Freizeitzentrums aufnehmen können. Der Boden war mit alten Fliesen belegt, einige hatten hier und da Risse. Die Wände waren aus Ziegelsteinen, obwohl Teile schon vor langer Zeit gefliest worden waren, was der Theorie eines aufgegebenen Bahnhofs Geltung verschaffte, obwohl Detroit keine U-Bahn hatte. Die Decke bestand aus rohem Stein, der von Drähten und Rohren durchzogen war. Ein vor Jahrzehnten aufgegebenes Holzgerüst säumte die meisten Wände. Über ihnen hingen nackte Glühbirnen, die kaum für Licht sorgten in dem Raum. Pfeiler trugen die Unmengen an Steinen und Ziegeln, unter denen sie hindurchgegangen waren.
Es war jedoch immer noch ausreichend Licht vorhanden, um Sebastian Shadowstorm in der Mitte des Raumes stehen zu sehen. Er trug ein schwarzes japanisches Gi mit einer roten Schärpe über der Taille und seine charakteristischen schwarzen Handschuhe mit den roten Biesen. Seine Arme waren vor seiner riesigen Brust verschränkt. Im blassen Licht der Glühbirnen schien er mehr Schatten als Mensch zu sein, seine Schultern waren so breit, dass sie seine Beine in Schatten hüllten. Nur das Rot des Gürtels gab einen Hinweis darauf, dass er momentan den Körper eines Menschen hatte. Sein Haar war zu einem engen Pferdeschwanz gebunden und sein Spitzbart umrahmte das grausame Grinsen, das sein Gesicht dominierte.
»Kristen. Du hast es geschafft«, sagte er kalt und humorlos, so anders als der freundliche Ton, den er beim gemeinsamen Training verwendet hatte. Natürlich verstand sie jetzt, dass es nicht wirklich ein Training war, sondern die Aufschlüsselung ihrer Fähigkeiten.
»Sebastian«, antwortete sie und versuchte, so kalt und wütend wie er zu klingen.
Sein kurzes Zurückschrecken sagte ihr, dass sie zumindest teilweise erfolgreich war.
»Wir haben schon Zeit genug verschwendet, findest du nicht auch? Komm jetzt. Es wird Zeit, dass du stirbst.«