Kapitel 21
E r schlug auf Kristen mit der Wucht eines Sattelschleppers ein. Der Raum war nicht groß – zumindest nicht in Drachenkörper-Standards – aber er hatte immer noch genug Platz, einmal mit seinen Flügeln zu schlagen und sich auf sie zu stürzen. Er katapultierte sie wie wild in ein Gerüst. Für das Monster, dem sie gegenüberstand, schien sie nicht mehr zu wiegen wie ein Kieselsteinchen.
Sie wühlte sich aus den Holzresten, aber immer mehr Gerüst brach um sie herum zusammen. Shadowstorm erwischte sie mit einer seiner Klauen und zerrte sie aus den durcheinander liegenden Holzbalken, wie ein Bauer einen Apfel von einem Obstbaum pflücken würde.
»Mir gefällt dein stählerner Körper, Kristen«, spottete er und drückte mit der Faust zu. Mit seiner Aura versuchte er, ihr in jede Faser ihres Wesens Angst einzujagen. Offensichtlich hielt er sie nicht für einen Drachen, wenn er davon ausging, dass das funktionieren sollte. »Er hat mehr Gewicht.« Er schleuderte sie wieder durch den Raum. Der Schwung trieb sie durch einen Pfeiler und sie landete mit der Schulter an einem zweiten, blieb hängen und stürzte zu Boden.
Schüsse ertönten, als sie aufstehen wollte. Ihre Freunde versuchten, ihr etwas Zeit zu verschaffen und sie hoffte, dass es sie das nicht mit ihrem Leben bezahlen würden.
Ihr Gegner brüllte und stieß eine riesige Flammenwand in Richtung des Teams aus. Schimpfkanonaden wurden ausgestoßen – sie konnte nicht sehen von wem – als ihre Freunde versuchten auszuweichen. Einige der Gerüstteile fingen Feuer und Shadowstorm lachte.
Sie rollte sich hinter einen Pfeiler und erhob sich.
»Kleiner Stahldrache, wo bist du?«, kicherte er. In seiner Drachenform klang es tiefer, wie das Grollen eines Löwen. »Oh, warte, du bist ja gar kein Drache, oder?«
Sein Schwanz peitschte um den Pfeiler, hinter dem sie sich versteckt hatte. Wäre sie jetzt noch dort gewesen, wäre sie mit dem Gesicht voraus auf dem Beton gelandet. Sie machte sich gedankliche Notizen – dem Schwanz ausweichen, den Kiefern, Klauen, dem Feueratem und den anderen bizarren Fähigkeiten dieses Drachen auch.
»Verstärkung ist unterwegs«, rief sie und ihre Stimme hallte von den Wänden wider.
»Wir wissen beide, dass das nicht wahr ist, kleines Blechmädchen.«
Instinktiv schrie sie auf, als sein massiver Drachenkopf neben ihr auftauchte. Sie rannte nicht davon, sondern zog ihre Faust zurück und schlug ihm mit aller Kraft in die Zähne.
Er schreckte zurück – leicht – aber schnappte dennoch nach ihr und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie ihn überhaupt verletzt hatte oder ob er einfach nur selbst einen Schlag vorbereiten wollte wie ein Reiher auf der Jagd nach einer Elritze.
Im nächsten Moment kam er ganz um die Säule und sie stand einem ausgewachsenen Drachen gegenüber. Er hob seine Kralle und wollte sie wie einen Käfer zerquetschen.
Kristen bewegte sich Richtung seines Handgelenks, kam mit ihrer Drachengeschwindigkeit in seine Reichweite und vermied es gleichzeitig, eingequetscht zu werden.
Shadowstorm zischte und brachte seine anderen Klaue zum Einsatz. Sie wich wieder aus. Dies war ein Schachzug, den sie bei Stonequest im Training gelernt hatte.
Der Drache gab diese Taktik auf und versuchte sie – jetzt, da er ihr so nahe war – einfach zu fressen. Das wäre vielleicht ihr Ende gewesen, aber es gelang ihr, einen Fuß auf seinen Unterkiefer zu stellen und mit ihren Händen den Oberkiefer zu packen.
Sein Versuch den Mund zu schließen scheiterte, ihre Stahlform war zu stark. Kurzzeitig fantasierte sie darüber, seinen Kiefer zurückzudrücken und seinen Schädel aufzubrechen, aber das Inferno, das aus seiner Kehle kochte, brannte diese Idee schnell aus ihren Gedanken.
Flammen umhüllten sie und sie wurde aus dem Maul des Drachens gewuchtet. Wieder einmal stieß sie auf eine ferne Wand zwischen weiteren Gerüsten, die er angezündet hatte, als er sie aus seinem Maul geblasen hatte.
Sie stand wackelig auf und wurde von der Hitze fast ohnmächtig. Ihre Haut tat nicht weh – es wäre mehr als das nötig, sie zu verbrennen, aber die Hitze schien ihr Gehirn verbrennen zu wollen.
Völlig orientierungslos stolperte sie aus dem brennenden Gerüst und orientierte sich. Der Eingang war wo … hinter ihr?
Shadowstorm hatte ihren Ausweg in eine Flammenwand verwandelt.
»Alle raus hier«, schrie sie über das Knistern der Flammen.
Als Reaktion darauf wurde geschossen.
Meine Kollegen haben Galgenhumor bis zum bitteren Ende. Sie musste über die schiere Arroganz, auch nur den Versuch zu unternehmen einen Drachen erschießen zu wollen, grinsen.
»Gute Idee, Blechmädchen«, sagte ihr Gegner von der anderen Seite des Raumes. Sie erwartete, dass er im Schatten verschwinden und so nah bei ihr wieder auftauchen würde, um sie mit seinem Schwanz auszulöschen, aber stattdessen drehte er sich um.
»Du solltest besser rennen«, rief sie und es klang, als hätte sie eine geschwollene Lippe. Okay, also er konnte sie durch ihre Stahlhaut verletzen. Das war gut zu wissen.
Er lachte nur, bevor sein Schwanz in den Eingang zu einem anderen Tunnel peitschte und ihn einstürzen ließ wie Bauklötze. »Ich habe so viel Spaß, kleines Blechmädchen. Wir wollen unser Publikum doch jetzt nicht verlieren.« Wieder brach ein Flammenmeer aus seiner Kehle, dann ein weiteres. Bald waren alle Gerätschaften in Flammen aufgegangen. Sie spürte die Hitze durch ihre Stahlhaut und wusste, dass sie wohl überleben konnte, ihre Freunde waren aber nur Menschen.
»Du Monster«, schrie sie und raste in einem Anflug von Drachengeschwindigkeit vorwärts. Sie musste sich zur Wehr setzen und ihn besiegen. Ohne nachzudenken, ergriff sie seinen Schwanz und versuchte, ihn von ihren Freunden wegzuziehen. Er schnipste damit und katapultierte sie durch die Decke nach oben in einen mit Dampf gefüllten Tunnel.
Kristen fuchtelte beim Versuch, die Kante des von ihr geschaffenen Lochs zu greifen, mit den Armen. Es gelang ihr kaum, sich mit den Fingerspitzen festzukrallen. Dies brachte Shadowstorm nur noch mehr zum Lachen.
»Ich erspähe mit meinem Drachenauge die Beine eines Menschleins.« Seine krallenartigen Pranken griffen nach ihr und zogen sie durch das Loch.
Er schwang sie in den Boden, dann in eine Säule, die Decke und eine weitere Säule. Zwischen den einzelnen Treffern wurde sie so schnell bewegt, dass sie nichts mehr sehen konnte und sich ihr der Magen umdrehte. Schließlich warf er sie auf den gefliesten Boden. Er ließ sie nicht los, sondern rieb ihr Gesicht über den Kachelboden, als wäre sie nichts weiter als eine Zigarettenkippe.
»Weißt du, ich glaube, ich werde zuerst deine Freunde fressen, dann komme ich zurück und töte dich. Es ist schon so lange her, dass ich das Fleisch von Menschen gekostet habe. Mindestens ein paar Monate, aber es fühlt sich an wie Jahre.«
Sie kämpfte darum, aufzustehen. Ihre Muskeln protestierten und wollten den schnellen Tod einem weiteren Kampf gegen dieses feuerspeiende Monster eines Feindes vorziehen.
Ihr Blick wurde vom Projektil angezogen, das bei dem Trümmerhaufen lag, der kurz zuvor noch eine Säule gewesen war. Aus der Tiefe kehrte ihre Stärke zurück und sie schleppte sich auf die winzige Waffe zu.
»Aber wo sind diese kleinen Menschen?« Der Drache bewegte sich durch die Flammen und sein Schwanz zuckte wie der einer Katze auf der Jagd nach einer Maus.
Dass er ihre Freunde ins Visier nahm, gab ihr den Anstoß. Sie konnte nicht zulassen, dass er sie tötete. Irgendwie kam sie hoch, stolperte die erforderlichen Schritte und holte sich das Projektil zurück. Kristen musste sich konzentrieren, steckte es zwischen ihre Fingerknöchel und machte eine Faust.
»Ich bin der einzige Mensch, den du heute töten darfst«, rief sie.
Shadowstorm lachte wahnsinnig darüber. »Welch große Worte!«
Er bewegte seine Flügel einmal und der Luftzug schürte die Flammen, die nun den Raum umrandeten und ließ sie blau statt orange brennen, bevor er auf Kristen losging. Sie landete erneut schmerzhaft auf den harten Fliesen und schnappte nach Luft.
Der Drache sprang auf sie zu. Mit einem einzigen raumgreifenden Sprung war er bei ihr, sie kauerte unter ihm auf dem Boden.
Er lachte zufrieden als er eine Pranke anhob, um sie zu zerquetschen. Im Training bei Stonequest hatte sie gelernt, sie solle ausweichen, aber sie ignorierte diesen Instinkt. Stattdessen ballte sie ihre Faust und zielte auf seine Handfläche.
Seine Klaue schwang und zuckte sofort zurück.
Sie wusste, dass ihn das nicht umbringen würde, nicht in der Handfläche, aber sie musste ihre Freunde retten.
»Drew! Jim! Keeeeeeeeith!«, rief sie, als Shadowstorm durch den Raum wütete und in seiner Raserei die Säulen zerschlug und brennende Gerüste herumschleuderte.
»Hall!«, brüllte Drew daraufhin. Er und Jim hatten den bewusstlosen Frischling zwischen sich, jeweils einen Arm über den Schultern. Sie bewegten sich so nahe an der Wand, wie sie nur konnten, aber wegen des brennenden Gerüstes hatten sie überhaupt keine Deckung vor dem Drachen, der den Raum weiter demolierte.
»Ich mache euch den Weg frei«, rief Kristen.
»Mach ihn fertig«, verlangte Drew in seinem Befehlston.
»Ich kann es nicht. Mit der Verletzung seiner Handfläche habe ich alles getan, was möglich war. Wir müssen hier weg.«
»Durch die Dampftunnel? Das schaffen wir nie. So sieht es leider aus, Kristen.«
»Nein, nein, wir können es schaffen, wenn wir bis zum Wagen kommen.«
»Er wird uns einholen und in den Fluss werfen. Du musst dich ihm stellen, Kristen.«
Das Donnern einer Lawine hinter ihr ließ sie schnell erkennen, dass der größte Teil der Decke zusammengebrochen war.
Im darauffolgenden Moment konnte sie ihren eigenen Atem über das Knistern der Flammen hören. Shadowstorm hatte aufgehört, sich zu bewegen. War er unter den Trümmern gefangen? Hatte er sich einen Knochen gebrochen? War er tot?
Im Rauch erschien die grobe Form seiner menschlichen Gestalt. Seine Hände hielt er vor sich zusammen, aber er lachte.
»Das war Drachenfleisch? Sehr klug, kleiner Mensch. Wenn man bedenkt, dass du nicht zu uns gehörst, wolltest du einen Teil unseres Körpers gegen mich verwenden? Zu schade, dass du mich damit nicht am Hals oder mein Herz getroffen hast. So wie es aussieht, wird es Tage dauern, bis meine Hand heilt.« Er hielt die Kugel in seinen beiden Fingern hoch und zerdrückte sie.
»Nein«, protestierte sie enttäuscht und außer Atem.
»War das dein – was ist der menschliche Ausdruck dafür – Ass im Ärmel? Ich muss sagen, ich hätte mehr von Stonequests kleinem Schützling erwartet. Das macht so rein gar nichts. Du hast dich als genauso erbärmlich erwiesen wie die Affen, die jetzt hinter dir kauern. Tritt zur Seite, dass ich ihr Fleisch verzehren kann.«
»Du bluffst«, vermutete sie. »Du kannst dich jetzt nicht verwandeln.«
Er kicherte, ein tiefer, dunkler Ton, der immer tiefer wurde und sich zu einem Rumpeln entwickelte, das den Raum erfüllte, während sein Körper wieder die Form eines Drachen annahm.
»Nein, ich bin ziemlich hungrig – Heilkräfte und all das«, knurrte er, peitschte mit dem Schwanz und schleuderte sie erneut durch die Flammen.
Bevor sie landen konnte, schnappte der Schwanz zu und drückte sie gegen die Wand. Mit Entsetzen erkannte sie, dass er sie zwingen wollte, zuzusehen, wie er ihre Freunde verspeiste.
Und es gab nichts, was sie tun konnte. Es war vorbei und sie hatte verloren. Er würde diese Stadt zerstören, angefangen mit ihren Freunden, dann ihrer Familie. Sobald er sich an denen gerächt hatte, die sie liebte, würde er die Stadt einnehmen und es wäre, als hätte sie nie existiert.
Shadowstorm hatte gewonnen.