Kapitel 24
K
risten fand jetzt heraus, dass sie in ihrer Drachengestalt Auren viel leichter wahrnehmen konnte wie als Mensch. Es war, als wären ihre silbrig glänzenden Schuppen die Empfänger für diese Fähigkeit. Als sie vor der Müllverbrennungsanlage landete, nahm sie wahr, dass Stonequest und sechs andere Drachen bereits auf sie zusteuerten.
Es war beinahe überraschend, als Drew sich räusperte und erklärte. »Rufen wir das Revier an und holen wir Verstärkung. Dieser Ort muss abgeriegelt werden. Das Feuer und der Dampf in diesem Schneegestöber schreien nach einer Sondermeldung in den Nachrichten.«
»Das liegt nicht mehr in unserer Zuständigkeit«, erklärte sie etwas erschrocken darüber, dass sie als Drache etwas langsamer sprach als ein Mensch. Sie hatte immer noch ihre Stimme, aber sie war etwas tiefer und klang melodischer.
»Was meinst du damit? Dieser Ort liegt definitiv in Detroit.« Keith verschränkte trotzig die Arme.
Sie zeigte mit einer Kralle auf das Drachen-SWAT. Die sieben Drachengestalten waren jetzt nahe genug, um ihre Silhouetten vor den Wolken, die im Licht der Stadt glühten, zu erkennen.
Niemand sonst schien sie jedoch zu sehen, bis einer nach dem anderen landete. Die riesigen Gestalten verhinderten, dass der Schnee auf sie fallen konnte. Die sieben Drachen waren so heiß, dass sie gemeinsam eine Art Hitzeschild gegen die Kälte bildeten.
»Kristen Hall, der Stahldrache«, meinte Stonequest zur Begrüßung. Normalerweise verwandelte er sich in einen Menschen, aber jetzt blieb er in seinem Drachenkörper und umkreiste ihre silberne Gestalt. Sie hatte sich bisher noch nicht wieder in Stahl verwandelt, aber jetzt tat sie es. Im Handumdrehen verwandelte sie sich von einem silbernen Drachen mit weißlicher, leicht lederartiger Haut zwischen den Schuppen, einer weißen Haarmähne und Hörnern in der Farbe und Struktur von Elfenbein vollkommenen in Stahl.
Er antwortete nicht mit Worten, sondern zeigte ihr seine Aura. Er war erfreut und auch beeindruckt, dass sie sich jetzt verwandeln konnte und das überraschte sie nicht. Das Gefühl, das er ihr sandte, erinnerte sie daran, wie sich ihr Vater gefühlt hatte, als sie endlich ohne Stützräder am Fahrrad die Straße hinunterfahren konnte.
»Wir haben Shadowstorm besiegt«, begann sie zu erklären, aber Stonequest und die Auren der anderen Drachen sagten deutlich, dass ihnen das bereits bekannt war. Natürlich wussten sie es. Sie waren zweifellos gekommen, weil sie die Schlacht wahrgenommen hatten. Am Ende hatte Sebastian seine Aura überhaupt nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Jeder Drache im Umkreis von hundert Kilometern hatte seine Wut spüren müssen.
»Dort drüben?« Stonequest deutete mit seinem langen Hals auf die brennende Grube, die Rauch und Dampf in die verschneite Nacht verströmte.
Kristen nickte.
»Wie habt ihr ihn erledigt?« Da war etwas in seiner Aura, das ihr Sorgen machte, sie hätte etwas Falsches getan.
»Wir haben gekämpft und dann den Verbrennungsofen auf ihn stürzen lassen. Obwohl er bereits besiegt war, versuchte er meine Freunde zu verbrennen und ich brach ihm das Genick.« Sie erwartete eine Rüge. In der Hitze des Kampfes war es eine natürliche Reaktion, aber es auszusprechen, kam ihr jetzt grauenhaft vor.
Er nickte. »Es ist gut zu wissen, dass er am Ende ist.«
»Du dachtest, er wäre es nicht?«
»Shadowstorm ist ein Meister seiner Aura. Wir alle konnten sie während der Schlacht aus kilometerweiter Entfernung spüren – auch deine – und dann war sie plötzlich verschwunden, im selben Moment, in dem deine am heißesten brannte. Ich habe angenommen, er sei tot, aber ich musste trotzdem sicher gehen, dass du ihm den Todesstoß versetzt hast.«
»Du denkst, er hätte überleben können?«, fragte Kristen ungläubig.
»Nicht, wenn du ihm das Genick brichst. Der Biss eines Drachens ist mächtig und auch unsere Köpfe müssen, genau wie bei jedem anderen Lebewesen mit unserem Körper verbunden sein. Um ihn zu besiegen, musste man entweder sein Gehirn oder Herz durchstoßen oder eben die Halsschlagader durchtrennen.«
Sie kannte die Kräfte in den Körpern von Drachen. Die Kugel, die mit Drachenteilen versetzt war, hatte so effektiv gewirkt wie es ein Taser bei einem menschlichen Körper getan hätte.
»In Ordnung, Team. Ich will, dass dieses Chaos beseitigt wird, und zwar am besten gestern.«
»Das wird nicht leicht, Stonequest«, antwortete ein lilafarbener Drache. Ihre Aura war Kristen fremd. Ihr fehlte die Geradlinigkeit von Stonequest oder die verschiedenen Schattierungen von Shadowstorm. Sie fühlte sich … eher … rauchig an?
»Auch wenn die Magier helfen?«
»Ich erzähle dir auch nicht, wie man die Arbeit ohne Verwendung von Werkzeugen erledigt«, maulte der violette Drache.
Ah, das war es also, was sie in der Aura dieses Drachens gespürt hatte. Sie war wohl eine besonders begabte Magie-Anwenderin. Kristen sah, dass drei Magier auf ihrem Rücken saßen. An deren Aura konnte sie erkennen, dass der Drache diese Menschen als die ihren betrachtete. Ihnen zu schaden, wäre eine persönliche Beleidigung für sie, für die sie sich rächen würde. Kristen fand es tröstlich, dass der Drache jedem zu verstehen gab, dass es zu einem Drachenkampf kommen würde, wenn diesen Menschen etwas geschehen sollte. Seltsam war dennoch, dass der lila Drache sie als die ihren ansah.
Kristen seufzte. Sie nahm an, dass sie genauso über ihre Freunde dachte.
»Kannst du es nun aufräumen oder nicht?«
Der lila Drache lächelte. »Die Maschinen können wir wahrscheinlich nicht reparieren, aber Ziegel und Balken sind kein Problem.«
»Gut, Timeflash, dann tu es.«
Stonequest folgte Timeflash in Richtung der brennenden Grube.
Der Drache und die drei Magier standen jeweils in der Nähe einer Ecke des eingestürzten Gebäudes. Violettes Licht floss aus Augen, Mund und Händen von Timeflash und kurz darauf auch aus ihren drei Assistenten. Kristen konnte anhand der Aura des Drachen fühlen, dass die Magier ihre Kraft verstärkten.
Danach konnte sie jedoch nichts weiter tun als gaffen. Ihr Drachenkiefer klappte auf, als der lila Drache und ihre Helfer das Gebäude reparierten, das sie und Shadowstorm so vollständig zerstört hatten.
Das Feuer ging aus und der Dampf begann in das Loch zu sickern.
Es war unglaublich, dass sich die Verbrennungsanlage mit lawinenartigem Getöse selbst reparierte; die Ziegel sortierten sich selbst und stapelten sich zu einem Turm auf. Zuerst war es nur zu hören, aber einen Augenblick später erhoben sie sich über das Dach des rot-weißen Gebäudes und immer weiter. Rauch und Dampf verflüchtigten sich als die Ziegel zu dem Turm wurden, der – eigentlich – zuvor zerstört worden war.
Nach dem Turm schoben sich die Metallwände des Gebäudes selbst an ihren Platz zurück, begradigten die durch die Hitze und die Explosionen entstandenen Biegungen und Knicke und nahmen ihre Funktion als normale Wände wieder auf, als ob nichts passiert wäre.
Ein Glasfenster reparierte sich selbst und es sah aus, als wäre die Anlage überhaupt nicht beschädigt gewesen, zumindest von außen.
Als alles fertig war, verlor sich der Zeitstrahl und das violette Licht verschwand von ihr und den Magiern. Die drei Menschen rannten augenblicklich auf Timeflash zu und Magie zuckte aus ihren Fingern. Der Zauber, den sie murmelten, verwandelte sich in ein gewaltiges Netz aus Energie, das sie auffing, bevor sie fallen konnte. Jetzt sah sie noch blasser aus als zuvor. Die Anstrengung bei der Reparatur des Gebäudes hatte sie offensichtlich geschwächt.
»Einen Moment, manche Drachen können die Zeit zurückdrehen?« Kristen war fassungslos.
Stonequest kicherte. »So sieht es aus und deshalb hat sie sich so genannt, aber nein. Es ist ebenso unmöglich, die Zeit zurückzudrehen, wie jemanden von den Toten zurückzuholen. Mache dir also keine Sorgen. Die Leiche von Shadowstorm ist noch da drin.«
»Aber wie …«
»Sie kann wahrnehmen, wie von Menschen berührte Gegenstände zusammengesetzt sind. Wenn sie schnell genug vor Ort ist, kann sie Dinge reparieren, die zerstört wurden. Tests haben bewiesen, dass das keine Zeitmagie ist, sondern eher telepathischen Charakter hat.«
Kristens Verstand drehte sich im Kreis. Shadowstorm besaß Kräfte, die sie nicht verstehen konnte – nicht zuletzt wegen des Schneesturms, der nun über die Stadt hinwegfegte. Sie wusste nicht, ob er ihn ins Leben gerufen oder einfach nur seine Entwicklung beschleunigt hatte und nun würde sie es auch nie mehr erfahren.
»Aber dann könnte sie bombardierte Städte wieder aufbauen und Unfallautos reparieren.« Die Möglichkeiten erschienen Kristen endlos.
Stonequest schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich, nein. Ihre Befugnisse sind begrenzt. Selbst für dieses Gebäude brauchte sie diese Magier als Unterstützung und die Maschinen drinnen sind nicht repariert. Das müssten normale Mechaniker machen. Aber keine Sorge. Du wirst all diese Dinge lernen, sobald du zum Drachen-SWAT gehörst.«
»Ja, klar, wann auch immer das sein wird.«
»Jetzt, Kristen. Das war eine Einladung.«
Sie lachte, bis sie sah, dass er nur sanft lächelte. Das war also kein Scherz? »Du machst Witze«, stammelte sie. Mehr konnte sie im Moment nicht sagen.
»Nein, mache ich nicht. Jetzt bist du einer von uns. Du hast deine Drachenform aktiviert und ich glaube nicht, dass jetzt noch jemand im Drachenrat deine Kräfte bestreiten sollte. Mir war klar, dass du mächtig sein musst, aber das? Shadowstorm in einem von ihm selbst gewählten Versteck zu besiegen, wäre selbst für mich eine gewaltige Herausforderung gewesen. Du hast das unglaublich gut gemacht. Ich habe das Recht, die Drachen zu rekrutieren, für die ich mich entscheide und im Moment rekrutiere ich dich.«
»Aber mein Team …«
»Es ging ihnen gut, bevor du gekommen bist und sie werden ihre ausgezeichnete Arbeit auch nach deinem Weggang weiter leisten«, sagte er. Er schaute den menschlichen Teamleiter fragend an. »Habe ich Recht?«
Drew nickte. Seine Augen sahen ein wenig traurig aus, aber er lächelte dennoch. »Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde, Hall.«
»Aber ich bin mehr als nur ein Drache«, sagte Kristen. Sie fühlte die Ablehnung in Stonequests Aura und lächelte. »Okay, ja, ich bin ein Drache, aber das ist nicht alles. Ich bin immer noch ein Mensch. Ich wurde von Menschen aufgezogen und bin als Mensch aufgewachsen. Das wird immer ein Teil von mir sein und selbst wenn ich so tun könnte, als wäre es nicht so, will ich das nicht. Mensch sein … Mensch sein ist cool.«
»Zum Teufel, ja!«, stimmte Keith von hinten zu.
Stonequest nickte. »Ich werde nicht streiten deswegen. Schließlich bist du vermutlich der erste Drache in der Geschichte, der mehr Zeit in seiner menschlichen Gestalt verbracht hat als in seiner Drachenform. Aber es gibt immer noch Training, das durchgeführt werden muss. Dinge, die du über das Drachendasein lernen musst. Deine Zeit, in der du mit Menschen gearbeitet hast, ist vorbei.«
Kristen sah Drew noch einmal an und bat um Erlaubnis, Befehle … irgendwas. Er nickte und grinste immer noch. Das gab ihr Mut genug, den nächsten Schritt zu tun. »Wann müssen wir los?«
»Ich nehme an, du willst deine Familie wiedersehen.«
»Und ein Barbecue veranstalten, bevor du gehst«, schlug Butters vor.
»Dann morgen«, genehmigte Stonequest.
Sie nickte und war mit ihrem Team entlassen. Schnell verwandelte sie sich in ihre menschliche Gestalt und stieg in den Van. Zusammen mit ihrem Team fuhr sie, vielleicht zum letzten Mal, zum Revier zurück.
* * *
Das Barbecue begann so normal, dass es fast surreal war. Trotz des Schnees, der in der Nacht gefallen war, trug Kristens Vater immer noch Shorts. Der Schnee war nicht liegen geblieben – Weil Shadowstorm gestorben war?, fragte sie sich – aber das bedeutete nicht, dass es nicht kalt war. Dennoch durften Franks blasse, knorrige Knie am Barbecue-Tag nicht verborgen werden, so war es bei den Halls Tradition.
»Frank, bist du sicher, dass das genug Schweinefleisch ist?«, fragte Ihre Mutter wohl zum vierzigsten Mal ihren Mann.
»Um Himmels willen, Marty, es sind zwanzig verdammte Pfund Schwein und zusätzlich sechs Hühner.«
»Ja, aber Dad, es könnten Drachen kommen. Drachen«, erklärte Brian kryptisch. Er hatte den ganzen Tag nichts getan, um zu helfen, was für ihn völlig normal war. Stattdessen hatte er seine Zeit mit Videospielen verbracht und seine Schwester angefleht, sich zu verwandeln.
Sie hatte es heute bereits einmal getan, was ihren Vater dazu veranlasst hatte, eine solche Kanonade von Schimpfwörtern loszulassen, dass sie tatsächlich stolz war – bis sie erkannte, dass er nicht vor Erstaunen fluchte, sondern weil sie totales Chaos im Vorgarten angerichtet hatte. Ihre Mutter musste weinen deswegen. Als sie wieder ihre menschliche Gestalt angenommen hatte, umarmte Marty sie so fest, dass sie sogar einen Drachen hätte ersticken können.
»Brian, wir haben keine Mixed Pickles mehr«, sagte Marty jetzt. »Schau, dass du in den Supermarkt kommst. Du kannst das Auto nehmen.«
»Mooooom! Im Ernst? Kristen kann doch hinfliegen. Ich habe den Boss fast besiegt.«
»Ich benutze meine Drachenfähigkeiten nicht, um an eingelegtes Gemüse zu kommen«, maulte sie ihren Bruder an. Sie hatte sich mit ihm zusammengesetzt und ihm erzählt, dass sie zum Trainieren eine Weile weg sein würde, aber er hatte nur gezuckt.
»Und Kristens Freunde kommen schließlich bald«, fügte ihre Mutter hinzu.
Dabei rollte sie mit den Augen. Überlasse es deiner Mutter, magische Drachenkräfte zu ignorieren, aber achte auf die korrekte Gastgeber-Etikette.
»Na gut!« Brian schaute finster drein. »Aber merk dir meine Worte, Stahldrache, wenn du Mixed Pickles isst, bist du dran.«
Ihre Eltern teilten einen Blick, der sagte, was ist wohl bei ihm schief gelaufen? Dann öffnete Marty die Tür. Jim Washington stand davor mit einem Blumenstrauß.
»Guten Tag, Misses Hall. Ich habe ein paar Blumen mitgebracht für Ihr schönes Zuhause.«
»Oh, du musst das wundervolle Kind sein«, sagte sie und brachte an diesem Tag den Stahldrachen mit ihrer unvorstellbaren Kraft vielleicht zum neunzigsten Mal in Verlegenheit.
»Man nennt mich Wonderkid, Ma’am«, sagte er, als sie die Blumen entgegennahm.
Kristen führte ihn durch das Haus hinaus in den Garten, entgegengesetzt dem Weg, den sie beim letzten Mal genommen hatten, als er hier gewesen war.
»Schön, Sie zu sehen, Sir«, sagte Jim zu Frank, der gerade das Pulled Pork aus dem Smoker nahm.
»Ja, ebenso. Es ist schön, dass Kristen die Kollegen auch herbringt, wenn es nicht um eine Entführung geht.«
»Ja, Sir.«
»Wenn ihr beide mich entschuldigen würdet«, sagte ihr Vater und brachte das Fleisch ins Haus.
Einen Moment lang sagten die beiden nichts und sahen nur ihren Atem in der frischen Winterluft dampfen. Dann räusperte sich Wonderkid und sagte. »Weißt du, ich habe viel von dir gelernt.«
»Jim, wir müssen das nicht tun«, protestierte sie.
»Nein, müssen wir nicht, ich will aber. Als ich dich kennengelernt habe, habe ich dich einfach wegen deiner Persönlichkeit gehasst und ich habe nicht einmal gewusst, was du wirklich bist. In meinem Kopf waren alle Drachen grausame, gefühllose Wesen und ich habe geglaubt, du bist genauso. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass du das geändert hast. Und jetzt kannst du dich sogar verwandeln.« Jim schüttelte den Kopf. »Du sollst wissen, dass ich das immer zu schätzen wissen werde …«
»Was zum Teufel ist da hinten los?« Kristen drehte sich um, als Hernandez mit Keith im Schlepptau am Seiteneingang erschien.
»Kuschelt ihr?«, grinste der Frischling.
»Nein …« Sie versuchte mehr zu sagen, aber Hernandez bemerkte Jims feuchte Augen und grinste.
»Heilige Scheiße, das ist erbärmlich. Du bist noch nicht mal betrunken, Jim. Ein bisschen mehr Rückgrat!« Die Frau lachte und Keith schloss sich ihr an.
»Danke, dass du gekommen bist, Hernandez«, sagte Kristen.
Die Sprengstoffexpertin zuckte die Achseln. »Ach was, ich habe nichts Wichtiges zu tun und wer kann schon zu einem kostenlosen Barbecue nein sagen?«
»Nichts Wichtiges?« Keiths Augenbrauen hoben fast vollständig ab, bevor er knallrot wurde.
»Moment mal …« Kristen blickte von seinem verlegenen Gesicht auf Hernandez’ böses Grinsen. »Ihr zwei …«
»Poppen? Ja, sicher«, sagte die Frau. Er errötete nur noch heftiger.
Jim runzelte die Stirn. »Ich dachte, du wärst … äh …«
»Eine Lesbe? Fick dich, Anfänger. Nein, ich bin keine Lesbe. Ich bumse alles. Bomben, Jungs und Flittchen.«
»Super Sache, Hernandez«, kam von Drew, als er die Stufen des Hauses hinunterging. »Es ist gut zu wissen, dass deine Arbeitsmoral jetzt völlig vor die Hunde geht.«
Sie zuckte die Achseln und sah tatsächlich stolz auf sich selbst aus.
»Drew! Du hast es auch geschafft«, freute sich Kristen.
»Fast wäre ich zu Hause geblieben, damit du dich schuldig fühlst und uns möglichst bald besuchen kommst.« Er lächelte.
»Niemand ist schuldiger als der Stahldrache«, fügte Keith hinzu.
»Ich besuche euch so oft ich kann, aber ich bin trotzdem froh, dass du hier bist.«
»Natürlich. Ich würde es nicht verpassen wollen. Dein Vater kennt die besten Geschichten über die Pensionäre von der Polizei.«
Sie musste schmunzeln. Drew war zu einhundert Prozent Polizist, selbst außerhalb der Arbeitszeit.
»Wow. Eine Stimme für den fetten Vater des Stahldrachen. Das ist neu«, sagte Hernandez.
Kristen hätte sich vielleicht dagegen gesträubt, dass jemand ihren Vater als fett bezeichnet – auch wenn es der Wahrheit entsprach – aber sie war so verdammt froh, dass die Leute, die gesehen hatten, wie sie sich verwandelt und einen Drachen bis zum Tod bekämpft hatte, hier waren und ihre Eltern immer noch als ihre Eltern betrachteten.
Drew lächelte unbeholfen. »Ich habe eine Hall kennengelernt. Sie sind alle cool. Das will ich nicht verlieren.«
»Es ist ja nicht so, dass ich für immer verschwinden werde! Ihr redet über mich, als ob ich auf einen anderen Planeten ziehen würde. Wir sehen Stonequest doch auch regelmäßig. Ich werde in der Nähe sein.«
Wegen dieser Aussage rollten alle Teammitglieder mit den Augen. Hernandez ging so weit, dass sie sogar vor Spott schnaubte. »Ja, richtig, Red – vielleicht sollte ich dich jetzt Stahl nennen – als ob du jemals Pause machen würdest. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du einer existenziellen Bedrohung für die Drachenart gegenüberstehst und dich dann um fünf Uhr abmeldest, nur um bei uns für eine Runde Softair vorbeizukommen.« Als sie aufgehört hatte zu sprechen, war der Humor aus ihrer Stimme gänzlich verschwunden.
»Ja … ja, ich schätze, du hast recht«, lenkte Kristen ein. Plötzlich fühlte sich die Luft viel kälter an, als sie tatsächlich war. »Wollt ihr reingehen, Leute?«
»Willst du keine Tricks oder so etwas vorführen? Uns irgendwelche Drachenmoves vorführen?« Keith versuchte zu scherzen, weil er sich in diesem Moment dazu gezwungen fühlte.
»Ich kann nicht. Mein Vater bringt mich um, wenn ich hier hinten auch noch den Rasen versaue.«
Das hatte zumindest ein paar Lacher verdient. Als sie hereingingen und ihre Jacken auszogen, war die Hilflosigkeit verschwunden. Bis Butters mit Beanpole direkt hinter ihm durch die Vordertür hereinplatzte.
»Kristen! Komm, eine Umarmung bevor ich ganz mit Soße bekleckert bin.«
Er stolperte vorwärts und schlang seine Arme um sie. Sie roch den Alkohol in seinem Atem. »Hat er getrunken?«, fragte sie Beanpole.
Der Mann zuckte die Achseln und nickte dann schnell. »Er sagte, er kann nicht nüchtern Abschied nehmen.«
»Und jetzt muss ich das auch nicht mehr«, meinte der Scharfschütze und drückte sie ganz fest an sich.
»Kumpel, lass los, bevor sie sich in Stahl verwandeln muss«, rief Keith aus der Küche.
Butters ließ sie frei und rieb sich die Augen.
»Ich möchte, dass du weißt, dass du immer auf uns zählen kannst, wenn das Dragon-SWAT dir Schwierigkeiten bereitet.«
»Ha!«, lachte Hernandez. »Um was genau zu tun?«
»Ich habe die Scharfschützin gesehen. Ich werde Löcher in ihre Flügel ballern. Ich werde ihnen auf den Schwanz treten und ich werde … ich werde …«
»Es ist angerichtet!«, schrie Kristens Mutter und Butters änderte sofort sein Benehmen.
»Ich muss meinen Teller füllen.« Kristen war vergessen, er marschierte in die Küche. Sehr zur Freude ihrer Mutter stürmte er voran und stapelte Pulled Pork, Huhn, Nudelsalat, Krautsalat und ein paar Burgerbuns – um alles hineinzupacken – auf seinem Teller.
Die anderen folgten, zum Schluss Kristen. Brian kam erst wieder als sie bereits saßen und beschwerte sich laut über die Ungerechtigkeit, dass man wegen Mixed Pickles losgeschickt wurde, nur um schlussendlich festzustellen, dass niemand sie brauchte. Marty tröstete ihren Sohn, indem sie das Gemüse kleinschnitt und auf seinen Teller legte, was alle Polizisten am Tisch nur zum Lachen brachte und ihren Sohn überhaupt nicht erfreute.
»Ein Toast!«, sagte Frank Hall, hob seine halb leere Dose Bier und wartete darauf, dass sich alle beruhigten. »Auf Kristen! Deine Mutter und ich wussten immer, dass du etwas Besonderes bist. Du bist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, dessen Eltern nicht überrascht waren, als sie herausfanden, dass du tatsächlich ein Drache bist. Du bist unglaublich, Krissy und jetzt hast du einen Drachen besiegt, und na ja, ich bin so … Das ist …« Er meinte es ja gut, aber jetzt begannen Tränen zu fließen.
Ihre Mutter versuchte, die Ansprache zu retten. »Wir sind stolz auf dich, Schatz, und wir werden immer für dich da sein.«
»Auch wenn hier wieder Leute einbrechen?«, fragte Jim. Scheinbar hatte er ein Bier zu viel erwischt. Diese Frage war ein wenig zu unhöflich für das normalerweise perfekte Verhalten von Wonderkid.
»Wir verschwinden nicht einfach, weil einige Arschlöcher dachten, sie könnten uns Angst einjagen, vor allem nicht jetzt, wo meine Schwester sich in einen Volldrachen verwandeln kann«.
Alle lachten über Brians Witz und Kristen hatte schließlich das Gefühl, dass alles in Ordnung wäre. Diese Leute – ihre Leute – würden ohne sie auskommen können. Sie waren stark, mutig und zu Dingen fähig, für die sie Drachenfähigkeiten brauchte. Sie war stolz, sie zu kennen und wusste, dass jeder von ihnen auf seine eigene Art und Weise definierte, wer sie war.
Die Party dauerte bis spät in die Nacht und ihre Kollegen waren so betrunken, dass sie auf der Couch eingeschlafen waren. Marty hätte niemanden, der auch nur an einem Bier genippt hatte, nach Hause fahren lassen.
Als Stonequest am Morgen in einem Schneeschauer ankam, um Kristen zum Drachen-SWAT zu bringen, waren alle Menschen da, die sie liebte, um sich zu verabschieden und ihr alles Gute zu wünschen.
Als sie sich in ihren Drachenkörper verwandelte – ganz vorsichtig, um den kostbaren Rasen ihres Vaters nicht zu beschädigen – dachte sie an alles, was sie ihr gegeben hatten. Das Vertrauen. Mut. Seltsam gute Reflexe, wenn es um Kampfspiele ging. Sie wäre vermutlich immer noch ein Drache geworden ohne sie, aber sie wäre nicht der Mensch geworden, der sie war. Die Person, die sie alle anfeuerten, sie beleidigten, zu der sie aufschauten oder der sie vertrauten, so wollte Kristen am liebsten sein.
Mit seltsamer Leichtigkeit im Herzen machte sich Kristen zusammen mit Stonequest auf und winkte den Menschen, die sie so sehr liebte, zum Abschied. Sie wusste, dass sie sie wiedersehen würde – sich selbst zu verleugnen, wäre als würde sie verleugnen, dass sie ein Drache war. Sie würde die Welt immer so sehen, wie sie nun einmal war.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Stonequest über den Wind hinweg. Er hatte zweifellos ihre Aura gespürt.
»Ich glaube, das bin ich. Dank all der Leute da unten.«
Der Stahldrache und Stonequest flogen in eine ungewisse Zukunft.
ENDE
Kristen Hall kehrt zurück in:
»Stahldrache 04«
Kristen Hall ist als Mensch aufgewachsen – aber sie ist keiner. Sie ist ein Drache.
Und die Drachenwelt wird nie mehr dieselbe sein.
Sie hat eine gewisse Kenntnis über ihre Kräfte erlangt und sogar einen feindseligen Drachen besiegt.
Aber nichts davon konnte sie auf das vorbereiten, was auf sie zukommen würde. Kristen wurde eingeladen, sich dem Drachen-SWAT anzuschließen – einer Drachentruppe, die für Recht und Ordnung unter den Drachen sorgt. Aber nicht jeder Drache ist mit dem Status quo zufrieden; einige sehen die Menschheit als Bedrohung an, die beseitigt werden sollte. Sie sind nicht allein. Eine wachsende Zahl von Menschen empfindet dasselbe für Drachen.
Auf der Welt gibt es Mächte, die beide Rassen in einen endgültigen Konflikt zwingen wollen. Der Preis? Das Überleben einer Spezies und die Kontrolle über die Erde.
Mächtige Menschen und Drachen spielen Schach um die Zukunft der Welt. Aber Kristen ist ein Mitspieler, mit dem weder die Einen noch die Anderen gerechnet hatten. Sie könnte das Gleichgewicht der Kräfte in beide Richtungen ausschwenken lassen.
Der Stahldrache hat aber auch eigene Pläne. Bewaffnet mit dem Ehrgefühl, das ihr von ihren menschlichen Eltern mitgegeben wurde, wird sie den Geheimnissen auf den Grund gehen müssen, wenn sie auch nur die geringste Chance haben will, einen katastrophalen Krieg abzuwenden!