Merkwürdiges Wetter.
Heiß und kalt zugleich, dachte Eva Harris, während sie die Tür des Zivilfahrzeugs zuknallte und auf ein blau-weißes Absperrband zuging, das in der frischen Morgenbrise flatterte. In den Nachrichten sagten sie dazu Altweibersommer, doch dieser Name wurde dem bizarren Widerspruch aus kaltem Nordwind und schwülem Sonnenschein, der von einem grellblauen Septemberhimmel herabströmte, nicht gerecht.
Kühle Windböen scheuchten trockene Blätter zu Wirbeln auf, die um sie herum flogen wie krallenbewehrte Gespenster. Heiß und kalt zugleich, dachte Eva erneut. Die Worte kamen ihr vor wie eine Metapher für irgendetwas, obgleich sie im Moment nicht erkennen konnte, wofür. Sie zog ihren Mantel fester um sich und schlug den Kragen gegen den Wind hoch, obwohl die noch tief stehende Sonne ihr bereits den Rücken wärmte. Mit raschen Schritten ging sie auf den Polizisten zu, der hinter dem Absperrband wartete und ihr entgegenblickte.
Ihr war klar, dass sie auffiel. Eva, eine recht hochgewachsene Frau mit kurzem blondem Haar und dem Körper einer Tänzerin, betrachtete die Welt mit Argwohn. Sie starrte sie aus hellgrünen Augen an, sah unter gewölbten dunklen Brauen hervor, die ein schmales ovales Gesicht mit hohen, fast schon slawisch anmutenden Wangenknochen in ein Oben und Unten teilten. Ihre Haut war blass und makellos. Ihr Haar war zu stufigen Stacheln geschnitten, kaum einen Zentimeter lang, die die Eleganz ihrer Schädelform unterstrichen. Eva war durchaus imstande, in den Spiegel zu schauen und zu wissen, dass sie umwerfend aussah, doch sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass ihr straffer und sehniger Körper die Konsequenz von Sport und Notwendigkeit war, nicht von Affektiertheit. Ihre Hände waren lang und schlank, ihre Fingerknöchel jedoch, besonders die der ersten und zweiten Gelenke, hart und schwielig. Eine Folge des stundenlangen Eindreschens auf Sandsäcke oder Punchingballs. Ihre Miene spiegelte ausnahmslos das Misstrauen wider, mit dem sie dem Leben begegnete. Sie wirkte vorsichtig, berechnend und erfahrener, als es von jemandem in ihrem Alter zu erwarten gewesen wäre. Mein Gott, dachte Eva, als sie an die Absperrung trat, ich sollte gar nicht hier sein.
Doch als sie vor dem Band stehen blieb, blickte der Constable mit ernstem Gesicht auf sie herab und hob es für sie an. Ohne Schuhe war Eva eins achtundsiebzig groß, der drahtige Polizist jedoch maß bestimmt über eins fünfundachtzig. Keine Spur des Gedankens, der ihm mit Sicherheit durch den Kopf ging, zeigte sich auf seinem Gesicht. Sie war gelinde beeindruckt. Nichts an ihm sagte: Die ist aber ganz schön jung für einen DI .
Eva duckte sich unter dem Absperrband hindurch und blieb neben ihm stehen. »Wer beaufsichtigt den Tatort?«
»Sergeant Moresby«, antwortete der Constable. »Er ist gerade auf der anderen Seite vom Haus. Sie können ihn nicht verfehlen.«
Es war das zweite Mal heute Morgen, dass sie diesen Namen hörte. Eva wusste nicht, was er damit meinte, dass sie ihn nicht verfehlen könne, doch sie nickte und machte sich auf den Weg ums Haus herum. Ein kleiner Sieg, dachte sie, einer, den sie im Stillen für sich verbuchte. Wenigstens hatte sie ihn nicht gefragt: Wer ist hier zuständig? Die Antwort des Constable hätte nur lauten können: Sie.
Ich bin zuständig. Insgeheim machte dieser Gedanke ihr eine Heidenangst. Der erste Tag eines frischgebackenen Detective Inspector in einer neuen Dienststelle, und hier war sie an einem Tatort, und zwar an einem analogen Tatort. Dies war nicht etwa ein Cyberverbrechen. Eigentlich hatte Eva damit gerechnet, dass sie ihre erste Stelle als DI in der Stadt antreten würde, wo sie sich mit digitaler Forensik befassen und komplexe Betrugsfälle lösen würde. Dafür war sie ausgebildet, auf diesem Feld brillierte sie.
Ganz schön jung für einen DI . Nun ja, mit siebenundzwanzig mochte das vielleicht stimmen, jedenfalls in allen anderen Bereichen außer dem der Cyberkriminalität, und genau auf diesem Gebiet hätte Eva Harris sich gern hervorgetan. Sie hatte sich als Leiterin eines Teams aus intelligenten und sogar noch jüngeren Analysten gesehen, die alle an Schreibtischen hinter Bildschirmen saßen, alle eine Armlänge von der wirklichen Welt entfernt. Eva, Informatikerin mit einer Leidenschaft für Komplexität und mit einem ebenfalls komplexen persönlichen Hintergrund, war mehr als bereit für digitale Ermittlungen und für das Entwirren der Windungen von Darknets und Dark Webs. Das war ihre Absicht gewesen, die geplante Flugbahn ihrer jungen Karriere, doch jemand anderes hatte andere Pläne mit Eva Harris. Jemand wollte sie hier haben, an diesem spezifischen Ort, und zwar aus komplexen persönlichen Gründen. Sie wusste genau, warum. Es kotzte sie an, doch sie verstand die gnadenlose Logik dahinter und wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich dagegen zu wehren. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war hier, jetzt, und sie hatte eine Aufgabe zu erledigen. Friss oder stirb, dachte Eva, während sie den Rücken durchstreckte und sich zwang, das Gefühl der Enttäuschung tief in ihrem Innern zu begraben. Und trotzdem belastete es sie. Sie war noch nicht einmal auf dem Revier gewesen.
Heute Morgen um sechs unter der Dusche hatte sie das Telefon gehört, als das dampfende Wasser sie gerade richtig wach gemacht hatte. Der Officer aus der Zentrale hatte sich entschuldigt. Detective Chief Inspector Sutton werde es erst später schaffen, sagte er; ob es DI Harris etwas ausmachen würde, ihren Dienstwagen abzuholen, bevor sie aufs Revier kam?
Das an sich schien kein großes Problem zu sein, auch wenn Eva die Vorstellung bei ihrem neuen Team hatte hinter sich bringen wollen. Wieder hatte sich das belastende Gefühl, in eine Situation hineingeworfen worden zu sein, über die sie keine Kontrolle hatte. Es überraschte sie nicht, dass Sutton da sein wollte, wenn sie auf dem Revier eintraf, und wenn auch nur, um sie vorzustellen und den Erwartungshorizont zu skizzieren. Eva hatte zugestimmt und war mit einem Taxi zu dem Autohaus in der Portsmouth Road gefahren, von dem die Polizei der Grafschaft Fahrzeuge für Zivilbeamte leaste. Der Wagen schien gut in Schuss zu sein, dunkelblau und noch ziemlich neu. Sie wollte gerade losfahren, als ihr Handy abermals klingelte. Wieder die Zentrale, diesmal jedoch war es dringend. Könnte DI Harris wohl auf kürzestem Weg zu einem gemeldeten Vorfall fahren, bitte? Sergeant Moresby sei bereits vor Ort. Vielleicht ist es ja eine Routinesache, hatte sie gedacht, während sie dem Navi die Adresse diktierte, die ihr der Officer von der Zentrale genannt hatte, doch das kurze Gespräch, das dann folgte, hatte diese Hoffnung rasch zunichtegemacht.
Eva blieb kurz auf dem Rasen des Vorgartens stehen und versuchte, so viel wie möglich in sich aufzunehmen. Das Haus war riesig. Es musste ein Vermögen wert sein, denn es stand in einer exklusiven Villenanlage im Speckgürtel von Surrey, ungefähr dreißig Kilometer vom Stadtzentrum Londons entfernt. Eine rasche Handyrecherche ergab, dass St Jude’s Hill über viertausend Quadratkilometer groß war, auf dieser Fläche aber nur vierhundert Häuser standen, alle durch alte Bäume und getrimmte Hecken voneinander abgeschirmt und durch schmale, gewundene Straßen miteinander verbunden. Die Zentrale hatte ihr nicht allzu viele Details genannt, nur dass der Vorfall als Mord klassifiziert wurde. Das hätte Sergeant Moresby gesagt.
Als sie um die Hausecke bog, wurde ihr klar, was der Constable gemeint hatte. Sergeant Will Moresby, wahrscheinlich fünfzehn Jahre älter als sie, stand neben dem Haus wie ein Gorilla. Wie ein Silberrücken, der über sein Revier wachte. Nicht ganz so groß wie der Constable, aber fast doppelt so schwer, mit dichtem schwarzem Haar und dicken Augenbrauen, die ohne den Einsatz eines Rasierers in der Mitte zusammengewachsen wären. Der wiegt bestimmt mindestens zweieinhalb Zentner, dachte Eva und starrte ihn an. Nicht viel davon sah aus wie Fett.
Moresby bemerkte sie sofort und kam herübergestapft. »Guten Morgen«, knurrte er. »Tut mir leid, dass ich Sie gleich am ersten Tag hier rauszerre. Ich würde Sie ja gerne in Surrey willkommen heißen, aber ich fürchte, Surrey zeigt sich heute Morgen nicht gerade von seiner allerbesten Seite.«
Er sah wirklich aus wie ein Gorilla, dachte Eva im Stillen, während sie nach etwas suchte, was sie sagen könnte. Die Uniform spannte über seinen Muskeln. Riesige Hände baumelten am Ende seiner Arme, und beim Gehen beugte er sich ein ganz klein wenig nach vorn. Sie konnte sich vorstellen, wie er seine Wut auf irgendein unseliges Objekt seines Verdrusses herausbrüllte, wahrscheinlich kurz bevor er dem oder der Betreffenden sämtliche Gliedmaßen ausrenkte. Trotzdem, stellte sie fest, als sie den Mut aufbrachte, seinem Blick zu begegnen, seine dunkelbraunen Augen waren nicht unfreundlich. Aus irgendeinem anderen Grund als durch seine schiere Masse machte er augenblicklich Eindruck auf sie. Kein rachsüchtiger Mensch, dachte sie. Was man sieht, ist wahrscheinlich das, was man bekommt.
»Viel habe ich von der Zentrale nicht erfahren«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ist die Leiche im Haus?«
»Ja«, antwortete er. »Wir können sofort reingehen, wenn Sie möchten, aber die Kollegen von der Spurensicherung haben gesagt, sie hätten gern noch ein bisschen Zeit, um sicher zu sein, dass sie auch alles auf die Reihe bekommen haben.« Er hielt kurz inne. »Wenn’s was hilft, könnte ich Ihnen ein bisschen was über den Laden hier erzählen, während die da drin alles klarmachen?«
Ein entscheidender Moment, das spürte sie sofort. Wer würde sie sein? Die arrogante, dominante DI -Zicke, die auf Chefin machte und erwartete, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten, oder eine intuitive Polizeibeamtin, die zuhörte und tatsächlich zur Kenntnis nahm, was andere dachten? Wenn sie es aus dieser Perspektive betrachtete, schien die Antwort eindeutig zu sein.
»Okay, Sergeant«, sagte Eva. »Dann führen Sie mich doch mal ein bisschen herum.«
Moresby führte sie zum Ende des Grundstücks, auf einen grasbewachsenen Hügel, der sanft zur Gartenmauer hin abfiel, die hier aus alten Ziegelsteinen bestand und größtenteils von Rhododendron- und Lorbeerbüschen verborgen wurde. Durch eine schmale Lücke in dem üppigen Blattwerk konnte Eva fast bis zur Straße dahinter sehen. Der Anblick irritierte sie; sie wusste nicht, wieso. Vielleicht waren es die dunklen, schweren Büsche oder die Bäume, deren zackige, überhängende Äste eine Art Käfig vor dem Himmel bildeten. Es kam ihr vor, als hinge eine unnatürliche Düsternis über der Gegend mit den schmalen Straßen. Ein Ort, wo gelogen wurde, dachte Eva, wo Geheimnisse bewahrt und begraben wurden. Überall um sie herum zitterten und raschelten herabfallende Blätter in der Brise. Als sie versuchte, das Gefühl düsterer Vorahnung zu ignorieren, sagte etwas im finstersten Winkel ihres Verstandes: Tu’s nicht.
»Ich glaube, die haben hier in den Zwanzigern angefangen zu bauen«, sagte Moresby, während er den Zweig eines Busches zur Seite bog, um das Sichtfenster etwas zu verbreitern.
Jetzt konnte Eva durch die Lücke zumindest noch die Dächer einiger nahe gelegener Häuser ausmachen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, warum er ihr diese Aussicht zeigte. Die Abgeschiedenheit überraschte sie. Hier im Herzen der wohlhabenden Home Counties nahe London hatte dergleichen bestimmt seinen beträchtlichen Preis.
»Das hier ist eine der teuersten Wohnanlagen im ganzen Land«, fuhr Moresby fort. »Passiert nicht oft, dass Immobilien hier für unter zehn Millionen Pfund auf den Markt kommen. Früher war’s mal ein beliebter Treff für alternde Rockstars und Hedgefonds-Manager, aber im Laufe der Jahre haben sich reiche Ausländer die meisten Häuser unter den Nagel gerissen.« Seine XXL -Gesichtszüge knautschten sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Das kann manchmal ein Problem sein.«
»Wieso?«
»Es macht sie zu Zielscheiben. Wenn viele reiche Ausländer dicht beieinanderwohnen, können Gangs manchmal der Versuchung nicht widerstehen. Und nicht nur Gangs. Hier hat’s auch schon politische Intrigen gegeben.« Er ließ den Zweig zurückschnellen. »Es heißt, inzwischen gehört ein Drittel der Häuser hier Russen.«
»Machen die Ärger?«
»Die Russen?« Ein Achselzucken. »Kaum. Oh, ab und an läuft mal eine Party aus dem Ruder, aber nichts, worüber man in Wallung geraten würde. Wir hatten allerdings auch schon ein paar üble Einbrüche. Vor ein paar Jahren hat eine Gang eine Familie festgehalten und die Frau gefoltert. Sie haben ihr kochendes Wasser über den Rücken gegossen, bis der Ehemann den Code für den Schmucksafe rausgerückt hat. Ist schwer, so was zu verhindern. Hier gibt es ’n Security-Mann am Tor, aber Fort Knox sieht anders aus. Der Reiz der Anlage besteht zum Teil darin, dass es hier immer noch verhältnismäßig sicher ist, trotz einiger aufsehenerregender Vorfälle. Ist ’ne reiche Gegend. Auf der einen Seite haben Sie Esher, auf der anderen Weybridge, und Cobham ist gleich die Straße runter. Wenn hier Aston Martins und Maseratis vorm Supermarkt halten, zuckt keiner mit der Wimper.«
»Und was ist dann das Problem?«
Moresby stopfte einen Moment lang die Hände in die Taschen seiner Uniform und sah aus, als versuchte er, ihr durch seine Körperhaltung etwas mitzuteilen. »Einfach nur der Umgang mit denen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Hier ist es anders als irgendwo sonst im UK . Das Ganze ist mehr eine Offshore-Steueroase als eine private Wohnanlage. Jeder hier ist so reich wie Krösus, hat Anwälte für alles und jedes und kann nach Belieben raus aus dem Land und wieder rein. Ich rechne immer schon halb damit, dass meine Jungs ihre Pässe vorzeigen müssen, wenn sie hier reinwollen. Erwarten Sie nicht, dass die sich so benehmen wie wir gemeine Sterbliche. Selbstherrlich reicht als Beschreibung vorn und hinten nicht aus.«
Eva war dankbar für die Warnung. »Ich verstehe«, sagte sie. »Danke für die Info. Trotzdem haben wir einen Mord.«
»Richtig«, bestätigte Moresby und runzelte nicht mehr nur die Stirn, sondern machte zusätzlich noch ein ausgesprochen finsteres Gesicht. »Und zwar keinen schönen. Ein weiteres Problem ist«, setzte er hinzu, während er ihr voran zum Haus zurückging, »ich glaube, mit diesem Arschloch hatten wir schon mal zu tun.«
Ein mit weißem Plastik abgedecktes Zimmer.
Moresby trat als Erster ins Haus, vorbei an dem Constable, der an der Haustür Wache stand. »Die Leiterin der Spurensicherung heißt Judy Wren«, ließ er sie über die Schulter hinweg wissen. Dann senkte er die Stimme. »Hat bestimmt inzwischen jedes Staubkorn markiert.«
Das war ein Kompliment, entschied Eva. Wenn sie recht darüber nachdachte, fiel auf, wie schnell der Einsatz am Tatort organisiert worden war. Als sie hier angekommen war, hatten Tatortermittler bereits das Grundstück durchkämmt und aufmerksame Constables den abgesperrten Bereich überwacht. Außerdem war die Zentrale umfassend informiert worden, auch wenn die Kollegen ihr nicht viel hatten erzählen können. Das alles war Moresbys Werk, wurde ihr klar. Er war professionell, ohne überheblich zu sein; das gefiel ihr, stellte sie fest. Doch was als Nächstes kam, gefiel Eva überhaupt nicht.
In dem Zimmer stank es nach Tod. Der Geruch, der ihr beim Eintreten entgegenwallte, war der von Leichen, aus denen sämtliche verbliebenen Flüssigkeiten ausgetreten waren. Sie fuhr ein wenig zurück, als ihr der ätzende Gestank die Tränen in die Augen trieb. Als sie dessen Ursprung erblickte, hätte sie beinahe gewürgt.
Großer Gott. Sie erkannte, dass es eine Frau war, weil der Leichnam nackt an einen Stuhl gefesselt war. Kabelbinder waren um ihre Handgelenke und Knöchel geschnürt. Schlaff herabhängender Unterkiefer, nach hinten gekippter Kopf. Falsch, dachte Eva und zwang sich, genau hinzuschauen. Der Kopf war mit einem Nylongurt in dieser Haltung fixiert worden, der um die Stirn gelegt und dann hinter ihr festgemacht worden war. Weiße Haut, unnatürlich weiß, fast schon mumifiziert, so schien es jedenfalls. Der Stuhl stand in einer Lache, die der Leichnam selbst erzeugt hatte. Urin und Fäkalien hatten sich vermengt und waren als Brei die Beine der Toten hinuntergelaufen und in den dunkelbraunen Teppich gesickert. Doch das war es nicht, was Eva am meisten zu schaffen machte. Es war nicht der Zustand ihrer Haut oder das Miasma des Todes, das sie traf wie eine Ohrfeige. Es waren die Augen. Leere Höhlen dort, wo sie hätten sein sollen. Zwei klaffende Öffnungen vorn im Schädel. Jemand hatte sowohl die Ober- als auch die Unterlider abgetrennt und die Augäpfel herausgeschnitten.
»Irgendjemand hat gesagt, heute ist Ihr erster Tag?« Eine durch einen Mundschutz gedämpfte Stimme. »Möglicherweise nicht gerade der Einstand, den Sie sich erhofft haben.«
Judy Wren, vermutete Eva. Eine drahtige Frau, nach den Fältchen um ihre Augen herum zu urteilen, etwa Mitte fünfzig. Mit einer kleinen Taschenlampe in der Hand stand sie über dem Leichnam und leuchtete in die leeren Augenhöhlen.
»Gefrühstückt habe ich nicht, falls Sie das meinen«, sagte Eva und trat vorsichtig auf die Tote zu.
»Ist wahrscheinlich besser so«, erwiderte Wren. Dann richtete sie sich auf. »Darf ich vorstellen? Irina Stepanow, dreiundvierzig Jahre alt und Herrin des Hauses. Wurde heute Morgen um kurz nach halb zehn von ihrer Haushälterin gefunden, als die vom wöchentlichen Einkauf zurückkam. Die steht zurzeit unter Beruhigungsmitteln«, fügte sie hinzu.
»Das wundert mich nicht.« Eingehend betrachtete Eva die Leiche. Irgendetwas daran, diese unnatürliche Blässe, verstand sie nicht. »Was in Gottes Namen ist mit ihr passiert?«
»Ich bin gerade dabei, das festzustellen«, antwortete Wren. Sie nahm ein Skalpell von einem Tablett mit mehreren Instrumenten auf einem Klapptisch. »Swan and Morton, unsteril, Zehnerklinge«, sprach sie halblaut in ein winziges Mikrofon, das an ihren Kunststoffoverall geklippt war. »Mache einen zwanzig Zentimeter langen Schnitt an der Innenseite des linken Unterarms.« Noch ehe Eva wegschauen konnte, hatte Wren den noch immer an den Stuhl gefesselten Arm gedreht und die Klinge angesetzt. Dann stieß sie das Skalpell ins Fleisch und zog es gleichmäßig abwärts, setzte einen langen Schnitt. Die Haut des Arms teilte sich.
Eva sah Muskeln und Sehnen, als die Wunde aufklaffte, sogar Blutgefäße, als Wrens Skalpell sie durchtrennte. Was sie nicht sehen konnte, war auch nur ein Tropfen Blut.
»Damit ist bewiesen«, sagte Wren in ihr Mikrofon, »das Opfer ist exsanguiert worden.«
Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu Eva durchgedrungen waren. »Ich bin etwas später dazugestoßen«, sagte sie zu Wren. »Können Sie mir bitte sagen, was Sie bis jetzt gefunden haben?«
Wren trat von dem Leichnam weg und zog ihren Mundschutz herunter. »Selbstverständlich«, antwortete sie. »Aber hätten Sie etwas dagegen, wenn wir rausgehen? Ich brauche ein bisschen Luft.«
Nein, Eva hatte überhaupt nichts dagegen. Ihr ging es genauso. Gleich hinter der Haustür blieben sie auf der Veranda stehen, die sie vor der Septembersonne und dem Nordwind schützte. Wren zog die Kapuze ihres Schutzanzugs herunter und enthüllte einen wirren eisgrauen Haarschopf. »Ich werde jetzt nicht behaupten, das Ganze wäre nicht bizarr«, sagte sie. »Das ist es nämlich. Das mit den Augen haben Sie ja gesehen. Sie wurde nackt an einen Stuhl gefesselt, und irgendjemand – und zwar jemand, der über entsprechende Fähigkeiten verfügt, würde ich sagen – hat ihr sorgfältig die Augenlider abgeschnitten und dann die Augen entfernt. Aber bevor er das getan hat, hat er beschlossen, sie ausbluten zu lassen. Und ich vermute, bevor er das getan hat«, betonte Wren, »hat er sie sediert. Und dass er sie wiederum davor auch noch betäubt hat.«
Eva blinzelte. »Also kein impulsiver Mord.«
Wren lachte bellend auf. »Auf gar keinen Fall. Noch kann ich das nicht bestätigen, aber ich glaube, das Opfer könnte mit einer Elektroimpulswaffe außer Gefecht gesetzt worden sein, einem Taser. Und zwar einer mit Elektroden, nicht einer, der Nadeln an Drähten verschießt. An ihrem Sternum sind Spuren«, Wren deutete auf ihr eigenes Brustbein, »die dazu passen könnten. Schlaffe Muskulatur deutet auf ein nicht-topisches Sedativ hin; das Mittel dürfte gespritzt worden sein. Und hier wird’s interessant.« Eva wartete, während die Forensikerin ihre Gedanken ordnete. »Ich konnte nur eine Einstichstelle finden, und die ist am Hals.«
Jetzt war sie es, die wartete, während Eva die Informationen verarbeitete. Wrens Miene verriet nichts. Ein Test also, vermutete Eva, aber keine Prüfung. Wren wollte sehen, ob Eva aufgrund der Informationen, die sie ihr gegeben hatte, zu demselben Schluss kam, der in ihrem Kopf bereits Gestalt angenommen hatte. Ein Puzzle, wenngleich nur ein kleines. Eine mentale Übung, in der Eva nach ihrer grausigen ersten Begegnung mit Irina Stepanow ganz kurz Trost finden konnte.
»Ausbluten«, sagte sie nach einem Moment des Nachdenkens, »heißt, dem Körper das gesamte Blut entziehen, stimmt’s? Normalerweise wird dieser Begriff mit Verbluten gleichgesetzt. Dafür muss das Blut ja irgendwo rauskommen, aber ich habe keine klaffenden Wunden an dem Opfer gesehen, außer der, die Sie ihm gerade zugefügt haben.« Sie ließ sich die Fakten noch ein wenig durch den Kopf gehen, bis sich die Puzzleteile zu einem logischen Bild zusammensetzten. »O Scheiße.«
»Genau.« Wren schnitt eine Grimasse, machte endlich ihren Gefühlen Luft. »Das ist so verdammt kaltherzig, nicht wahr?«
»Ich nehme mal an, es gibt keinerlei Hinweise auf sexuellen Missbrauch, obwohl sie splitternackt an den Stuhl gebunden ist?«
Wren schüttelte den Kopf.
»Aber eine Einstichstelle am Hals. Also hat der Mörder was getan? Eine Art Venenkatheter benutzt?«
»Darauf würde ich tippen. Eine Kanüle in der Halsschlagader, mit einem Schlauch dran, um das Blut abzulassen. Bedenken Sie, dass rund um das Opfer kein Blut zu sehen war; es wurde also beseitigt, ebenfalls mit großer Sorgfalt.«
Eva wandte sich ab und fing an, auf und ab zu gehen. »Und keinerlei Einstichstelle, wo das Sedativ verabreicht worden ist? Das heißt, er hat es wahrscheinlich an derselben Stelle injiziert. Was wiederum darauf hindeutet, dass der Mörder aus irgendeinem Grund verheimlichen wollte, um was für ein Sedativ es sich gehandelt hat?«
»Er hat das Blut beseitigt und versucht, die Einstichstelle zu verbergen. Das ist eine Arbeitshypothese. Falls im Körper noch Rückstände des Sedativs vorhanden sind, sind die längst vom interstitiellen Bindegewebe absorbiert und durch Autolyse kontaminiert worden. Sobald Zellen nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden, nimmt ihre Azidität zu. Das betrifft sämtliche injizierten körperfremden Substanzen, die noch im Gewebe sind, sodass sie wahrscheinlich nicht mehr zu identifizieren wären. Außerdem ist es ziemlich schwer, alles Blut aus einem Leichnam rauszukriegen. In diesem Fall hätte der hydrostatische Druck durch den weit oben gelegten Katheter allerdings dabei geholfen. So kann man auch ein Aquarium mit einem dünnen Schlauch entleeren: Solange eine Druckdifferenz besteht, läuft das Wasser weiter ab.«
Eva machte ein finsteres Gesicht. »Einen Körper ausbluten zu lassen ist nun doch etwas anderes, als ein Aquarium zu entleeren.«
»Ist ja nur eine Analogie«, entgegnete Wren. »Aber ich weiß nicht, wieso verheimlicht werden sollte, was für ein Sedativ benutzt wurde. Keine Ahnung, was einem das bringt.«
Eva schloss kurz die Augen. »Im Moment müssen wir den Grund nicht kennen. Wir müssen nur wissen, wie der Täter vorgegangen ist. Im Körper eines Menschen sind ungefähr viereinhalb Liter Blut. Was macht man mit viereinhalb Litern Blut?«
»Also, in den Ausguss kippt man die nicht, es sei denn, man hat’s eilig. Da kann zu viel nachzuweisen sein, im U-Rohr oder im Überlauf. Wenn man wirklich etwas verbergen will, ist das zu riskant. Man könnte es in der Toilette runterspülen, aber dann wäre da trotzdem noch die Frage, was man mit dem Behälter macht.«
»Ausspülen?«
»Sehen Sie hier irgendwo einen Behälter?«
Da war etwas dran. Wieder dachte Eva über das Problem nach. »Hat er’s mitgenommen?«
Wren strich sich skeptisch mit einem Finger übers Kinn. »Außer um irgendwas zu verbergen, was sich im Blut befand, fällt mir nichts ein, was dafürspricht, das Blut abzulassen. Ich meine, es hat doch keinerlei Wert, oder? Wenn man etwas mit der DNA anstellen will, braucht man nur eine kleine Blutprobe und nicht viereinhalb Liter. Es gibt nichts, weswegen es sich lohnen würde, einen Eimer voll stinknormalem O-Rhesus-positiv-Blut zu behalten. Die Blutgruppe weiß ich von ihrem Hausarzt«, setzte sie hinzu, als sie Evas hochgezogene Braue sah.
»Die Augen hat er wahrscheinlich mitgenommen. Warum also nicht auch das Blut?«
Wren schien zufrieden damit zu sein, die Rolle des Advocatus Diaboli zu spielen. »Na ja, Augen sind Organe, sie sind einzigartig. Ein Paar Augen könnte man in der Manteltasche verstecken. Vielleicht hat er ja einen Grund, sie mitzunehmen; als Trophäe oder so. Aber Blut ist doch einfach nur Blut. Und wie erklärt man, dass man viereinhalb Liter schwappende rote Flüssigkeit mit sich herumschleppt, falls jemand fragt? Das behindert einen doch nur. Alles andere an dieser Tat ist genau durchdacht worden. Wieso sich also damit belasten, das Zeug durch die Gegend zu karren, wenn’s nah am Tatort ein Dutzend Stellen geben muss, wo man es entsorgen kann?«
Die Logik der Theorie war nicht von der Hand zu weisen, dachte Eva, und nur schwer zu widerlegen. Sie musste die Tatsache ignorieren, dass sie ihrer eigenen Ansicht nach gar nicht hier sein sollte. Was wusste sie, was sie nutzen konnte? Hierfür brauchte sie Ockhams Rasiermesser, beschloss sie nach kurzem Überlegen. Auch lex parsimoniae oder das Sparsamkeitsprinzip genannt. Wenn man sich die verschiedenen für ein Problem infrage kommenden Lösungen ansah, wählte man die einfachste, die am wenigsten Hypothesen enthielt.
»Der Behälter«, sagte sie zu Wren. »Der, in dem er das Blut aufgefangen hat. Der ist noch hier. Er muss noch hier sein. Wir haben bloß noch nicht nach ihm gesucht.«