2. Kapitel

Eva suchte das Gelände ab, bis sie Moresby fand, der weiter seine Runden drehte. Der wuchtige Sergeant unterhielt sich hinter dem Haus mit einem seiner Constables, doch beide verstummten und wandten sich zu ihr um, als sie näher kam.

»Darf ich Sie kurz unterbrechen? Ich habe gerade mit Wren gesprochen, und wir glauben, es gibt da etwas Spezifisches, wonach wir suchen sollten.« Moresby nickte, nur eine winzige Geste, aber eine, die ihr signalisierte, dass sie alles bekommen würde, was sie brauchte. »Dem Opfer ist das Blut abgezapft worden, durch einen Schlauch am Hals. Die Frage ist: Wo ist es geblieben? Im Zimmer sind keinerlei Blutspuren, und nichts weist darauf hin, dass es innerhalb des Hauses entsorgt wurde, jedenfalls bis jetzt. Wir suchen nach einem Behältnis, das vier bis fünf Liter fassen kann.«

Moresby drehte sich langsam zurück und sah den Constable an, der neben ihm stand und dessen Augen plötzlich schmal geworden waren. »Kommt Ihnen daran irgendwas bekannt vor?«

»Ein bisschen schon, Sarge«, antwortete der Mann, dessen Blick beim Sprechen zwischen Eva und Moresby hin- und herwanderte. »Als sie das erste Mal übers Gelände sind, haben die von der Spurensicherung ein paar Sachen gefunden, die nirgendwo richtig hinzupassen schienen, sie aber nicht für Beweismaterial gehalten. Vielleicht ist das, was Sie suchen, ja dabei.«

Moresby nickte. »Zumindest sollten wir uns das Zeug noch mal ansehen. Wenn, dann ist es in dem Teil vom Garten, den wir zuerst abgesucht haben.«

Er ging ihnen um die Hausecke herum voraus und hielt auf eine Terrasse zu, wo sich Kletterrosen an altersschwachen hölzernen Gittern emporwanden.

Im Gehen stellte Eva ihm Fragen. »Wie war das vorhin gemeint, als Sie gesagt haben, Sie glauben, Sie haben mit diesem Täter schon einmal zu tun gehabt?«

Moresby verzog das Gesicht. Seine Miene drückte Schmerz aus. »Ist jetzt ungefähr vier Jahre her, da hatten wir eine Mordserie mit ein paar ziemlich brutalen Verstümmelungen. Drei Frauen, alle ermordet und zerschnitten. Die Einzelheiten sind verständlicherweise zurückgehalten worden. Den Mörder haben wir nie gefasst.«

»Und er hat einfach aufgehört?«

Moresby zuckte die Schultern. »Ja. Na ja, jedenfalls haben wir ihn nie gekriegt. Wie gesagt, die Verstümmelungen waren auffällig, vor allem an den Augen. Irgendein Schlaumeier hat gesagt, das wäre wie in so einem französischen Schwarz-Weiß-Film aus den Zwanzigern.«

Aus irgendeinem Grund, den Eva nicht sofort verstand, löste dieser letzte Satz etwas in ihrem Innern aus. Dann begriff sie. Eine Erinnerung aus ihrer Studienzeit tauchte plötzlich ungebeten auf und mit ihr ein Titel.

»Un Chien Andalou?«, fragte sie Moresby. »Das war ein früher surrealistischer Film von Luis Buñuel und Salvador Dalí.« Offensichtlich hatte sie richtig geraten. Eva sah den überraschten Blick des Sergeants und zuckte die Achseln. »Ich habe Informatik studiert, aber auch ein paar Kurse in Medienwissenschaft belegt, dafür gab’s Extrapunkte. Der Film ist bei Filmemachern echt berühmt. Ein andalusischer Hund. Dabei sollte er gar keinen Sinn ergeben, sondern nur schockieren.« Eva dachte daran zurück, wie sie den zwanzig Minuten langen Film zum ersten Mal gesehen hatte. »Und das tut er immer noch, bis heute. Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die Nahaufnahme von dem Mädchen? Die Stelle, wo der Mann ihr mit einem Rasiermesser das Auge in der Mitte durchschneidet?«

Moresby schnaubte. »Ich habe mich auf gar nichts bezogen, aber ja, das war’s wohl. Der französische Titel ging einem nicht gerade leicht von der Zunge, also hat der Täter einen anderen Namen bekommen, zumindest auf dem Revier. Wir haben nicht gewagt, ihn an die Presse zu geben.«

»Wie hieß er denn?«

»Der Augenschlitzer.«

Eva machte ein finsteres Gesicht, sagte jedoch nichts.

Als sie in den Rosengarten kamen, trabte der Constable voraus. »Wie gesagt, die von der Spurensicherung fanden das hier ein bisschen komisch«, erklärte er, »aber nicht merkwürdig genug, um es als Beweis zu dokumentieren.« Vorsichtig zog er die emporklimmenden Ranken eines Rosenbuschs auseinander, damit ihm die Dornen nicht die Haut zerkratzten.

Unter dem Busch erkannte Eva Plastik. Ein Fünf-Liter-Mineralwasserkanister, auf dem das Logo eines Supermarktes aus der Gegend prangte, war unter den Blättern versteckt. Sie bemerkte das Unbehagen des Mannes.

»Ich fand’s ja schon ein bisschen ungewöhnlich, Ma’am, weil es im Haus einen Wasserfilter gibt. Das Wasser hier ist sehr hart. Viele Leute hier haben Filter, also warum Wasser kaufen? Aber es schien nichts weiter zu bedeuten.«

Sie beschloss, ihn vom Haken zu lassen. »Tut’s vielleicht auch nicht, trotzdem hätte ich es gern, dass sich die Spurensicherung das Ding mal ansieht.«

Moresby rief Wren an, die kaum zwei Minuten später erschien. »Der Behälter ist heute ausgespült worden«, verkündete sie kurz darauf. »Da unten ist noch ein bisschen Wasser drin.« Dann betrachtete sie den Rand der Öffnung eingehender und grinste. »Aber hier im Gewinde klebt noch ein bisschen dunkle Flüssigkeit. Im Moment kann ich noch nicht genau sagen, ob das Blut ist, aber es sollte gerade eben für eine Analyse reichen.« Sie blickte zu Eva, Moresby und dem Constable auf. »Nicht schlecht«, lobte sie.

Evas Miene war noch immer düster. »Und wo ist das restliche Blut? Hat er das hier draußen in einen Ablauf gekippt?«

Wren erhob sich, den nunmehr eingetüteten Kanister in der Hand. »Blut ist reich an Nährstoffen. So viele kleine Komponenten, von denen sich alle möglichen Lebewesen liebend gern ernähren würden.«

Eva drehte den Kopf zur Seite. »Fuck!«

»Stimmt.« Wren schnitt eine Grimasse. »Ich werd’s überprüfen, aber ich denke, die Würmer freuen sich gewaltig.«

Wren kniete sich auf ein Bodenbrett und stocherte mit einem schmalen Messer in der Erde rund um die Rosenbüsche herum. Sie waren voller kadmiumgelber Blüten, die im grellen Septembersonnenschein zu leuchten schienen. Eva knöpfte ihren Mantel auf, behielt ihn aber an. Dieser gottverdammte Wind, dachte sie, während sie Wren beim Graben zusah. Kalt und trocken, wirbelte er welke Blätter und Staub auf, reizte ihre Augen und wehte alles Mögliche über den Tatort, was nach dem, was sie bisher wusste, entscheidendes Beweismaterial sein könnte. Ohne einen für sie erkennbaren Grund machte der Wind sie wütend. Der Wind und dieses übernatürliche Gefühl, das ihr schon den ganzen Morgen zu schaffen machte. Das Gefühl, dass ihr hier etwas entging.

»Wie ist der Täter in die Anlage gekommen?« Die Frage war nicht an Moresby gerichtet, doch Eva erwartete, dass er sie beantworten würde.

Das tat er auch. »Wir gehen davon aus, dass er als Paketbote getarnt war. Weißer Lieferwagen, eine unauffällige Uniform und ein Amazon-Päckchen mit Namen und Adresse des Opfers drauf. Der Wachmann am Tor hat ihn reingelassen.«

»Ist das üblich?«

»Absolut. Hier gibt’s etwa vierhundert Häuser, da kann man nicht komplett dichtmachen. Die Zufahrtstore sind teilweise überhaupt erst eingebaut worden, damit die Leute aus der Gegend, die nicht hier wohnen, nicht immer die Abkürzung durch die Anlage nehmen.«

»Okay.« Eva versuchte, die Fakten im Kopf zu einer Art Venn-Diagramm zusammenzufügen. »Hat der Wachmann am Tor das Kennzeichen notiert?«

»Ja, es war ein falsches Nummernschild. War übrigens clever, das Kennzeichen gehört zu einem Lieferwagen von einem Mann in Slough. Dieselbe Marke und dieselbe Farbe.«

»Und woher wissen Sie, dass es nicht dieser Wagen war?«

»Durch einen glücklichen Zufall. Der echte ist heute früh auf der M14 geblitzt worden.«

Eva knirschte mit den Zähnen. »Na, das ist doch mal ein Glücksfall, oder?«

»Stimmt. Aber ich lasse das auch gerade überprüfen.«

Inzwischen sollte sie es ja eigentlich wissen. Sie bedachte Moresby mit einem kurzen Lächeln und einem anerkennenden Nicken. »Und was ist hinterher passiert? Wann ist der Täter weggefahren?«

Wieder knautschte sich Moresbys Gesicht zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Das festzustellen ist schwieriger. Die Fahrzeuge, die die Anlage verlassen, werden nicht so umfassend dokumentiert wie die, die reinfahren.« Er zuckte die Achseln. »Kommt vor.«

So was kam wirklich vor; das verstand sie. Selbst mit besten Absichten verschleißen Systeme. An dieses Zitat erinnerte sie sich von einer Vorlesung über Datenmanagement her. Die Diskrepanz der Aussage war in ihrem Kopf hängen geblieben. »Was wäre also normalerweise passiert, nachdem der Lieferwagen des Täters die Anlage verlassen hätte?«

»Er wäre irgendwo von einer Verkehrsüberwachungskamera gefilmt worden; eigentlich müsste man ihn anhand der Aufzeichnungen finden. Hier in der Gegend gibt’s jede Menge ANPR -Kameras, sogar auf ein paar von den größeren Tankstellen.«

Automatic Number Plate Recognition, automatische Kennzeichenerfassung; mit dieser Technik war Eva vertraut. Die Zulassungsstelle benutzte sie, um der Polizei Fahrzeuge zu melden, die ohne Zulassung oder Versicherung unterwegs waren. Etwas machte ihr dennoch zu schaffen, wirklich zu schaffen. Es war ein Gedanke, der mit aller Kraft auszubrechen versuchte, einer, der sich genauso anfühlte wie all die anderen winzigen Trigger und Gefühle, die ihr Bewusstsein piesackten, seit sie am Tatort eingetroffen war. Eine Art Kopfhautkribbeln, etwas, das sich direkt vor ihren Augen verbarg.

Als sie schließlich etwas sagte, kamen ihr die Worte nur langsam über die Lippen, als nähmen die Gedanken dahinter erst noch Gestalt an. Und so war es auch. »Der Täter war also schlau genug, dem Lieferwagen ein falsches Kennzeichen zu verpassen. Aber war er auch schlau genug, von den ANPR -Kameras zu wissen?«

Moresby schwieg.

Eine rhetorische Frage, beschloss sie, natürlich war der Täter schlau genug. »Und wenn die ihn erwischen, könnten wir den Lieferwagen dahin verfolgen, wo er ihn abgestellt hat, egal, wo.« Sie konnte sehen, dass Moresby allmählich begriff. Lex parsimoniae, dachte Eva. Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht, Dummerchen.

Sie sah sich um, betrachtete Wren, die noch immer ihrer gruseligen Gartenarbeit nachging, und die Spurensicherungsbeamten, die jeden Grashalm umdrehten. Nicht nötig, sie jetzt schon aufzumischen, entschied sie. Sie wandte sich wieder Moresby zu.

»Sergeant, warum machen wir beide nicht mal einen Spaziergang?«

Eva ging voraus durch die Absperrung, wo sporadische Windböen das blau-weiße Band noch immer erzittern ließen. Die Straße war still. Ein halbes Dutzend Polizeiwagen und ein paar schwarze Vans der Spurensicherung standen auf der Einfahrt zum Haus, etwas weiter dahinter sah sie ihr Auto, das sie zur Hälfte auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen geparkt hatte.

So ziemlich überall sonst würden in einer solchen Situation Gaffer herumstehen, dachte sie, als sie auf die Straße hinaustraten. Eine Menschentraube, die sich am Absperrband drängte und den diensthabenden Constable mit Fragen nervte. Leute, die die Hälse reckten und hofften, einen Blick auf eine Leiche zu erhaschen, die auf eine Bahre gehoben wurde, oder auf einen Verdächtigen, der in Handschellen aus dem Haus geführt wurde. Hier nicht. Die Straße war verlassen, nichts regte sich in den Häusern auf der anderen Seite, als verstünden die Bewohner die wahre Natur von Gewalt und waren klug genug, sich von ihr fernzuhalten.

»Sie glauben, der Lieferwagen ist noch hier.«

Es war keine Frage. Moresby sprach leise und kniff wegen des Staubes, den die Brise aufwirbelte, die Augen zusammen. Hinter dem Tor wandten sie sich nach rechts, entgegensetzt der Richtung, aus der Eva in die Anlage gefahren war.

Sie versuchte gar nicht, es abzustreiten. »Das Einzige, was man über diesen Mord bisher mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er geplant war. Nichts daran war spontan, nicht einmal der Mineralwasserbehälter, in den der Täter das Blut des Opfers abgelassen hat. Ich würde eine kleine Summe darauf wetten, dass er sogar den mitgebracht hat, weil er wusste, dass die Leute in den Häusern hier Wasserfilter haben und er vor Ort wahrscheinlich kein passendes Behältnis findet. Also hat er selbst dieses Detail geplant.«

»Dem widerspreche ich nicht. Und ich wette auch nicht gegen Sie.«

»Er weiß von den ANPR -Kameras. Ich meine, das muss er wissen, auf der Tankstelle an der Anschlussstelle der A3 sind an jeder Zapfsäule Schilder, die darauf hinweisen.«

»Sie gehen davon aus, dass es ein Er ist.«

Das ließ sie kurz stutzen. »Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit liegt bei über achtzig Prozent. Hat der Typ am Tor bestätigt, dass der Fahrer ein Mann war?«

»Ich glaube, nicht. Er hat gesagt, die Person am Steuer hätte das Fenster geöffnet und das Päckchen rausgehalten; ihr Gesicht hat er nicht gesehen. Oh.« Moresby blieb stehen, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Er hat gesagt, der Fahrer hätte Handschuhe getragen. Wie man sie fürs Autofahren anzieht oder vielleicht fürs Fahrradfahren.«

Eva überlegte kurz. »Aber um den Mord zu begehen, wird er sie ausgezogen haben. Ich wette, dafür hat er OP -Handschuhe benutzt.« Ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt gabelte sich die Straße, und sie blieben stehen.

»Schauen Sie sich die Abfolge der Ereignisse vor dem Mord an. Das Päckchen war vorbereitet, damit ist klar, dass das Opfer nicht spontan ausgesucht worden ist. Die Haushälterin war nicht da, er wusste also, wann er aufkreuzen musste. Der Lieferwagen war präpariert, er hatte eine Uniform an, und er wusste, wo er hinmusste. Wenn Wren recht hat, hat er die Frau mit einer Art Taser außer Gefecht gesetzt und sie sediert. Dann hat er sie ausgezogen und mit Kabelbindern, die er dabeigehabt haben muss, an einen Stuhl gefesselt. Anschließend hat er ihr eine Kanüle mit einem Katheter in die Halsschlagader gestochen und ihr Blut in einen Behälter laufen lassen, den er ebenfalls mitgebracht hatte. Er hat ihr die Augenlider abgetrennt und ihre Augäpfel entfernt, wahrscheinlich mit chirurgischen Instrumenten, und auch die muss er schon bei sich gehabt haben, denn ich bezweifle, dass im Haus Skalpelle herumlagen. Das ist ein Riesenaufwand, um da reinzukommen und das Verbrechen zu begehen. Wird er den Weg aus der Anlage weniger gut vorbereitet haben?«

Die Frage bedurfte keiner Antwort. »Und was machen wir jetzt?«

Eva deutete auf die Straße. »Welche Richtung nehmen Sie?«

Moresby nahm die linke Abzweigung, Eva hatte sich für die rechte entschieden. Das war kein Zufall; Eva hegte noch einen weiteren Verdacht, von dem sie dem hünenhaften Sergeant noch nichts zu sagen wagte. Für alle Fälle hielt sie ihr Funkgerät in der rechten Hand, mit dem Daumen auf dem Rufknopf.

Sie wusste, dass es kein Aberglaube war und auch kein hypothetischer sechster Sinn. Mustererkennung, rief Eva sich ins Gedächtnis, ist die stärkste kognitive Fähigkeit des Menschen. Unser Gehirn hat gelernt, Muster und Strukturen wahrzunehmen, um Raubtiere im Unterholz und Beute in der Savanne zu entdecken. Eine reflexive Fähigkeit ohne übergeordnete Funktionen. Wenn wir aus dem Augenwinkel sehen, dass etwas nach uns geworfen wird, wissen wir instinktiv, ob wir uns ducken oder es auffangen sollen. Durch diese Fähigkeit erkennen wir im Chaos einen Sinn, anscheinend ohne jemals zu wissen, wie genau dieser Prozess beschaffen war.

Die Straße bog sich allmählich nach rechts und stieg sacht an. Der St Jude’s Hill war kein besonders hoher Hügel, in Surrey gab es nur sanfte Geländewellen. Als Eva die Karte auf ihrem Handy betrachtete, stellte sie fest, dass die Straße wieder zur hinteren Seite des Grundstücks führte, auf dem Irina Stepanow gewohnt hatte. Tausend Fragen meldeten sich in ihrem Kopf. Sie bemühte sich, sie bis auf eine zu ignorieren. Nur diese eine musste sofort beantwortet werden. War er noch hier?

Im Kopf zeichnete Eva weitere Venn-Diagramme, ließ Kreise aus Orten und Sachverhalten einander überlappen und dachte daran, wie gründlich der Mord geplant worden war. Nichts war dem Zufall überlassen worden. Warum es also riskieren, die Anlage fluchtartig zu verlassen und dabei gesehen oder sogar gefasst zu werden, wenn man sich doch auf einem viertausend Quadratkilometer großen Gelände ein Versteck suchen konnte und nur abwarten musste, bis die Leute von der Spurensicherung ihren Job gemacht hatten? Wenn man dreist genug ist, dachte Eva, wäre das das Klügste.

Scheiße, konnte sie das tatsächlich in Betracht ziehen? Der Mord war so kaltblütig begangen worden, so klinisch präzise, dass sie feststellte, sie konnte es. Noch wagte sie nicht, Moresby davon zu erzählen, denn das würde offenbaren, wie berechnend ihre eigenen Gedankengänge waren, und dafür kannte sie ihn noch nicht annähernd gut genug.

Hundert Meter weiter blieb sie auf der Straße stehen und lauschte. Vogelgezwitscher, das ferne Dröhnen des Verkehrs auf der A3, sonst nichts. Überhaupt nichts, dachte Eva und machte noch ein paar Schritte. Die Häuser waren schweigende Blasen in diesem Netz aus schmalen Straßen, die von dichten Hecken und hohen alten Bäumen gesäumt wurden. Und jedes behielt seine Geheimnisse für sich. Als sie sich umdrehte, sah sie das Dach der Villa der Stepanows; über Rhododendronsträuchern waren rote Dachziegel und Satellitenschüsseln gerade eben noch auszumachen. Eva wollte sich schon abwenden, als ihr noch etwas anderes auffiel. Mit einem Gefühl des Triumphs ging sie darauf zu, weil sie wusste, was sie finden würde. Einen weißen Lieferwagen, hinter Büschen versteckt.

Sie drückte auf den Knopf ihres Funkgeräts. »Moresby«, sagte sie, als sie hörte, dass sie Empfang hatte. »Ich glaube, ich hab ihn. Ungefähr zweihundert Meter die Straße runter.«

»Bin unterwegs.«

Eva stellte sich vor, wie er kehrtmachte und losrannte.

Sie sah sich um. Sonst war nichts Ungewöhnliches zu sehen, kein Lebenszeichen, keine Bewegung. Sie schlich um die Büsche herum bis zu der Stelle, wo der Lieferwagen geparkt war. Auf dem Randstreifen und von der Straße aus gerade eben nicht zu sehen, von dichtem Laub und dem Schatten einer Konifere verborgen. Es musste der Wagen des Täters sein. Dieselbe Farbe und dieselbe Marke. Eva spähte durchs Heckfenster, doch die Scheiben waren dunkel getönt. Sie konnte nichts sehen. Um den Wagen herum ging sie nach vorn.

Das Fenster auf der Fahrerseite war offen. Vorsichtig beugte sie sich hinein. Im Zündschloss steckte noch ein Schlüssel. Ein Geruch. Vielleicht eher ein Gestank wie im Krankenhaus. Irgendein Putzmittel. Der Lieferwagen war gereinigt worden. Auf dem Beifahrersitz ein braunes Päckchen mit dem Amazon-Logo darauf. Sonst nichts. Sie zog den Kopf aus dem Wagen.

Fast wäre sie draufgegangen.

Sie brauchte den Bruchteil einer Sekunde, um das zu verarbeiten, was sie vor sich sah. Das Gesicht vermummt, eine dünne schwarze Sturmhaube unter der Kapuze einer schwarzen Regenjacke. Die Augen versteckt. Hinter einer Art Rennradbrille, rund und insektenartig, dunkelrot und mit reflektierenden Gläsern, in denen Eva ihr eigenes Spiegelbild erblickte. Eine schwarze Hose. Aus leichtem Stoff, aber mit aufgesetzten Taschen wie bei Armeeklamotten. Schwarze Sportschuhe, knöchelhoch. Schwarze Handschuhe, dünn, aber mit Polstern über den Knöcheln. Er war mindestens eins achtzig groß, schlank, aber kräftig gebaut, und er kam auf sie zu und hielt etwas in der Hand.

Eva schrie auf. Vielleicht quietschte sie auch nur, der Laut blieb ihr in der Kehle stecken. Reflexartig riss sie den Arm und dabei mit der Hand den Stoff ihres Mantels nach vorn, doch sie spürte es trotzdem. Ein jähes Knistern. Eine gezackte weiße Flamme tanzte zwischen Kupferelektroden, die aus einem schwarzen Plastikgehäuse hervorragten. Wren hatte recht gehabt, dachte sie in dem Moment, als die Stromladung über den Mantelstoff raste, ihre Haut traf, ihre Kopfhaut kribbeln ließ und sämtliche Haare auf Kopf und Körper anhob. Der Drecksack hatte einen Taser.

Eva taumelte zurück. Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang. Sie konnte sich denken, wieso. Er überlegte, ob er sie unschädlich gemacht hatte. Gleich würde er merken, dass ihr Mantel den direkten Körperkontakt verhindert hatte, und noch einmal auf sie losgehen. Wenn sie sich umdrehte und davonrannte, würde er ihr den Taser vermutlich zwischen die Schulterblätter rammen. Sie tat das einzig Sinnvolle, was ihr einfiel. Sie trat zu.

Sie zielte auf seine Kniescheibe, obgleich sie wusste, dass sie kaum eine Chance hatte, wirklichen Schaden anzurichten. Sie traf sein Bein dicht über dem Knie, gerade heftig genug, um ihm wehzutun. Sie hörte ihn knurren. Ganz kurz griff er nach der schmerzenden Stelle. Eva knallte ihm die Handwurzel gegen die Schläfe, so fest sie konnte.

Gedämpftes Brüllen. Ein Schrei lodernder Wut. »Du Scheiß schlampe! Ich bring dich um, verdammte Scheiße !« Und das würde er auch tun. Das wusste sie. Sie wollte sich wegdrehen, doch er stieß mit dem Taser nach ihr. Diesmal traf er ihre Hand.

Schmerz explodierte in ihrem Arm. Sie wusste nicht, ob sie schrie. Unerträglich, als hätte er mit einem Hammer auf sie eingedroschen. Der Elektroschock fuhr ihr bis in die Schulter; ihr Arm zuckte und krampfte, als gehörte er nicht zu ihr, als wäre er besessen. Sie konnte sich nicht bewegen. Wieder stürzte er sich auf sie.

Hinter ihr ein Röhren. Ein jähes Aufbrüllen, krude und animalisch. Moresby, den ausziehbaren Schlagstock gezückt; er schwang ihn wie ein Breitschwert. Die Gestalt vor ihr zischte. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht ausweichen. Er nahm den Taser in die linke Hand, griff mit der rechten zu und knallte ihren Kopf gegen die Seite des Lieferwagens.

Grelle Lichter in ihrem Kopf, gleißend hell. Die nächsten paar Sekunden existierten nicht. Dann hörte sie Moresby brüllen und fluchen und einen erstickten Schrei. Eva wandte sich um. Fühlte Blut aus ihrem aufgeplatzten Ohr am Hals herabrieseln. Sah Moresby drei Meter entfernt am Boden liegen. Sah die schwarz gekleidete Gestalt über ihm knien und ihm den Taser gegen den Hals drücken. Moresby zuckte und krampfte wie ein Frosch, der bei lebendigem Leib gebraten wird. Der Kerl brachte ihn um.

Eva konnte nichts anderes tun. Sie rannte auf ihn zu. Schrie. Kein hohes Kreischen; ein Urschrei ganz tief aus dem Bauch heraus, von irgendeiner Stelle in ihr, von der sie nichts gewusst hatte. Während ihr linker Arm nutzlos herabhing, trat sie mit allem zu, was sie aufbieten konnte. Genau in seine Rippen.

Sogar ihr Fuß schmerzte dabei. Er bog den Rücken durch, ließ beinahe den Taser fallen. Eva schrie abermals. Trat ihm gegen den Kopf. Diesmal nicht ganz so effektiv, aber heftig genug, dass er von Moresby herunterrollte. Sie schickte sich an, ein drittes Mal zuzutreten, aber er war schon auf den Beinen. Der Taser knisterte in seiner Hand, doch dann ging er aus. Keine Ladung mehr, dachte Eva. Und dann schlug er ihr die Faust ins Gesicht.

Sie erwartete noch mehr, doch es kam nichts. Als sie sich auf die Seite drehte, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihn; er raste auf einem schwarzen Mountainbike die Straße hinunter. Moresby rührte sich nicht.

Sie kroch zu ihrem Funkgerät hinüber, das im Gras lag, drückte auf den Panikknopf und schrie hinein: »Officer verletzt! Verdächtiger flieht auf Mountainbike, Officer verletzt!« Einen Moment lang war es still. »Scheiße!«, brüllte Eva in das Funkgerät, während sie Moresby anstarrte, der auf dem Rücken lag. »Ich brauche einen Scheiß rettungswagen! Sofort! «

Sie kniete sich über ihn und rammte mit dem rechten Arm abwärts. Allmählich kehrte das Gefühl in den linken zurück, doch für Herzdruckmassage war er noch nicht zu gebrauchen. War das überhaupt nötig? Sie wusste es nicht. Trotzdem bearbeitete sie Moresbys Brustbein. Blut tropfte aus ihrem Ohr auf sein Gesicht. An seinem Hals sah sie die dunkelvioletten Spuren des Tasers, wo das Gerät Tausende von Volt in seinen Körper geschickt und ihm die Haut versengt hatte. Sie horchte auf Atemgeräusche, konnte jedoch keine hören. Vielleicht war es ja gar nicht sein Herz. Vielleicht hatte sich seine Speiseröhre durch den Elektroschock verkrampft und die Luftröhre abgedrückt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. In der Ferne konnte sie die Sirenen hören. Aber vielleicht würden sie nicht rechtzeitig hier sein, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Und dann wusste sie es doch. Mit ihrem schlaffen linken Arm drückte sie Moresby den Unterkiefer hinunter und schob ihm zwei Finger der rechten Hand tief in den Rachen. Was sie fühlte, erschreckte sie zu Tode. Großer Gott, dachte sie, er hat seine Zunge verschluckt.

Evas Nägel schrammten über Moresbys Rachenschleimhaut, als sie versuchte, das schlaffe Organ wieder in seinen Mund zurückzuholen. Es ging nicht. Scheiße, es ging einfach nicht! Sie stieß ihm vier Finger in den Mund, kratzte und wühlte in seinem Rachen. Massierte seinen Hals. Er ist tot, dachte sie. Er muss tot sein. Dann übergab Moresby sich.

Ein Schwall säuerlich riechender Flüssigkeit ergoss sich über ihre Hand und ihren Arm. Er bäumte sich auf, bog den Rücken durch; dann rollte er sich herum und warf sie ab. Sie schlug hart auf, dunkler Asphalt, während Moresby auf der Seite lag und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Fast eine Minute lang. Danach konnte er sprechen. Eva lag auf dem Rücken und starrte das Astgewirr über ihr an.

Das Erste, was Moresby fragte, war: »Sind Sie okay?« Das Zweite war: »Haben wir ihn?«