Um fünf Uhr nachmittags war Eva wieder in ihrer Wohnung. Purer Luxus, begriff sie, und etwas, das wahrscheinlich nicht so bald wieder vorkommen würde.
Sobald die Tatortprotokolle, die forensischen Analysen und die Unterlagen aus den Akten der damaligen Fälle auf ihrem Schreibtisch lagen – wenn sie den denn irgendwann tatsächlich mal fand –, würden die Ermittlungen gewaltig Fahrt aufnehmen. Kein Problem für heute Abend, beschloss Eva, während sie ihr Auto in der Tiefgarage unter dem Wohnblock abstellte, in dem sie sich eingemietet hatte. Heute Abend wollte sie einfach nur wieder sauber sein.
Die Bluse war nicht mehr zu retten. Ihr Blut war auf die weiße Baumwolle getropft, und außer mit Bleiche würde den langen dunklen Schlieren mit nichts beizukommen sein. Wenigstens war ihr Mantel offen gewesen. Sie entdeckte Blutspritzer auf dem Kragen, aber nichts, was man mit ein bisschen Schrubben und ein paar Chemikalien aus dem Supermarkt die Straße runter nicht herausbekommen konnte. Dasselbe galt für den Blazer ihres Hosenanzugs. Eva zog alles aus, ließ die Sachen zu Boden fallen und ging unter die Dusche.
Nachdem sie fünf Minuten unter dem dampfenden Wasserstrahl gestanden hatte, machte sie sich behutsam daran, das Pflaster von ihrem Ohr zu lösen. Es brannte höllisch. Der Dreckskerl hatte ihren Kopf gegen eine Kante am Lieferwagen geknallt, sodass ihr Ohrläppchen eingerissen war und heftig geblutet hatte. Der Rettungshelfer hatte die Wunde geklebt und sie dann verbunden. Der Kleber müsste inzwischen seinen Zweck erfüllt haben, dachte Eva, zog das Pflaster ganz herunter und warf es in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Als sie das Ohr im Badezimmerspiegel betrachtete, sah sie einen großen dunkelroten Blutstropfen aus der Wunde hervorquellen, der auf ihre Schulter zu fallen drohte. Sie trat wieder unter die Dusche und blieb noch einmal fünf Minuten dort stehen, bis sie sicher war, dass es nicht mehr blutete.
Im Schlafzimmer überprüfte sie ihren Körper auf weitere Verletzungen. Ihre Wange war dunkel angelaufen, wo die Faust des Mannes sie getroffen hatte, doch wenigstens blieb ihr die Peinlichkeit eines blauen Auges erspart. Der Arsch hätte mir die Nase brechen können, dachte sie, während sie die Prellung betastete. Das tat weh, also ließ sie es sein.
Dicht unter ihrer linken Brust, ein wenig seitlich, war ein weiterer blauer Fleck, so groß wie ihr Handteller. Sie hatte keine Ahnung, wann sie sich da gestoßen hatte, und eigentlich tat er auch nicht weh, also beachtete sie ihn nicht. Ein langer rosiger Hautwulst zog sich an der Innenseite ihres Oberschenkels vom Knie bis fast zum Schritt hinauf. Grottenhässlich, fand Eva, doch sie versuchte nicht mehr, ihn beim Schwimmen oder im Fitnessstudio zu verstecken. Der Wulst war eine Linie, die ihr Leben spaltete, es in ein Vorher und ein Nachher teilte. Jetzt war definitiv Nachher.
Eva schlüpfte in einen Jogginganzug und tat, was sie konnte, um ihre Kleider wieder halbwegs sauber zu bekommen. Die meisten ihrer Habseligkeiten waren noch in Kartons verpackt, weil sie erst letzten Samstag eingezogen war. Die Wohnung war ein Glücksfall gewesen. Sie befand sich im fünften Stock eines neuen Wohnblocks, und wie von jedem einigermaßen hohen Gebäude in Kingston aus hatte man von ihr einen Blick auf die Themse, wenngleich auch aus ein paar Hundert Metern Entfernung. Eine von Eichen gesäumter grüner Streifen lag zwischen ihrem Wohnhaus und dem Fluss. Es wäre schön, am Ufer zu sitzen und dem Wasser beim Fließen zuzuschauen, dachte Eva, doch sie wusste, dass sie dazu kaum Gelegenheit haben würde, wenn die Ermittlungen erst einmal richtig Fahrt aufgenommen hatten.
Sie ging wieder ins Wohnzimmer und öffnete den Karton, den ihr Leticia North geschickt hatte. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand bereits ein zerschrammter Laptop. Es war nicht ihr Arbeitscomputer, der steckte noch immer in einer Umzugskiste. Auch der hier war eine Leihgabe von der MPCCU . Dass sie dort nicht wussten, dass sie ihn ihr geliehen hatten, schien für Eva ein unbedeutendes Detail zu sein.
Raj hatte natürlich recht. Der Kasten war ein externes GPU -Gehäuse und mit Prozessoren vollgestopft. Seine Hauptfunktion bestand darin, Spiele und 3-D-Grafikanwendungen irrwitzig schnell zu machen, und Raj hatte auch völlig richtig gemutmaßt, dass es nicht das war, was Eva damit anstellen würde. Auch wozu sie ihn benutzen würde, hatte er fast erraten. Der Unterschied zwischen dem Grafikprozessor und dem Hauptprozessor des Computers entsprach in etwa dem zwischen der Computerleistung mit reduziertem und der mit umfangreichem Befehlssatz. Das hörte sich kompliziert an. Eva hatte schon viele Male versucht, das zu erklären, doch die einfachste Analogie, die ihr dazu einfiel, war der Unterschied zwischen der Multiplikation 7x5 und der Addition 7+7+7+7+7. Das Ergebnis war dasselbe, doch die simple Natur einer Addition bedeutete, dass die dumme, aber schnelle Grafikkarte eben irrwitzig schnell rechnen konnte. Geräte dieser Art waren außerdem ganz hervorragend für andere Aufgaben geeignet, die Zahlenverarbeitung im großen Stil erforderten, etwa für das Berechnen der Primzahlen, die für das Generieren von Kryptowährungen notwendig waren. Und um Passworte zu hacken, dachte Eva, während sie es einschaltete und es an den Laptop anschloss.
Tish wusste, was Sache war. Bestimmt war die eGPU bei einer Razzia eingesackt worden. Höchstwahrscheinlich hatte man sie als Teil der Haftungsmasse einem Drogendealer abgenommen, und Tisha hatte sie noch aufgepeppt. Auf dem Laptop war ein Disk Image, das Eva von einem anderen Laptop gemacht hatte, einem Laptop, der noch immer in einem Asservatenschließfach im Zentrum für Digitale Forensik in Vauxhall lag. Das Image war wie eine Fotokopie der Festplatte jenes Computers, akkurat bis zum letzten Byte. Es konnte dieselbe Software abspielen, dieselben Dateien öffnen, war aber durch ein Passwort geschützt.
Das Duplikat der verschlüsselten Passwort-Datenbank wurde ständig kopiert und überschrieben, während der brachiale Algorithmus, den Eva einprogrammiert hatte, sich durch die Permutationen wühlte. Sie hatte keine Ahnung, wie viele es sein könnten. Die Anzahl der möglichen Kombinationen wuchs exponentiell zur Zeichenzahl des Passworts. Für neun Zeichen könnte ein Monat nötig sein, für zehn ein Jahr, für elf könnte man eine Dekade brauchen. Der Grafikprozessor würde eine große Hilfe sein, er würde den Prozess um mehr als das Hundertfache beschleunigen. Sie sah zu, wie sich das Gerät mit dem Laptop verband und die Anzahl der Permutationen wuchs, die dieser pro Minute verarbeitete. Die Zahl in dem Zählfenster wurde zu einem verschwommenen Schemen, trotzdem konnte das Ganze Jahre dauern, wenn der Besitzer des Original-Computers ein zufälliges, komplexes Passwort verwendet hatte. Sie glaubte nicht, dass er das getan hatte.
Ich kannte dich doch, du Drecksack, dachte sie. So clever warst du nicht.
Sie hatte vorgehabt, früh ins Bett zu gehen. Jemand anderes hatte andere Pläne. Gegen halb zehn vibrierte ihr Handy. Eine SMS , stellte Eva fest. Als sie sah, von wem die Nachricht kam, verfinsterte sich ihre Miene.
Ich steige um 21:55 um, stand da. Bin sieben oder acht Minuten lang auf dem Bahnsteig. Seien Sie dort.
Kein Bitte oder Danke. Nur ein Befehl. Fast hätte sie ihr Telefon gegen die Wand gepfeffert. Sie wollte losbrüllen, ihm sagen, er solle sich zum Teufel scheren, doch sie wusste, das ging nicht. Dieser Arsch , dachte Eva. Dieser miese Scheißkerl.
Sie ging sich anziehen.
Fünfundzwanzig Minuten später überquerte Eva die Fußgängerbrücke zum Bahnhof von Kingston. Nicht weit von ihrer Wohnung führte diese Brücke über eine Unterführung unter den Bahngleisen. Der Eingang zum Bahnhof war ein paar Hundert Meter weiter, doch so weit brauchte sie nicht zu gehen. Vor den Bahnhofsgebäuden lag ein Abschnitt von etwa vierzig Metern, von der Brücke durch einen stacheldrahtgekrönten Drahtzaun getrennt, der sich direkt am Bahnsteig entlangzog. Die längeren Züge hielten hier an, die Pendlerzüge mit acht oder gar zwölf Waggons, die morgens nach London hineinrollten und abends erschöpfte Fahrgäste nach Hause karrten. Zwischen dem Zaun und dem gegenüberliegenden Bahnsteig war eine Asphaltfläche mit ein paar Metallbänken, mehreren Laternenpfählen, einem Schild mit dem Namen des Bahnhofs, einem Papierkorb inmitten von Chipstüten und sonst nichts. Nichts außer ihm.
Sie hasste ihn auf den ersten Blick, schon seine Silhouette. Ein großer Mann in einem langen Mantel, mit schmalem Gesicht, verkniffenen Zügen und behandschuhten Händen, der absolut nichts bei sich trug. Er wartete am Zaun. Es waren keine anderen Pendler auf dem Bahnsteig. Er sah zu, wie Eva näher kam. Sie konnte seinen Blick fühlen, obgleich sie sein Gesicht im Dunkeln und mit der Laterne hinter ihm nicht sah. Spürte, wie ihr die Galle in die Kehle stieg, als sie das eine Wort sagte, das er erwartete und das sie mehr als alles andere nicht aussprechen wollte. Sie zwang ihren Mund, die eine Silbe zu formen, auch wenn sie wie Gift schmeckte.
»Sir.«
Alastair Hadley schwieg. Einfach nur, weil er schweigen konnte. »Harris«, sagte er schließlich. Kein »DI «, keine Anrede, die Stimme so ausdruckslos wie eine Totenklage. »Wie war Ihr erster Tag?«
Das interessiert dich doch einen Scheiß, dachte Eva. Sie wollte ihm ins Gesicht spucken. Stattdessen antwortete sie: »Sie haben es ja bestimmt gehört, Sir.«
Insgeheim fragte sie sich, ob er sie zurechtweisen würde. Er entschied sich dafür, es nicht zu tun, doch der Entschluss wirkte halbherzig. »Natürlich habe ich’s gehört.« Sie überlegte, ob er sich wohl zu ihrer Erkenntnis äußern würde, dass der Täter noch vor Ort gewesen war, doch sie bezweifelte es. Er enttäuschte sie nicht.
»Dann haben Sie jetzt also fünf von ihnen kennengelernt«, meinte Hadley. »Erster Eindruck?«
Sie würde sich fügen. »Moresby scheint ein guter Cop zu sein«, antwortete Eva. »Gründlich und effizient. Ich hatte keine Ahnung, dass Sutton verletzt ist.«
»Das ist irrelevant«, ließ Hadley sie wissen.
»Sie wäre eine Möglichkeit«, fuhr Eva fort. »Noch habe ich nicht genug. Ich besorge mehr«, setzte sie hastig hinzu, ehe er sie ermahnen konnte.
Hadley reagierte noch immer nicht. »Die anderen?«
»Flynn, Newton und Chakrabati. Soweit ich sehen kann, haut das Timing nicht hin. Das heißt nicht, dass nicht einer von ihnen für jemand anderen übernommen hat, aber bisher weist nichts darauf hin. Ich suche natürlich weiter.«
Jetzt blaffte Hadley sie doch an. »Ich bitte darum. Und der Kontakt, den ich Ihnen gegeben habe?«
Herrgott noch mal, dachte sie, ich hatte echt viel um die Ohren. »Es war ein ziemlich stressiger Tag«, erwiderte Eva.
»Es ist mir scheißegal, wie stressig er war«, fauchte Hadley. »Ich erwarte, dass Sie Kontakt aufnehmen. Wenn ich Ihnen einen Scheißbefehl gebe, erwarte ich, dass Sie ihn befolgen, egal, wie stressig Sie Ihr Leben gerade finden.«
Schweigend stand sie da und wartete auf den Rest der Tirade. Wieder enttäuschte Hadley sie nicht.
»Vergessen Sie eins nicht, Harris«, zischte er. »Sie gehören mir. Ihre Karriere gehört mir, Ihr Leben gehört mir. Ohne meine Erlaubnis atmen Sie nicht mal, verdammte Scheiße. Sie arbeiten für mich, Sie arbeiten für meine Abteilung. Ich werde Sie benutzen wie ein verschissenes Kleenex und mit Ihnen machen, was ich will. Und wenn ich Ihnen eine Anweisung erteile, befolgen Sie sie verdammt noch mal. Ist das klar?«
Sie wollte ihn umbringen. Sie wollte über den Zaun klettern, auch wenn sie sich an dem Stacheldraht die Hände aufreißen würde, auf den Bahnsteig springen, ihm die Faust gegen die Kehle rammen und ihn auf die Stromschiene stoßen. Sie verabscheute ihn. Sie wollte ihn tot sehen. Stattdessen ließ sie ihr Gesicht zu einer Maske werden und antwortete: »Hundertprozentig, Sir.«
Daraufhin ging er davon. Besprechung beendet, vermutete Eva. Sie sah seinem Rücken nach, während ein Zug in den Bahnhof rollte. Hadley stieg ein. Galle brannte ihr ganz hinten im Rachen. Sie musste ausspucken. Es piepste, und die Türen schlossen sich. Dann fuhr der Zug aus dem Bahnhof.
»Absolut, Sir«, flüsterte Eva. »Und eines Tages mache ich Sie hundertprozentig fertig, und zwar schon sehr bald.«
In dieser Nacht lag Eva wach, starrte an die Decke und fragte sich, wie es dazu gekommen war, dass ihr mit siebenundzwanzig nur gestohlene Computerhardware beim Schlafen Gesellschaft leistete.
Die Wahrheit war, sie hatte nie Polizistin werden wollen. Das stimmte vielleicht nicht so ganz, dachte sie, während sie dem fernen Bellen eines Stadtfuchses lauschte. Tatsache war, sie hatte die Möglichkeit nie auch nur in Betracht gezogen.
Die Universität war ihr wie ein anderes Universum erschienen. Jenes erste Jahr fern von der Enge eines klaustrophobischen Zuhauses; neue Freunde kennenlernen, neue Dinge lernen und eine Zeit lang mehr als nur ein bisschen über die Stränge schlagen. Besoffen auf Partys, besoffen beim Sex und heftige, durchaus nicht triviale Kater. Wie die meisten Studenten riss sie sich im zweiten Jahr zusammen und fing an, ihr Studium ernst zu nehmen. Sie arbeitete hart. Ein Bachelor in Mathematik und Informatik in Southampton, das war nicht ohne, machte jedoch Spaß. Eva genoss die Zeit und wollte nicht, dass sie endete. Deswegen hatte sie, als sie dann doch zu Ende gewesen war, einen zweiten Studienkredit aufgenommen und gleich noch den Master drangehängt.
Ein Haus tauchte in ihren Gedanken auf, das Haus, in dem sie drei Jahre lang mit einem halben Dutzend anderer Studenten gewohnt hatte. Ihr Fenster war nach Westen hinausgegangen. Sie hatte die Schornsteine der Schiffe im Hafen sehen und zuschauen können, wie die Sonne über dem Meer unterging. Monatelang arbeitete sie in diesem Zimmer mit weiß getünchten Wänden und weiß gestrichenen Bodendielen an ihrem Computer und lauschte dem Kreischen der Möwen über ihr.
Eva erwog, als Nächstes ihren Doktor zu machen, doch das Geld war knapp, und sie hatte Angst, zu einer Dauerstudentin zu werden. Und es war ja auch nicht so, als hätte sie etwas in Southampton gehalten. Sie hatte ein paar Beziehungen gehabt, aber keine, die sie unbedingt hatte fortführen wollen. Der ausschlaggebende Faktor war schließlich, dass ihre Professorin, eine beängstigend kluge Rumänin, beschlossen hatte, in ihr Heimatland zurückzukehren. Als sie Eva den Grund für ihre Entscheidung anvertraute, war diese empört. Die rassistischen Beleidigungen waren schlimmer geworden, die ätzenden Bemerkungen über ihren Namen und ihren Akzent immer weniger subtil und immer krasser. Es sei Zeit zum Abflug, sagte sie zu Eva. Und Eva stellte fest, dass es ihr genauso ging.
Aber wohin? Sie hatte vier Jahre Freiheit genossen und konnte es nicht ertragen, nach Hause zurückzukehren. Sie brauchte einen Job. Das Problem löste sich auf einer Jobmesse. Der Repräsentant der Londoner Polizei warf einen Blick auf ihren Lebenslauf und zog dann wirklich sämtliche Register. Bisher war Eva noch nie auch nur auf die Idee gekommen, für die Polizei zu arbeiten, doch je länger sie sich unterhielten, desto mehr Möglichkeiten schienen sich ihr zu bieten. Kaum einen Monat später fand sie sich in einer Wohnung in London wieder, für die sie Wohngeld bekam, und wurde bei der MPCCU zur Analystin ausgebildet.
Eva stürzte sich in die Arbeit. Es gab jede Menge technische Herausforderungen und eine verblüffende Bandbreite an Tätigkeiten. Sie durchlief sämtliche Bereiche, von Finanzverbrechen bis zur Terrorismusbekämpfung. Sie fügte sich mit Leichtigkeit ein und genoss die Freiheit, die das Leben in der Hauptstadt mit sich brachte. Erst als sie anfing, bei der CEOP – Child Exploitation and Online Protection – zu arbeiten, kam sie endlich in der Realität an.
Die Arbeit im Zentrum zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung schockierte sie. Korrupte Banker und fanatische Dschihadisten, das hatte sie irgendwie nicht berührt. Jeder rechnete doch damit, dass Banker korrupt und Dschihadisten fanatisch waren, daher war es keine Überraschung gewesen, herauszufinden, dass Wahrnehmung und Realität weitgehend deckungsgleich waren. In den Augen der Cops jedoch, die bei der CEOP arbeiteten, sah sie etwas anderes. Pädophilenringe und Kinderhändler, organisiertes Verbrechen und Einzeltäter, die Arbeit forderte ihren Tribut. Irgendwie waren die CEOP -Officers noch professioneller, noch vorsichtiger in ihren Worten und ihrem Handeln. Mit der Zeit verstand Eva, warum. Die Konsequenz eines Fehlers war der Stoff, aus dem Albträume gemacht wurden, und während ihrer Zeit bei der CEOP hatte sie wirklich Albträume.
Eines Abends erwischte es sie mit voller Wucht. Sie sah bei einer Razzia in einem Gebäude zu, wo ein Server Kinderpornografie in ein Darknet pumpte. Männer mit Schlagstöcken und Rammen stürmten hinein, Männer in Handschellen kamen heraus. Eva beobachtete alles aus sicherer Entfernung; viel gab es da nicht zu sehen. Vorher hatte sie die Zwiebelschichten des TOR -Browsers abgeschält, den die Typen benutzt hatten, und so den Server ausfindig gemacht. Als die Männer in Handschellen abgeführt wurden, wandte sich ein Detective Sergeant zu ihr um und sagte: »Das waren Sie. Sie haben die Schweine drangekriegt. Ohne Ihre Arbeit hätten wir sie nicht gefunden.« Das hatte sie erschüttert, nicht zuletzt, weil sie später das Material sah, das das Darknet ausgespien hatte. Es überstieg ihre Albträume dermaßen, dass sie nach Hause gehen musste. In dieser Nacht, als sie sich in der Stille ihres Zimmers die Augen ausweinte, tat Eva etwas, das sie noch nie getan hatte und nie wieder zu tun schwor. Sie trank sich mit Wodka ins Koma. Am nächsten Morgen meldete sie sich krank. Niemand schien sich zu wundern. Am Nachmittag, als der Kater langsam nachließ, starrte Eva sich im Spiegel an und gelangte zu einer furchtbaren, beängstigenden, beglückenden Erkenntnis. Dass das, was sie getan hatte, tatsächlich etwas bewirkt hatte.
Und so hatte sie Ja gesagt, als man ihr anbot, im Schnelldurchlauf Karriere zu machen, innerhalb weniger Jahre Detective Inspector zu werden und im Bereich Cyberkriminalität zu arbeiten. Sie hatte das Ganze kühl erwogen. Sie glaubte, die Risiken einschätzen zu können. »Sie werden zwei Jahre in verschiedenen anderen Bereichen arbeiten müssen«, hatte der Superintendent gesagt, der das Bewerbungsgespräch mit ihr führte. Schießausbildung, Einsatz mit Undercover-Einheiten, normale Polizeiarbeit. Das hörte sich nicht nach einem Problem an. Und es war auch keins gewesen, bis zu einer Nacht vor etwas über zwei Jahren, als jemand Eva Harris’ Leben und ihre Karriere genommen und beides in Stücke gerissen hatte.