6. Kapitel

Merkwürdiges Wetter.

Sie erinnerte sich, dass sie das gedacht hatte, als sie das Büro verlassen hatte. Eine tief stehende Septembersonne, die lange, scharf gezeichnete Schatten warf, kombiniert mit brennender, fast schon mediterraner Hitze und erstickender Schwüle. Als sie ins Freie trat, spürte sie fast sofort, wie ihr der Schweiß den Hals hinab- und zwischen die Brüste rann. »Bis später?«, hatte Karen gerufen. Auf einen Drink, das hatte sie damit gemeint. Wieder ein öder Abend, in einer Bar mit weit geöffneten Türen sitzen und zusehen, wie Autos vorbeifuhren, während man an hohen Gläsern mit eiskaltem Pinot Grigio nippte und ein ganz kleines bisschen betrunken wurde.

Warum zum Teufel nicht?

Es war ja nicht so, dass Jodie Swain etwas Besseres zu tun hatte. Eigentlich wäre sie an einem Abend wie diesem lieber nach Hause gegangen und hätte darauf gewartet, dass Michael aus dem Pendlerzug stieg, um ihn unter die Dusche zu zerren und ihn dort zu vernaschen, an der Wand der Duschnische, während Wasser und Schaum von ihren Körpern tropften. Eine lange Nacht mit Wein, Sex und wahrscheinlich Essen aus der Mikrowelle. Tja, man kann nicht alles haben, dachte sie.

Du kannst nichts davon haben, nicht heute Abend.

Michael war weg, fürs Erste jedenfalls. Acht Monate in Dubai, verdammte Scheiße. Sie hatte getobt, bis er ihr gesagt hatte, wie viel dieser Auftrag bringen würde. Steuerfrei, hatte er hinzugefügt. Da hatte sie verstanden.

Nicht dass sie selbst knapp bei Kasse gewesen wäre. Der Mietmarkt drehte gerade völlig frei, angetrieben von aberwitzigen Immobilienpreisen, und die Makler sahnten ordentlich ab. Sie hatte angefangen, mit einem Sportwagen zu liebäugeln. Vielleicht so ein Elektromodell, das von null auf hundert beschleunigte, fast bevor man das Gaspedal berührte, aber das hatte keine Eile. Michael würde im neuen Jahr wieder da sein, und dann konnten sie anfangen, Pläne zu machen. Es sei denn …

Eifersucht. Sie konnte nichts dagegen machen. Vielleicht würde er sich ja eine von diesen gertenschlanken, braunhäutigen Frauen mit langem dunklem Haar suchen, die die mittlere Führungsebene der Bank zu bevölkern schienen. Vielleicht würde er mit ihr einen Ausflug in die Wüste machen und sie dort flachlegen, nackte Leiber, die sich zwischen Sanddünen wanden und vereinigten. Mein Gott, dachte sie, während sie den Sicherheitscode eintippte, der die Haustür öffnete, das ist nicht mal eine blöde Fantasievorstellung, das ist ein verdammtes Popvideo. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

So verdammt heiß.

Im Büro war es gewesen wie in einer Sauna, und die anderen Frauen waren genauso genervt und gereizt gewesen wie sie. Sie brauchte wirklich eine Dusche, und sei es nur zum Abkühlen. Sie entriegelte die Fenster in der Wohnung und ließ die Balkontür weit aufschwingen. Sie wohnte im zweiten Stock. Hier, hinter den schweren Metalltoren, die den Wohnblock umgaben, war Sicherheit kein Problem. Und außerdem, dachte sie, während sie ihre Kleider auf das große Doppelbett fallen ließ, bestand in Weybridge die größte Gefahr darin, von inkompetenten Autofahrern umgenietet zu werden, die sich auf der Hauptstraße abmühten, ihre riesigen SUV s in lachhaft kleine Parklücken zu zwängen.

Die Milchglasscheibe des Badezimmerfensters war bald beschlagen, obwohl sie die Wassertemperatur weit heruntergedreht hatte. Lange Sonnenstrahlen zwängten sich trotzdem hindurch und fielen auf wabernde Dampfwolken, formten Muster, die sich in der feuchten Luft wanden und gegenseitig verschlangen.

Immer noch zu heiß.

Sie trat aus dem Wasserstrahl und öffnete das Fenster, ließ Luft und Lärm aus den Gärten hinter dem Haus herein. Das konstante Verkehrsbrummen, das Motorengeräusch der Autos, die die Queen’s Road entlangkrochen; man konnte ihm nicht entkommen, nicht in Weybridge. Es sei denn …

Was zum Teufel war das?

Ein Geräusch aus dem Wohnzimmer, ein Poltern, als wäre etwas umgestoßen worden. Mist, dachte sie, während sie sich ein Handtuch griff und sich flüchtig abtrocknete, ich wette, das ist eine verdammte Katze.

Sie hatte die Balkontür offen gelassen. Die Katzen der Gegend waren rotzfrech, und auf dem Wohnzimmertisch standen ein paar Glasornamente. Wenn du eins davon kaputt gemacht hast, dann schmeiß ich dich vom Balkon. Mit dem Handtuch in der Hand stürmte sie ins Wohnzimmer, bereit, damit nach jedem marodierenden Kater zu schlagen.

Es war keine Katze.

Sie schrie los. Groß, der Kopf mit schwarzem Stoff vermummt, die Augen waren rot, oder was auch immer die Augen verdeckte. Fast leuchtend rot. Insektengleich und schillernd, sie konnte ihr Spiegelbild darin sehen. Rasch kam er auf sie zu. Er musste vom Stockwerk unter ihr heraufgeklettert sein. Er hielt etwas in seiner Hand. Sie versuchte, noch einmal zu schreien, brachte aber nur einen erstickten Laut zustande. Dann machte sie kehrt, wollte fliehen auf dem Weg, auf dem sie gekommen war. Er war hinter ihr. Sie kam bis zum Badezimmer. Vielleicht konnte sie aus dem Fenster klettern.

Da war doch gar kein Balkon!

Sie rannte trotzdem darauf zu, doch als sie durch die Tür flitzte, spürte sie etwas zwischen den Schulterblättern. Dann ein Aufblitzen. Blendend hell, aber hinter ihren Augen, nicht vor ihnen. Unbeschreiblicher Schmerz. Dann flog sie.

Sie landete auf dem Fliesenboden. Krampfte. Konnte sich nicht bewegen. Im nächsten Moment war er über ihr. Sie fühlte, wie sie auf den Rücken gerollt wurde. Sie konnte nicht aufhören zu zittern; sie wollte ihn wegstoßen, doch sie konnte sich nicht rühren. Er packte ihr Gesicht, hielt irgendetwas über sie. Drückte die Finger über und unter ihre Augen. Schwarze Handschuhe, nass vom Wasser der Dusche, die immer noch lief. Er zog ihre Lider auseinander. Dann spritzte er ihr etwas ins Auge.

Es brannte wahnsinnig. Da schrie sie dann doch. Ein würgendes Geräusch drang aus ihrer zugeschnürten Kehle und hallte von den Kacheln der Duschnische wider. Er tat dasselbe am anderen Auge. Einen Moment lang, einen Moment des Grauens jenseits von allen anderen Momenten des Schreckens, dachte sie, es wäre Säure. Doch nach ein paar Sekunden hörte das Brennen auf.

Wieder packte er ihren Kopf. Drehte ihr Gesicht zum Fenster. Stach ihr etwas in den Hals. Eine Nadel, er hatte ihr etwas injiziert. Was immer es war, es fühlte sich kühl in ihren Adern an. Fast sah sie vor sich, wie die Flüssigkeit durch sie hindurchrieselte. Ihr Verstand wurde langsamer. Alles schien im Schneckentempo dahin zu kriechen.

Dann wurde die Welt hell, hell und verschwommen. Eine Zeit lang verstand sie nicht, doch dann begriff sie schlagartig. Das kenne ich, dachte sie, als er sich den Rucksack von den Schultern zerrte und in Zeitlupe anfing, Sachen daraus hervorzuholen, Dinge, die sie nicht sehen konnte. Sie spürte die Wassertropfen auf ihrem Rücken. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Dusche abzustellen. Mit gespreizten Armen und Beinen lag sie auf dem Badezimmerboden, während er … was genau tat?

Das kenne ich. Der Gedanke wollte nicht verschwinden. Dieses Zeug in meinen Augen. Das kenne ich doch. Es erweitert meine Pupillen.

Die Arme seitlich weggestreckt, die Beine gespreizt, rechnete sie damit zu fühlen, wie er mit Gewalt in sie eindrang, doch nichts dergleichen geschah. Daran schien er kein Interesse zu haben. Wieder beugte er sich über sie und schob etwas anderes in ihren Hals. Noch eine Nadel, diesmal mit einem Schlauch daran.

Die Welt wurde dunkel. Sie wusste nicht, warum. Vielleicht war es ja Abend. Vielleicht lag sie schon seit Stunden hier. Die Welt wurde zu einem Tunnel, und die Wände schlossen sich um sie. Ein Gedanke kam ihr, bevor die Dunkelheit sich endgültig herabsenkte. Etwas Bekanntes an ihm, irgendeine Bewegung oder die Art und Weise, wie er den Kopf drehte, um sie zu beobachten.

Ich kenne dich, dachte sie.

Dann nichts mehr.

Will Moresby erwartete sie am Tor der Wohnanlage. An seinem Hals klebte noch immer ein Pflaster, doch abgesehen davon sah er ganz gut aus, fand Eva. Er brachte ein Lächeln zustande, als er sie erblickte.

»Kommt mir vor, als wären wir schon mal hier gewesen«, bemerkte er, als er das Tor aufdrückte.

»Dieselbe Vorgehensweise?«, erkundigte sich Eva.

»Fast identisch«, brummte Moresby und hielt ihr mit einer Hand das Tor auf. Ein Gorilla, dachte Eva wieder, als sie seine Armmuskeln arbeiten sah, aber einer, den man auf seiner Seite haben will.

Moresby holte tief Luft. »Ich wollte nur sagen: Danke.« Er sah ihr beim Sprechen direkt in die Augen.

Eva fand seine Direktheit entwaffnend. Will Moresby, dachte sie. Was man sieht, ist wirklich das, was man kriegt.

Sie klopfte ihm leicht auf den Arm, als sie durch das Tor trat. Nicht gerade eine professionelle Reaktion, dachte sie, aber eigentlich war ihr das völlig egal. »Versuchen wir’s beim nächsten Mal andersrum«, meinte sie. »Nächstes Mal treten wir dem Drecksack in den Arsch, bis der Arzt kommt, oder?«

»Aber hallo«, stimmte Moresby ihr zu und folgte ihr ins Haus. »Im zweiten Stock«, sagte er, während sie die Treppe hinaufstiegen. »Das Opfer wurde von einem Nachbarn gefunden, dem aufgefallen war, dass die Wohnungstür offen stand. Wir glauben, er ist durchs Fenster reingekommen. Er muss vom Stockwerk drunter auf den Balkon geklettert sein.«

Eva warf ihm einen raschen Blick zu. »Wäre das schwer?«

Moresby zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht, nicht für jemanden, der halbwegs gut in Form ist, und wir wissen ja, dass der Arsch fit ist. Die Balkontüren haben Milchglasscheiben. Ist nur eine Vermutung, aber er hätte raufklettern und dann draußen warten können, bis sie nach Hause kommt und die Türen aufmacht. Ist ein ziemlich großer Balkon, da könnte man sich verstecken.«

»Also wieder ein gezielter Mord?«

»Scheint so«, pflichtete Moresby ihr bei.

Eva wappnete sich. Judy Wren hatte einen Klappstuhl mit Stoffsitz neben die Leiche gestellt. Darauf saß sie und starrte nach unten. »Die Ähnlichkeiten sind ganz offensichtlich«, verkündete sie, als Eva ins Badezimmer kam. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, es ist immer noch nass.«

Überall auf dem Boden waren Pfützen. Die Duschnische war groß, etwa vier Quadratmeter, schätzte Eva. Mehrere Duschköpfe sprühten aus den hellblauen Kacheln an den Wänden. Ein großes Milchglasfenster war ein wenig geöffnet. Eine Toilette, ein Bidet und ein Waschbecken an einer Wand des Badezimmers. Das Dekor sah teuer aus, fand Eva, als hätte ein Innenarchitekt es extra anfertigen lassen.

»Die Wohnung gehört Jodie Swain«, berichtete Wren. »Ihre Beschreibung passt auf die Leiche. Der Nachbar hat die Wohnung nicht betreten, er hat nur gerufen und keine Antwort bekommen, also hat er die Polizei verständigt.«

Eva zwang sich, neben dem Leichnam in die Hocke zu gehen. Dieselbe Blässe, dieselben sorgfältigen Verstümmelungen, stellte sie fest. »Irgendwas zum Todeszeitpunkt?«

»Gestern Abend«, antwortete Wren. »Ganz genau kann ich es nicht sagen, weil die Dusche noch an war und das Wasser die Körpertemperatur beeinflusst hat. Aber ich tippe darauf, dass sie von der Arbeit nach Hause gekommen und unter die Dusche gegangen ist, und er hat sie hier überfallen. Der Nachbar hat die Tür heute Morgen um etwa Viertel vor acht offen stehen sehen, und Will sagt, er und seine Leute waren etwa eine Viertelstunde später hier.«

Flynn und Raj erschienen in der Badezimmertür. »Scheiße, verdammte!«, keuchte Flynn.

»Besser hätte ich’s auch nicht ausdrücken können, Detective Sergeant«, meinte Wren. »Was in aller Welt will der Kerl mit zwei perfekt extrahierten Augenpaaren?«

»Das muss ein Trophäensammler sein«, sagte Raj. »Ich meine, was denn sonst?«

In der Tat, was sonst? Eva erhob sich und wandte sich an Wren. »Hat er das Blut mitgenommen?«

»Na ja, im Körper ist keins mehr, falls Sie das meinen. Dieselbe Methode, ein Katheter in die Halsarterie, und der diastolische Druck erledigt den Rest.«

Eva furchte die Stirn. »Wie, überhaupt keins mehr? Das haben Sie neulich über Irina Stepanow gesagt, weil sie aufrecht saß. Der hydrostatische Druck aufgrund der Höhe, in der der Katheter gelegt wurde, hat da mitgeholfen, haben Sie gesagt. Aber hier liegt das Opfer doch auf dem Boden.« Sie zögerte, fuhr dann jedoch fort: »Müsste nicht an einem Punkt das Herz aussetzen, durch den hypovolämischen Schock? Und würde der minimale hydrostatische Druck den Blutfluss nicht negativ beeinflussen?«

Es hatte nicht anmaßend klingen sollen oder so, als wolle sie Wren infrage stellen, allerdings bezweifelte sie, dass die Forensikerin dergleichen übel nehmen würde. Doch Wren starrte sie ein paar Sekunden lang an. »Das ist sehr viel detaillierter, als man es auf der Polizeiakademie beigebracht kriegt«, bemerkte sie schließlich. »Wo kommt das her?«

Eva antwortete nicht. In diesem Moment wurde ihr klar, dass Wren gerade sehr viel mehr über sie erfahren hatte als über Jodie Swain. »Ehrlich gesagt haben Sie recht, und ich wollte gerade nachschauen, ob sich am Rücken Blut angesammelt hat«, fuhr Wren fort. »Helfen Sie mir, sie umzudrehen?«

Nicht kneifen, dachte Eva. Das hast du dir selbst eingebrockt. Sie schob die Hände unter Jodie Swains weißen, teigigen Leib.

»Auf drei«, sagte Wren. »Eins, zwei, drei.«

Sie rollten den Leichnam auf den Bauch. An seinem Rücken sah Eva ein paar kleine dunkle Stellen. Rasch stach Wren mit einer Spritze in eine davon und extrahierte ein bis zwei Kubikzentimeter fast schwarzer Flüssigkeit. Nachdem sie die Kanüle herausgezogen hatte, betrachtete sie den Rücken der Toten genauer. »Schauen Sie«, sagte sie und zeigte zwischen die Schulterblätter. »Verbrennungen. Er hat sie auch mit dem Taser bearbeitet.«

»Und wo ist der Rest von dem Blut?«

Mit dem Kopf deutete Wren auf den Abfluss in der Duschnische. »Er hat das Wasser laufen lassen. Ich schau’s mir gleich an, aber ich bezweifle, dass ich diesmal eine Probe kriege.« Sie wedelte mit der Spritze herum. »Aber das hier wird reichen, um Propofol nachzuweisen.«

Flynn beugte sich über die Leiche, starrte die dunklen Stellen an, wo sich das wenige verbliebene Blut gesammelt hatte, und zog angewidert die Oberlippe hoch. »Warum gibt der Typ sich solche Mühe zu verbergen, dass er Sedativa benutzt hat?«

Eva überlegte eine Weile. »Judy, würde ein solches Medikament eine Chargennummer haben?«

Wren nickte. »Ganz bestimmt. Ohne eine derartige Qualitätskontrolle dürfte es nicht vertrieben werden.«

»Dann könnte man es also anhand der Chargennummer zurückverfolgen?«

»Ah«, meinte Wren, »ich verstehe. Aber, ja, Sie könnten es bis zu mehreren Stellen zurückverfolgen. Zum Großhändler, der den Barcode einscannt, bevor das Produkt verschickt wird. Und bis zu den Vertriebsstellen, die das fragliche Produkt erhalten haben und die der Großhändler im Falle eines Problems kontaktieren könnte.« Sie runzelte die Stirn. »Aber weiter kämen Sie nicht. Es ist unmöglich, die chemischen Bestandteile anhand einer Blutprobe bis zur fraglichen Charge zurückzuverfolgen, es sei denn, es hätte mit dem Medikament ein ganz bestimmtes Problem gegeben. Und ich kann mich nicht erinnern, schon mal erlebt zu haben, dass es für solches Zeug eine Rückrufaktion gegeben hätte.«

Wieder hockte sich Eva neben den Leichnam, um die Verbrennungen zwischen den Schulterblättern zu betrachten. Sie wollte jede mögliche Variante durchspielen. »Und wenn das Zeug abgelaufen war?«

Wren zuckte ein wenig zusammen. »Der Kerl knallt es ihnen einfach rein; ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich wegen der Dosierung groß Gedanken macht. Wenn überhaupt, spritzt er ihnen wahrscheinlich zu viel. Aber das sieht man bei der chemischen Analyse nicht.«

Ein letzter Versuch. »Würde er das wissen?«

Sie konnte sehen, wie es in Wrens Kopf arbeitete. »Möglicherweise nicht. Sie glauben, das Blutablassen ist eine Vorsichtsmaßnahme?«

»Ich schau’s mir nur aus allen Blickwinkeln an. Wir wissen also, dass er gut mit einem Skalpell umgehen kann. Das heißt aber nicht, dass er sich mit allen Varianten der forensischen Chemie auskennt.« Eva seufzte und erhob sich. »Wir müssen uns die Liste der Verdächtigen von damals noch mal vornehmen und nachsehen, ob einer von denen irgendwann mal eine medizinische Ausbildung gemacht hat«, sagte sie zu Flynn. Dann starrte sie wieder auf die Tote hinunter. »Und gehen Sie noch mal alle möglichen Verbindungen zwischen den Opfern durch. Dieser Typ ist gut. Ganz gleich, warum er das tut, er wird nicht aufhören.«

»Medizinische Einrichtungen?«, knurrte Sutton mit dem Fuß auf dem Schreibtisch. Ein Ausdruck gereizter Skepsis lag auf ihrem Gesicht.

»Ich weiß, Ma’am«, antwortete Eva, »aber betrachten Sie das Ganze aus einer Perspektive der Abwesenheit von Fakten.«

»Was?«

Ohne aufgefordert worden zu sein, sich zu setzen, ließ Eva sich auf den Stuhl vor Suttons Schreibtisch sacken. »An den Tatorten sind absolut null Beweise zu finden, abgesehen von einer Leiche. Keine DNA , keinerlei sekundäre Hinweise, nur ein Tropfen Blut im Deckelgewinde eines Mineralwasserkanisters. Okay, am ersten Tatort waren Fahrradspuren und ein paar Fußabdrücke, aber wir wissen noch nicht mal, wo er den Lieferwagen herhatte. Der Kerl kennt sich mit klinischer Hygiene aus, er ist penibel. Sie müssen das Risiko eines weiteren Mordes einschätzen, Ma’am. Anhand des bisher gefundenen Materials kriegen wir ihn nicht, bevor er wieder tötet.«

Sutton sah sie finster an. »Sie glauben, er wird wieder töten?«

»Er führt es uns doch regelrecht vor. Warum sollte er nicht?«

Sutton schwieg. »Dann erzählen Sie mal von Ihrer Idee mit den medizinischen Einrichtungen«, sagte sie, nachdem sie Zeit gehabt hatte, Evas Behauptung zu überdenken.

»Es geht um die Frauen«, begann Eva, »jedenfalls um die beiden letzten. Wir können entweder sagen, die Morde geschehen vollkommen beliebig und sind auf eine Art und Weise opportunistisch, die wir noch nicht verstehen, oder wir können davon ausgehen, dass es zwischen ihnen eine Verbindung gibt, die wir noch nicht entdeckt haben. Irina Stepanow und Jodie Swain haben ein paar Dinge gemeinsam. Sie waren beide Mitte vierzig, und sie sahen beide gut aus. Sie haben gut auf sich geachtet.«

»Die drei von damals waren Anfang zwanzig oder so.«

»Ein großer Unterschied.« Sie hob die Hand, bevor Sutton Einspruch erheben konnte. »Ich weiß. Die wahrscheinlichste Erklärung ist immer noch, dass unser Täter sich weiterentwickelt und sich vielleicht auf einen anderen Opferaspekt fixiert hat. Trotzdem scheint er sich bei Morden an einem Typ zu orientieren. Und sein Typ sind im Moment attraktive Frauen aus einer höheren Alterssparte.«

»Sie haben doch erst zwei Morde, mit denen Sie das begründen könnten.«

»Das stimmt, Ma’am. Wir können die Theorie ja noch mal überprüfen, wenn er das nächste Mal jemanden umbringt.«

Sutton seufzte. »Ich mache Ihnen noch keinen Druck wegen dieser Geschichte, aber die von der Polizeibezirksleitung werden mir welchen machen. Und die Medien sind auch schon am Rumschnüffeln. Noch wissen die nichts, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Ich möchte nicht, dass wir aussehen, als hätten wir keinen blassen Dunst, vor allem, da wir ja keinen blassen Dunst haben. Also, wie haben Sie sich das vorgestellt?«

»Ich lasse von Jamie Newton eine Datenbank sämtlicher Kliniken und Praxen in einem Radius von dreißig Kilometern zusammenstellen. Das ist jetzt ein bisschen gewagt, aber er soll sich zuerst mal alles anschauen, was mit Behandlungen für Selbstzahler zu tun hat.« Sie sah, wie sich Suttons Augenbrauen hoben. »Behandlungen, die man als kosmetische Chirurgie klassifizieren könnte, auf jeden Fall keine Kassenleistungen. Botox, Facelifting, plastische Chirurgie. Das ist eine Vermutung, Ma’am, begründet auf der Tatsache, dass die letzten beiden Opfer ziemlich wohlhabend waren.«

»Wär’s nicht leichter, sich solche Informationen von den Angehörigen zu besorgen?«

»Sicher, da ist Raj auch gerade dran. Das Problem ist, Grigori Stepanow ist abgetaucht, und Jodie Swains Lebensgefährte ist im Ausland. Wir werden ihn kontaktieren, aber jetzt mal ehrlich, wir müssen ihn vor Ort haben und psychologisch betreuen, bevor wir anfangen können, ihm solche Fragen zu stellen.«

»Und die Hausärzte?«

»Wren sagt, es gibt keinen Grund, warum die von Selbstzahler-Eingriffen wissen sollten.«

»Fuck.« Suttons Knöchel wurden weiß, als sie den Griff ihrer Krücke umklammerte. »Das Ganze ist ein Scheißalbtraum. Und was ist mit den Verdächtigen von damals?«

»Ein paar von denen haben wir erst mal eliminiert. Ein paar andere müssen wir uns noch anschauen.«

»Machen Sie das zur Priorität.«

»Ma’am?«

»Zu Ihrer Priorität«, bekräftigte Sutton. »Und nein, ich nerve hier nicht zum Spaß rum. Ich weiß, dass die Ihnen nicht besonders verdächtig erscheinen, und die Wahrheit ist, mir auch nicht, aber sie sind im Moment alles, was wir haben. Wenn sie nicht infrage kommen, stellen wir das fest und machen weiter. Wir müssen schneller werden. Die Medien können jeden Tag Wind von dieser Nummer bekommen, und dann ist hier die Hölle los.«