Rebecca Flynn ging um das Auto herum. Sie hielt etwas in der Hand, sah Eva durch das Fernglas. Was war das? Sie bemühte sich, das Glas scharf zu stellen. Flynn versuchte, das Ding zu verbergen. Könnte eine Parfümflasche sein, dachte Eva. Dann wurde ihr klar, dass Flynn eine kleine Dose Pfefferspray dabeihatte.
»Sie mag den Kerl wirklich nicht besonders, stimmt’s?«, fragte Eva.
»Nicht besonders«, brummte Will Moresby. »Aber da gibt’s auch nicht viel zu mögen. Robbie Poole ist im Großen und Ganzen ein mieser Scheißer. Es kommt ganz drauf an, wie er reagiert, wenn er aufgefordert wird, aufs Revier mitzukommen. Er könnte auf sarkastisch machen und beschließen, dass es Spaß machen würde, uns die Zeit zu stehlen, bis ein Pflichtverteidiger aufkreuzt. Oder er könnte sich aufplustern und die übliche ›Ich kenne meine Rechte‹-Nummer abziehen. Ist beides möglich.«
»Und warum hat Flynn dann so darauf bestanden, ihn persönlich einzukassieren?«
Moresby grinste. »Sie will nur sein Gesicht sehen.«
Als sie ihn schließlich zu Gesicht bekam, fand Eva, dass Robbie Poole aussah wie ein Mensch, bei dem man auf die andere Straßenseite wechselte, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er hatte ein schmales, blasses Gesicht, das schon zu einer hämischen Grimasse verzogen war, bevor er Flynn bemerkte. Ungefähr eins achtundsiebzig, schätzte Eva, dürr und mit nach hinten geklatschtem Haar. Er trug ein Hoodie, Jeans und Sportschuhe, aber so waren allem Anschein nach alle hier in der Wohnsiedlung gekleidet. Als er Flynn erblickte, zögerte er kurz. Flynn rührte sich nicht von der Stelle, sah Eva, als wolle sie Poole dazu herausfordern, sie zu ignorieren. Gleich darauf kam er mit den Händen in den Taschen und verächtlicher Miene auf sie zugelatscht.
»Und los geht’s.« Moresby öffnete die Wagentür ein wenig. Nicht weit genug, dass Poole es bemerkt hätte. Eva beobachtete die beiden weiter, ließ jedoch das Fernglas sinken; sie waren nur etwa dreißig Meter entfernt. Sie konnte Pooles Gesichtsausdruck sehen, und das war genug.
Trotzdem ärgerte sie das Ganze. »Das lenkt uns doch nur ab«, meinte sie.
»Was lenkt uns ab, Ma’am?«
»Das hier. Ich weiß, wir müssen ihn von der Liste streichen, aber schauen Sie sich den Kerl mal an. Der hat doch kaum ein Dutzend Gehirnzellen in der Birne; auf keinen Fall kann der Stepanow und Swain umgebracht haben.«
»Aber er könnte damals die Mädchen kaltgemacht haben«, wandte Moresby ein.
Sie wies ihn nicht auf das offenkundige Problem hin, das diese Bemerkung offenbarte. Wenn auch nur in Gedanken, so hatte Moresby die beiden Fälle doch ebenfalls voneinander getrennt.
»Was macht er jetzt? Wird er pampig, oder haut er ab?«, überlegte Eva laut. Pooles Miene war im Moment nicht zu deuten, als dringe das, was Flynn zu ihm sagte, nur ganz allmählich zu ihm durch.
»Wenn er versucht, ihr eine zu knallen, verpasst sie ihm eine Ladung Pfefferspray, und zwar sofort.«
»Sie sieht aus, als ob sie genau das will«, knurrte Eva. »Provoziert sie ihn etwa?«
»So blöd ist Becks nicht«, erwiderte Moresby. »Sie weiß, wie weit …«
In diesem Moment trat Poole ohne jede Vorwarnung zu und versuchte, Flynn in den Bauch zu treffen. Fast wäre es ihr gelungen, rechtzeitig auszuweichen, doch der Tritt traf sie seitlich am Unterleib. Poole trat einen Schritt vor, um mit der Faust zuzuschlagen, doch sie hatte die Spraydose bereits hochgerissen. Allerdings konnte sie nicht richtig zielen, stellte Eva fest. Sie war schon aus dem Wagen gesprungen. Moresby war ihr ein kleines Stück voraus.
Flynn stolperte und ging zu Boden, die eine Hand in die Seite gepresst. Sie lag auf dem Rücken, hielt das Pfefferspray mit beiden Händen vor sich. Es sah aus, als wollte Poole ihr jetzt gegen die Beine treten.
»Polizei!«, brüllte Eva im Laufen.
Poole schaute zu ihr herüber und erblickte dann Moresby, der wie ein Expresszug auf ihn zudonnerte. Er machte kehrt und rannte davon.
Moresby war für sein Gewicht erstaunlich schnell, doch Eva war schneller. Sie sprintete hinter Poole her, der um einen der Wohnblöcke der Siedlung bog. Nein, das läuft nicht, dachte sie. Das läuft verdammt noch mal überhaupt nicht.
Poole war zwanzig Meter vor ihr. Er war ziemlich schnell, doch sie war schneller. Sie konnte ihn kriegen, da war sie sich sicher. Was zum Teufel sie dann tun würde, war eine andere Frage. Das hatte sie sich noch nicht überlegt.
Nach weiteren hundert Metern wurde Poole langsamer. Am Ende eines der Gebäude blieb er stehen und wandte sich zu ihr um. »Also, das war echt dämlich«, keuchte er. »Jetzt polier ich dir deine Scheißfresse, du blöde Schlampe.«
Hinter ihr war niemand. Eva nahm Kampfhaltung ein, so gut sie es von der Uni her noch konnte. Nach den Knien treten, gestreckte Finger in die Augen, wies sie sich im Stillen an.
Poole stürmte auf sie zu.
Option Nummer drei: aus dem Weg gehen. Sie trat zur Seite, gerade als er auf sie losgehen wollte, drehte sich auf dem Absatz um und trat ihm in die Kniekehle. Großen Schaden richtete der Tritt nicht an, doch er strauchelte, verlor kurz das Gleichgewicht, stolperte noch drei oder vier Schritte weiter. Dann fuhr er abermals zu ihr herum.
»Du hältst dich wohl für scheißclever!«, blaffte Poole sie an. »Aber jetzt bist du nicht mehr so clever, was?«
»Ich sag dir mal was, Sackgesicht«, fauchte Eva. »Ich bin verdammt noch mal cleverer als du, um einiges sogar.«
Poole wollte gerade die nächste unflätige Bemerkung vom Stapel lassen, als Moresby wie ein Schwerlaster in ihn hineinkrachte.
Moresby rammte Poole frontal. Anders hätte Eva es nicht beschreiben können. Er klatschte ihn mit einem Bodycheck so heftig gegen eine Mauer, dass sie sich die Sterne fast bildlich vorstellen konnte, die der Mann bestimmt gerade sah. Pooles Kopf prallte vom Beton ab. Es war, als hätte er sämtliche Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln verloren; alles sackte nach unten. Er ging zu Boden und lag stöhnend da.
Eva blickte auf ihn hinunter. »Perfektes Timing, Sergeant«, lobte sie Moresby. »Wie geht’s Flynn?«
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Und ich werd sie auch nicht fragen, nicht dass sie mir noch den Kopf abreißt.«
Genau in diesem Moment kam Flynn mit Gewittermiene auf sie zumarschiert. Eindeutig nicht verletzt, dachte Eva. Mit geballten Fäusten schritt Flynn auf sie zu und schaute dann ebenfalls auf Robbie Poole hinab, der halb betäubt am Boden lag. Eva wollte gerade etwas sagen, als Flynn sich bückte und dem Mann Pfefferspray in die Augen sprühte.
Poole schrie auf. Eva auch. »Detective Sergeant!«
Flynn sah verblüfft aus. »Tut mir echt leid, Ma’am«, sagte sie zu Eva, »hab mich geirrt. Ich hab doch glatt gedacht, dieser verschissene, saudämliche Schweineficker widersetzt sich der Verhaftung.«
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand Eva vor Suttons Schreibtisch. Sutton gab sich alle Mühe, nicht belustigt auszusehen. »Poole hat eine Polizeibeamtin angegriffen und ist dann abgehauen. Wird es irgendjemanden überraschen, dass er gekriegt hat, was er verdient?«
»Er lag am Boden«, erwiderte Eva. »Moresby hatte ihm eine Rippe gebrochen und ihm die Schulter ausgekugelt. Flynns Handeln war unangemessen.«
»Ehrlich gesagt«, entgegnete Sutton, »bin ich da anderer Meinung. Hätte sie eine Waffe gehabt und auf ihn geschossen, das wäre unangemessen gewesen. Poole ist ein mieser Scheißer, der bekommen hat, was er verdient. Finden Sie sich damit ab, Detective Inspector Harris.«
Sutton hatte wahrscheinlich recht, das musste Eva zugeben. Poole hatte Flynn vor der ganzen Siedlung gedemütigt, also hatte Flynn ihm gezeigt, wo der Hammer hängt. »Wollen Sie Poole vernehmen?«, erkundigte sich Sutton.
»Nein, das überlasse ich Jamie und Raj. Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt.«
»Ich auch nicht, aber es muss sein. Wie kommt Jamie denn bei Ihrer Datenbank mit den Arztpraxen und Kliniken voran?«
Eva sackte in sich zusammen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Praxen und Privatkliniken gibt, die chirurgische Eingriffe für Selbstzahler anbieten. Am Anfang habe ich noch versucht rauszufinden, ob es andere Verbindungen zwischen den Opfern gibt, Botox-Behandlungen oder plastische Chirurgie, obwohl Irina Stepanow nichts von all dem hat machen lassen. Aber die Zahlen sind einfach ausgeufert. Ich habe Jamie gezeigt, wie man SQL -Anweisungen schreibt, damit er anfangen kann, die Praxen und Kliniken zu Gruppen zusammenzufassen, aber es ist immer noch eine Riesenmenge.«
Sutton runzelte die Stirn. »Wie man was schreibt?«
»Structured Query Language«, erklärte Eva. »Damit kann man eine Datenbank effektiv befragen. Ist gar nicht so schwer.«
»Das will ich Ihnen dann mal glauben«, meinte Sutton. »Was haben Sie als Nächstes vor?«
»Die anderen auf der Liste der damaligen Verdächtigen befragen, denke ich. Und Jodie Swains Lebensgefährten, sobald er zurück ist und sich dazu in der Lage sieht. Die medizinischen Einrichtungen hier im Bezirk weiter nach allem Auffälligen durchsuchen und noch einmal mit Grigori Stepanow sprechen, sobald jemand rauskriegt, wo er steckt.«
»Was macht er, schmiedet er Rachepläne, oder versteckt er sich irgendwo in einem Loch?«
»Beides«, antwortete Eva. »Würden Sie das nicht auch tun?«
»Ich bin froh und schäme mich gleichzeitig, zu sagen, dass ich keine Ahnung habe«, antwortete Sutton.
Sie nicht, dachte Eva, aber ich.
Gegen elf Uhr abends kroch sie in ihre Wohnung. Es war Jamie Newton gelungen, ein paar gute SQL -Anweisungen zusammenzustellen, doch er war nicht gerade der Schnellste der Welt, wenn es ums Lernen ging. Andererseits gab er nicht auf, und dafür bewunderte sie ihn. Nicht jedem fällt so was leicht, ermahnte Eva sich. Nicht jeder spürt dabei diesen Kick.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer waren der Laptop und der Grafikprozessor noch immer zugange. Der Algorithmus hatte bis jetzt fast vierzig Milliarden Permutationen durchprobiert. Wahrscheinlich sind’s mehr als acht Zeichen, dachte Eva. Der Prozessor machte einen gewaltigen Unterschied; er wühlte sich hundertmal schneller durch die Kombinationen, als der Laptop es allein konnte. Doch wie lange es dauern würde, das Passwort zu knacken, hing davon ab, was für Zeichen verwendet worden waren. Das Ganze war ein Glücksspiel, das war ihr klar; trotz allem könnte es im wahrsten Sinne des Wortes eine Ewigkeit dauern. Sie holte sich ein kleines Bier aus dem Kühlschrank und öffnete die Flasche. Einen Monat, dachte sie. Wenn das Passwort sich dann immer noch ziert, muss ich halt gegen ein paar Vorschriften verstoßen.
Alles, was sie bisher unternommen hatte, war legal gewesen. Darauf hatte sie sorgfältig geachtet. Größtenteils legal, verbesserte sie sich. Das mit dem Disk Image war so gesehen kein Diebstahl, und der Prozessor war ja nur geborgt. Ihr war klar, dass Alastair Hadley beides anders sehen würde, allerdings würde er davon erst erfahren, wenn es zu spät war. Aber wenn sich das Ganze nun hinzog? Wenn sich herausstellte, dass das Passwort als zufällige Kombination aus großen und kleinen Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen wie Und-Zeichen und Ausrufungszeichen konstruiert war, dann würde wahrscheinlich sogar die Kapazität des Prozessors nicht ausreichen. Dann muss ich eben etwas anderes versuchen, sagte Eva sich.
Es gab noch zwei weitere Möglichkeiten, das Passwort zu knacken, und beide beinhalteten brachiale Gewalt. Die eine bestand darin, irgendwo an einen Supercomputer zu kommen. Einen wie dieses orangerote Cray-XC 30-Monster, das im Keller vom Parallel Computing Centre der University of Edinburgh stand. Aber daraus würde nichts werden. Nie im Leben käme sie an ein solches System ran. Also die zweite Alternative, der Hacker-Ansatz. Wie die Pfeifen, die ich ein ganzes Jahr lang ausgeschaltet habe. Wenn das hier nicht funktioniert, ende ich noch so wie eine von denen. Ihr blieb nichts anderes übrig, das wusste sie; sie musste das Passwort knacken. Alles, im wahrsten Sinne des Wortes alles, der Rest ihres Lebens, hing davon ab. Also würde sie gegen Gesetze verstoßen, wenn sie musste. Obgleich es absolut illegal wäre, würde sie ihren Passwortknacker-Algorithmus in einem Botnet laufen lassen.
Solche Programme konnte man für ein paar Hundert Dollar von ukrainischen Hackern kaufen, doch das hatte Eva nicht nötig. Sie konnte sie sich selbst zusammenbauen. Im Internet gab es jede Menge Material, schlecht geschützte Server und Computer, die man mit Malware dazu bringen konnte, als Teil eines illegalen Zahlenverarbeitungs-Netzwerks zu agieren. Ein Roboter-Netzwerk, im Hacker-Slang Botnet genannt. Der Grafikprozessor, den Leticia North ihr geschickt hatte, steigerte die Arbeitsgeschwindigkeit ihres Laptops fast um das Hundertfache, doch Eva schätzte, dass sie eine halbe Million ahnungsloser Computer finden und benutzen könnte, wenn sie ihre Malware nur geschickt genug schrieb. Sie wusste, wie man das machte. Letzten Endes hatte sie für so etwas gelebt.
So oder so, dachte sie, während sie zusah, wie die Anzahl der Permutationen, die der Algorithmus durchprobiert hatte, im Zählfenster immer größer wurde, ich knacke dich.
Sonnenaufgang war am nächsten Morgen um sieben. Eva saß schon seit vor sechs Uhr an ihrem Schreibtisch. Die blutrote Sonne färbte den Himmel über dem Fluss. Ganz kurz wurde der Raum von tiefem Rot geflutet, doch als die Sonnenscheibe höher wanderte, wurde das Rot zu Gold.
Jamie Newton hatte innerhalb eines Radius von dreißig Kilometern fast vierhundert medizinische Einrichtungen ausfindig gemacht. Nie hätte Eva gedacht, dass es so viele geben könnte, doch als sie sich seine Zahlen vornahm, sah sie, dass er den Begriff »medizinische Einrichtung« recht großzügig interpretiert hatte. Auf seiner Liste standen Kliniken, aber auch Zahnarztpraxen, plastische Chirurgen und sogar Physiotherapeuten. Sie musste brauchbarere Kriterien finden, wenn sie aus den Daten irgendeinen Sinn herauslesen wollte.
Der Mörder hatte es für nötig gehalten zu verheimlichen, was für ein Sedativ er benutzt hatte. Das hieß, er nahm aus irgendeinem Grund an, dass man ihm dadurch auf die Spur kommen könnte. Das Problem dabei war, dachte Eva, während sie sich auf die Daten konzentrierte, dass er sich da irren könnte. Wren sagte, es sei unmöglich, anhand der chemischen Signatur des Medikaments die Chargennummer zu ermitteln, doch anscheinend war der Täter sich dessen nicht sicher. Bis zu einem gewissen Grad war das egal, dachte sie, während ihr Finger über die Tabellenspalten wanderte. Der Täter hatte die Opfer trotzdem sediert. Dank des Blutstropfens an dem Wasserkanister vom ersten Tatort hatte Wren den Markennamen des Sedativs herausgefunden. Auch wenn sie es vielleicht nicht weiter würden eingrenzen können, erschien es Eva wahrscheinlich, dass der Mörder mit einer der Kliniken oder Praxen in Verbindung stand, die dieses Mittel verwendeten. Ob sie allein mit Datenanalyse weiterkommen würde als bis hierhin, wusste sie allerdings nicht.
Zum Glück hatte der Hersteller des Mittels schnell auf ihre E-Mails geantwortet. Sie stellte fest, dass die Kontaktaufnahme seitens einiger von Judy Wrens Kollegen in dem freien Labor für forensische Chemie dabei hilfreich gewesen war. Der Hersteller hatte ihr einige Tabellen geschickt. Eva schrieb ein paar kurze Skripte, die die Daten zu einem für sie nützlichen Format anordneten, und machte sich dann daran, sie mit Jamie Newtons zusammengestoppelter Datenbank abzugleichen.
Am Ende glich sie die meisten der Daten anhand der Postleitzahl ab. Die Spezifika Firmenname, Adresse, Kontaktperson und Telefonnummer variierten manchmal je nach Liste, doch zumindest die Postleitzahlen stimmten überein. Als die Datensätze ihrer Ansicht nach richtig organisiert und abgeglichen waren, begann sie, sich mit den eigentlichen Daten zu befassen.
Innerhalb eines Radius von dreißig Kilometern gab es achtundsiebzig Einrichtungen, die das Sedativ verwendeten. Die Häufigkeit des Gebrauchs variierte wild. Manche ambulanten Praxen verwendeten es täglich, andere, wie zum Beispiel Zahnärzte, nur einmal im Monat. Sie ordnete die Einrichtungen nach der Einsatzfrequenz, doch diese Statistik lieferte ihr nichts Brauchbares. Noch mal von vorn , dachte Eva.
Selbst der Dreißig-Kilometer-Radius erschien willkürlich. Der andere Teil des Problems war, dass sie eigentlich an Individuen interessiert war und nicht an Kliniken oder Praxen, und in dieser Hinsicht gaben die Daten des Herstellers wenig her. »Kontaktdaten« bedeutete aus dessen Sicht lediglich »administrative Kontaktdaten«, begriff sie. Die Namen der Personen, die die letzten Bestellungen aufgegeben hatten; eine weitgehend nutzlose Information. Sie schob ihren Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Was wusste sie sonst noch?
Sie wusste – weil Judy Wren es ihr gesagt hatte –, dass der Mörder über Fachwissen verfügte. Er hatte die Augen mit sehr großer Sorgfalt entfernt. Zu was machte ihn das? Was für eine medizinische Ausbildung war nötig, um zu wissen, wie man auf fast forensische Art und Weise ein Auge herausschneidet? Einen Moment lang überlegte sie, ob es vielleicht tatsächlich jemand mit gerichtsmedizinischem Hintergrund war, doch die Exsanguination sprach dagegen. Der Täter ließ seine Opfer ausbluten, höchstwahrscheinlich, um zu verheimlichen, was für ein Sedativ er benutzt hatte, doch das war unnötig. Das Sedativ könnte sie nicht direkt zu ihm führen, selbst wenn die verschiedenen Chargen kleine chemische Unterschiede aufgewiesen hätten. Das war nicht das Handeln eines Menschen, der Forensik wirklich verstand. Es war das Handeln eines Menschen, der zwanghaft vorsichtig war.
Er ist von Natur aus kein Mörder. Davon war sie noch immer überzeugt. Nicht jemand, dessen vorrangiges Ziel es war, zu morden, sondern jemand mit einem anderen Motiv, das die Morde erforderlich machte. Mord als Nebeneffekt, als Teil des Prozesses. Die Frage war, was das für ein Prozess war.
Rajs Bemerkung, dass der Täter ein Trophäensammler sein müsse, fiel ihr wieder ein. Das glaubte sie nicht, andererseits jedoch hatte sie auch keine bessere Erklärung. Was für ein Trophäensammler suchte sich denn ganz gezielt Opfer aus, um an ihnen solche peniblen chirurgischen Eingriffe durchzuführen? Unwillkürlich wanderte ihre Hand wieder zu dem Blatt Papier, auf dem die Namen der sieben Verdächtigen der früheren Mordfälle standen. Sie ging sie noch einmal durch.
Daniel Cox. Nicht nur war sein Alibi für die damaligen Morde verifiziert worden, er wohnte und arbeitete jetzt auch in Leeds. Außerdem gab es Zeugen, die seine Anwesenheit dort zur Zeit der jetzigen Morde bestätigten. Thomas Wells lebte in Spanien und war seit mehreren Monaten nicht mehr im UK gewesen. Kevin Mason war verheiratet und hatte Kinder, und es gab ungefähr hundert Zeugen, die um die Zeit, als Irina Stepanow ermordet worden war, Sandwiches bei ihm gekauft hatten. Robert Poole befand sich gegenwärtig in Polizeigewahrsam, bis Anklage wegen Angriffs auf eine Polizistin gegen ihn erhoben wurde, doch auch er hatte Alibis für die Tatzeiten. Raj hatte mit David Mills gesprochen, der zu den fraglichen Zeiten auf einer Baustelle gearbeitet hatte, also blieben nur noch Martin Ward und Mathew Harred.
Harreds Verbindung zu den früheren Fällen erschien eher unwesentlich, doch Eva wollte ihn trotzdem überprüfen. Irgendetwas war da gewesen, demzufolge die Opfer zu einer kleinen Studentengruppe gehört hätten, die sich Harreds Werk angesehen hatten. Dennoch erschien es ihr weit hergeholt, dass er überhaupt als verdächtig gegolten hatte. Ward passte noch am ehesten ins Schema, vom Körperbau her und weil er wegen Einbruchs vorbestraft war. Aber war er ein Mörder?
Sie zog seine Akte aus einem anderen Stapel auf ihrem Schreibtisch. Flynn fand ihn vielversprechend, aber Flynn hatte auch Poole für tatverdächtig gehalten. Sicher, Flynn wusste, wer hier in der Gegend zu den bösen Jungs gehörte, aber sie schien ein bisschen sehr darauf erpicht zu sein, alte Rechnungen zu begleichen. Ward, dachte Eva. Ein genauerer Blick auf ihn sollte sich trotzdem lohnen.
Aber nicht noch eine Konfrontation, nicht, wenn sie es verhindern konnte. Eva blätterte Flynns Notizen über ihn durch. Ward war dafür bekannt, Clubs im Stadtzentrum zu frequentieren, die sowohl bei Studenten als auch bei den Einheimischen beliebt waren. Flynn glaubte, dass Ward dort mit Drogen handelte, aber Flynn würde so etwas eben auch glauben. Es hatte nie genug Beweise gegen ihn gegeben, um eine Untersuchung zu rechtfertigen, doch eine niederschwellige Observation würde hoffentlich zumindest dies klären. Wie das bei der Suche nach dem Mörder hilfreich sein sollte, konnte Eva nicht erkennen, aber andererseits war die Beweislage noch immer so dürftig, dass sie nichts ausschließen durfte.
Sie trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Und wo war Grigori Stepanow? Raj hatte sieben- oder achtmal versucht, ihn anzurufen, doch er war verschwunden. Verdächtig war er nicht, denn abgesehen von den Zeugen an seinem Arbeitsplatz gab es auch Aufnahmen von Überwachungskameras, die Stepanow zur Tatzeit im Bahnhof Waterloo Station zeigten. Trotzdem musste Eva mit ihm über Irinas medizinische Vorgeschichte sprechen. Verdammt, dachte sie, als sie sich von Neuem ihrem Computer zuwandte, heute wird ein richtig langer Tag.
Eva sah eine E-Mail. Sutton, stellte sie fest. Sie las sie, las sie noch einmal und schloss die Augen. Der Tag würde sogar noch länger werden, als sie gedacht hatte.